Hamburg, Elbphilharmonie, Monumental: Achte Sinfonie von Gustav Mahler, IOCO Kritik, 30.04.2017
Gustav Mahlers Achte Sinfonie - Monumental
In der Elbphilharmonie Hamburg
Von Patrik Klein
Eliahu Inbal, das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, der Chor der Hamburgischen Staatsoper, die Hamburger Alsterspatzen, der Chor Latvija und namhafte Solisten tauchen die Elbphilharmonie in ein musikalisches Feuerwerk, optisch unterstützt durch die Lichtskulpturen von "rosalie"
Man nennt sie auch die Sinfonie der Tausend, weil sie oft in allergrößter Besetzung des Orchesters und der Chöre mit mehreren hundert Mitwirkenden zu Gehör gebracht wird. Mit ihrer gigantischen Besetzung und einer schier überbordenden Klangfülle nimmt sie geradezu opernhafte Ausmaße an. In der Elbphilharmonie Hamburg genügt ein großes, berühmtes Staatsorchester, drei Chöre mit beinahe 200 Mitgliedern, 8 Solistinnen und Solisten, die allesamt Erfahrungen auf Hamburgs Staatsopernbühne haben, ein Mahlerdirigent der Weltspitze (der 80-jährige Israeli Eliahu Inbal, berühmt und mehrfach ausgezeichnet für seine Mahlerinterpretationen auch auf Tonträgern, musste kurzfristig für den erkrankten Kent Nagano einspringen) und eine renommierte Bühnenkünstlerin, um ein Maximum an Wirkung zu erzeugen.
Die Stuttgarter Lichtkünstlerin "rosalie", die schon Wagners Ring bei den Bayreuther Festspielen ins "rechte Licht" setzte und Hamburgs Staatsopernfassade mit einer Lichtinstallation versah, hat nun dem Konzert noch eine weitere, visuelle Ebene hinzufügt. Nach eineinhalbjähriger Beschäftigung mit dem Thema entwickelte sie ihr Konzept. An sieben von der Decke des Großen Saals der Elbphilharmonie Hamburg hängenden beleuchteten Stelen, die Kirchenfenstern gleichen, inszeniert sie die Kunst-Grenzen des Endlich-Unendlichen. Man kann es verstehen als eine Art ästhetische Reflexion von Mahlers Licht-Ton-Welt. Es sollen höhere Koinzidenzen von Licht- und Musikwelten entstehen. Ein utopischer Präsens "tausend, dann abertausendfach", von dem man sagen kann: Hamburg leuchtet !
Der 1860 in Böhmen geborene Komponist Gustav Mahler war von 1891 bis 1897 erster Kapellmeister am Stadttheater in Hamburg.
Die 8. Sinfonie entstand größtenteils im Sommer des Jahres 1906. Im ersten Halbjahr 1907 wurde sie vollständig orchestriert und ins Reine geschrieben. Bei der Veröffentlichung 1910 versah Mahler das Werk mit einer Widmung an seine Frau Alma. Er spürte bereits im Schaffensprozess die Besonderheit dieser Sinfonie, die er später als sein „wichtigstes Werk“ bezeichnete. "In meiner Sinfonie erscheint das ganze Weltall zu klingen und zu tönen". Die Niederschrift der enormen Komposition im Sommer 1906 geschah in höchster Arbeitsgeschwindigkeit. Die Idee, einen mittelalterlichen Hymnus (Das Licht und die Liebe Gottes kommt in die Welt) als Vorlage für die neue Sinfonie zu nehmen, kam Mahler in seinem Feriendomizil am Wörthersee, wo ihm ein katholisches Messbuch in die Hände fiel.
Der erste und kürzere Teil der Sinfonie vertont einen mittelalterlichen, lateinischen Pfingsthymnus. Beinahe durchgehend wird die musikalische Entwicklung von den Chören und Solisten getragen, weshalb der erste Teil an die Form einer Motette erinnert. Der zweite Teil vertont die über 1000 Jahre jüngere Schlussszene von Goethes Faust Teil 2. Sie stellt wiederum eine Mischform aus Musikdrama, Kantate und Oratorium dar.
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg in riesiger Besetzung mit 10 Kontrabässen, 6 Harfen, doppelten Schlagwerken, verstärkten Streichern und Blech füllt das Orchesterpodium fast zur Gänze. Es bleibt ein wenig Platz für die 7 Solisten hinter dem Orchester und dem Knabenchor, den man hinter die Bässe platziert hat. Die beiden Chöre befinden sich in den Blöcken hinter dem Orchester. Die achte Solistin, Posaunen und Trompeten erklingen später aus dem mittleren Weinbergrang.
Es beginnt kraftvoll mit dem eröffnenden Veni creator spiritus-Chor, in dem die beiden Hauptthemen und Hauptmotive vorgestellt werden. Nach einem vorbereitenden Orgelton, beginnt der Chor feierlich das erste Hauptthema anzustimmen. Es schließt sich im Imple superna gratia der in Rondoform gehaltene Seitensatz an. Die orchestrale Begleitung ist hier völlig zurückgenommen und es entsteht ein kunstvoller Wechselgesang der Solisten. Die sieben Solisten (Sarah Wegener, Sopran; Jacquelyn Wagner, Sopran; Daniela Sindram, Alt; Dorottya Lang, Alt; Burckhard Fritz, Tenor; Kartal Karagedik, Bariton und Wilhelm Schwinghammer, Bass) haben es heute sehr leicht gegen das Orchester anzukommen, denn der überragende Dirigent Eliahu Inbal dirigiert manchmal fast kammermusikalisch sein riesiges Instrument.
Es folgen mit dem Infirma nostri die nächsten vier Einzelsätze. Diese münden in eine mächtige Doppelfuge („Entzünde das Licht in uns, gieß Liebe in die Herzen ein“). Mahler bezeichnete das Motiv als „Brücke zum Faust“. Im „Gerettet ist das edle Glied“ des Faust-Teils kehrt dieses Motiv zurück und schafft damit auch eine inhaltliche Verbindung von Licht und Erlösung aus Liebe. Diese Doppelfuge stellt deshalb ein inhaltliches Zentrum des Werkes dar. Sie ist in höchster Virtuosität und mitreißender Dynamik gestaltet. Das Blech trumpft mächtig auf, die Flöten flirren, die Streicherklänge fließen sanft. Im Block S sitzend empfindet man eine perfekte Klangmischung. Man nimmt Feinheiten wahr, die in üblichen Konzerten in halligen Kirchen zu einem üblen Klangbrei führen, der alles überdeckt. Die Solisten sind deutlich zu hören, die Chöre klingen textverständlich und präzise. Inbal bringt alles Musikalische in eine unerhörte, überragende Balance.
Das Gloria sit patri (Ehre sei dem Vater) stellt den Abschluss des ersten Teils der Sinfonie dar. Darin bedeutet es das triumphale Ende des Pfingsthymnus. Alle bisherigen Themen und Motive werden hier parallel verarbeitet. Der Knabenchor der Hamburger Alsterspatzen (Chorleiter Jürgen Luhn) übernimmt die Rolle des feststehenden Gesangsthemas, während die beiden Chöre (Staatsopernchor Hamburg unter der Leitung von Eberhard Friedrich und der Staatschor Latvija unter der Leitung von Maris Sirmais) eine Art Gegengesang beisteuern. Die letzten Takte führen zu einer enormen Schlusssteigerung und münden in einem achttaktigen Schlussakkord ungekannten Glanzes. Sieben Posaunen und Trompeten erklingen aus dem mittleren Weinbergrang zum fulminanten Ende des ersten Teils. Es liegt eine ungeheure Spannung im Großen Saal.
Den Beginn des zweiten Teils bildet die längste rein instrumentale Passage der ganzen Sinfonie. Das Adagio beginnt mit einigen bedrohlichen und unsicheren Pizzicati der tiefen Streicher, worauf in den Holzbläsern in geheimnisvoller und mystischer Stimmung ein erstes Thema entsteht. Nachdem es sich entfaltet hat, folgt ein ergreifender und choralähnlicher Gesang der Streicher und Bläser. Es verbinden sich diese beiden thematischen Elemente immer enger miteinander. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist ein dramatischer Ausbruch der Thematik in den Blechbläsern zu erregten Tremoli der Streicher. Dann beruhigt sich das Geschehen, und das Adagio schließt pianissimo.
Der folgende kurze scherzohafte Abschnitt Piu mosso ist der zweite rein instrumentale Abschnitt der Sinfonie. Das bewegte Hauptmotiv bricht jäh aus der Ruhe des verklingenden Adagios hervor. In der Folge erklingen die beiden Hauptthemen, welche im Adagio vorgestellt wurden. Sie erscheinen sowohl in leichterer Scherzoform als auch dramatisch gesteigert. Attacca geht es in den dritten Abschnitt des zweiten Teils der Sinfonie über.
Der Chor zu Waldung schwanket heran stellt, nach der rein instrumentellen Eröffnung, den ersten Abschnitt mit vokaler Begleitung im Faust-Teil der Sinfonie dar. Hier findet eindrücklich dargestellt die lokale Beschreibung von Wald und Fels der letzten Szenen im Faust statt. Die Chöre klingen getragen, rhythmisch präzise und textverständlich.
Es folgen die kurze und ergreifende Bariton-Arie Ewiger Wonnebrand des Pater Ecstaticus und die Arie Wie Felsenabgrund mir zu Füßen des Pater Profundus. Kartal Karagedik mit berührendem, warmherzigen Bariton kann die Töne schön fließen lassen und die Stimme kommt in der klaren Akustik der Elbphilharmonie angenehm zur Geltung. Der aus München stammende Bass des Wilhelm Schwinghammer, mittlerweile von der Hamburger Opernbühne kaum wegzudenken, kommt mit wuchtiger Stimme und ausdrucksvollem sonoren Klang daher. Textverständlich mit schönster Schwärze kommt er mühelos in den höchsten Bereich seines Stimmumfangs.
Aus dem Liebesthema entwickelt sich der inhaltlich zentrale Chor-Abschnitt Gerettet ist das edle Glied. Mahler schafft damit eine inhaltliche Verbindung von Licht und Erlösung aus Liebe. Das Thema taucht hier in Scherzandoform auf und etabliert sich als Liebes-Thema für den Faust-Teil der Sinfonie. Mahler interpretiert Fausts Rettung durch die Engel folglich als Akt der Liebe. Im feierlichen Gesang der Chöre wird der erhebende Textabschnitt unter größter Feierlichkeit musikalisch umgesetzt.
Der Chor Jene Rosen aus den Händen schließt sich attacca an den vorhergehenden Abschnitt an. In schwebender Dynamik unter zurückgenommener und unbeschwerter Orchesterbegleitung erklingt der Gesang der jüngeren Engel. Zum Ende des Textabschnittes bricht unter größtem Jubel das Thema der Liebe wieder hervor. Ein Ritardando führt zum Chor Uns bleibt ein Erdenrest der vollendeten Engel. Zum Gesang der Engel, dargestellt durch einen zurückhaltend agierenden Chor, erklingt das virtuose Spiel der Solovioline. Im Textabschnitt "Kein Engel trennte geeinte Zwienatur" übernimmt die Altstimme von Daniela Sindram. Sie läßt ihre wunderbar warme Stimme mit einem sehr schönen abgedunkelten Timbre erklingen.
Es folgt erneut der Chor der jüngeren Engel mit dem Textabschnitt Ich spür soeben nebelnd um Felsenhöh. Der Gesang beginnt in feierlich gelöster Stimmung. Der Solotenor als Doctor Marianus tritt kurz darauf zum Engelschor hinzu. Der gebürtige Hamburger Burkhard Fritz, der heute zu den gefragtesten jugendlichen Heldentenören zählt, singt sicher in Intonation und Dynamik die schweren Solostellen. Die Musik erfährt hierdurch eine zunehmende Spannung, sowie eine leichte Steigerung des Tempos. Attacca folgt die Soloarie Höchste Herrscherin der Welt. Die Arie wirkt hymnisch verklärt, zu glanzvoller Begleitung der Streicher. Es entwickelt sich ein kunstvoller Wechselgesang zwischen Tenor, Chor und Solovioline von größter Erhabenheit.
Zu famos gespielten zarten Klängen der von den 6 Harfen begleiteten Streicher entwickelt sich der Chorgesang zum Textabschnitt Dir der Unberührbaren. Es folgt nahtlos der Chor der Büßerinnen, welcher mit zartem Gesang die Gnade und somit die Liebe hervorhebt. Die hier entwickelte Melodie der Büßerinnen durchzieht auch die folgenden Abschnitte. Jacquelyn Wagner, die amerikanische, international gefragte Sopranistin, die als Gräfin bereits in Le Nozze di Figaro auf Hamburgs Opernbühne stand, singt mühelos mit wunderschönem Legato und berührendem Ausdruck.
Inhaltlich direkt an den Chor der Büßerinnen anschließend folgt die Sopranarie der Magna Peccatrix (Große Sünderin). Auch hier wartet ein äußerst angenehmer Sopran auf. Sarah Wegener, die britisch-deutsche Sängerin, die bereits an der Deutschen Oper Berlin und dem Royal Opera House London debutiert hat, kommt mit weicher, schön fließender und leicht dunkel gefärbter Stimme daher. Die Arie Bei der Liebe die den Füßen wandelt sich schnell zum durchkomponierten musikdramatischen Abschluß der vorherigen Abschnitte. Erneut taucht das Liebesthema in verarbeiteter Form auf. Zu den beiden Sopranistinnen gesellt sich der Alt von Dorottya Lang. Die aus Ungarn stammende Sängerin ist im Ensemble der Hamburgischen Staatsoper und hat dort u.a. als Hänsel, Cherubino und Angelina auf der Bühne gestanden. Zusammen stimmen die drei Damen zum Abschluß dieses Kapitels ein herrliches Terzett an.
Die Arie Neige du Ohnegleiche ist eine unter der zarten Orchesterbegleitung der vorigen Büßerinnen-Abschnitte weiterlaufende Sopranarie des Gretchens, der zentralen weiblichen Figur aus dem ersten Teil des Faust (Jacquelyn Wagner).
Es schließt sich der Chor der seligen Knaben zum Textabschnitt Er überwächst uns schon an. Zu nahezu mediterran klingender Orchesterbegleitung erklingen die ersten Textzeilen zu einer ins Unbeschwerte veränderten Melodie der Büßerinnen. Es schließt sich direkt ein arienartiger Abschnitt Gretchens an. In der Orchesterbegleitung des kunstvollen Sologesangs setzt sich das Liebesthema durch. Nach großartiger Steigerung zur Textzeile „Noch blendet ihn der neue Tag“ setzt ein musikalischer Ruhepunkt ein, welcher den folgenden Auftritt der Mater gloriosa einläutet.
Der Abschnitt Komm hebe dich zu höheren Sphären stellt den verklärten Auftritt der Mater gloriosa dar. Das dominierende Liebesthema scheint wie ein Licht auf die verklärt wirkende Szene. Hier hat der dritte Sopran der Heather Engebretson seine große Wirkung. Das Ensemblemitglied der Hamburgischen Staatsoper singt aus dem Weinbergrang, von dort wo zum Ende des ersten Teils die zusätzlichen Bläser postiert waren, ihre kurze Arie. Ihr warmer, hell klingender Sopran entfaltet dabei eine imponierende Wirkung, die durch die Zurücknahme des Orchesters durch den großartigen Dirigenten des Abends nochmals unterstrichen wird.
Der vorletzte Abschnitt der Sinfonie ist die Chor-Arie Blicket auf. Der Tenor Doctor Marianus (wieder sehr schön gesungen von Burkhard Fritz) intoniert den erhabenen Gesang zunächst mit einem feierlichen Dreiklangmotiv, welches später vom Chor übernommen wird. Die Übernahme des Motivs durch die Blechbläser bewirkt eine choralartige Überhöhung. Der musikalische Charakter ist durchweg von verhaltener Feierlichkeit unter größter Erhabenheit gekennzeichnet. Das rein instrumentale Ende des Abschnittes verklingt schließlich pianissimo.
Leisest beginnt der große Abschlusschor Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. "Das Unzulängliche, hier wirds Ereignis; Das Unbeschreibliche, hier wirds getan; Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Der Chorgesang beginnt höchst verhalten und feierlich-mystisch. Thematisch greift Mahler hier einige Motive der ganzen Sinfonie auf, der Hauptgedanke ist wiederum aus dem Liebesthema entwickelt. Der Abschnitt stellt eine großartige musikalische Steigerung dar. Dynamisch steigert Mahler das musikalische Geschehen unter immer weiterer Hinzunahme von Solisten und Chören bis zum Tutti. Zu einem feierlichen Orgelakkord beginnt der Chor den Text erneut vorzutragen. Triumphal tritt das Liebesthema in der Begleitung ein letztes Mal direkt in Erscheinung. Die Sinfonie strebt ihrem mitreißenden Ende entgegen. Die Steigerung des variierten Liebes-Themas stellt das jubelnde Ende des "Opus Summum " Mahlers dar. Die Farbenpracht der sieben von rosalie entwickelten Lichtstelen entwickelt sich zum Maximum.
Ein ganz kurzer Nachhall, andächtige Stille und großer Jubel des Publikums.
Eliahu Inbal hat die Konzerte gerettet. In nur drei Tagen hat er eine Aufgabe übernommen, die nur von einem äußerst erfahrenen Routinier und Weltklassedirigenten geleistet werden kann. Und was das Publikum zu hören bekam war noch viel, viel mehr. Mahlers Achte Sinfonie ist in Konzerthallen und Kirchen so leicht zu einem riesigen, langweiligen Klangbrei anzurühren, von dem am heutigen Abend bei Weitem nicht die Rede sein konnte. Ganz im Gegenteil. Mit wunderschöner Leichtigkeit und Transparenz dirigiert er das monumentale Werk. Gerade die leisen Stellen versteht er meisterhaft darzustellen. Es klingt fast kammermusikalisch bis in die kleinste Faser dieses umwerfenden musikalischen Werkes. Mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, drei hervorragenden Chören aus Hamburg und Lettland und 8 wunderbaren Solisten mit farbenuntermalender Lichtgestaltung durch "rosalie" ist es ein denkwürdiges Ereignis geworden.
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