Halle, Staatskapelle Halle, Beethoven - Schostakowitsch: Musik ist Revolution, IOCO Kritik, 16.11.2017
Staatskapelle Halle - Beethoven - Schostakowitsch
Beethoven - Drittes Klavierkonzert, Schostakowitsch - Elfte Symphonie Staatskapelle Halle - Herbert Schuch und Josep Caballé-Domenech
"Musik ist Revolution!"
Von Guido Müller
Unter der musikalischen Leitung von GMD Josep Caballé-Domenech spielte der vielfache Preisträger und 1979 in Rumänien geborene Pianist Herbert Schuch zunächst das große Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven in c-moll aus der Zeit der Komposition der dritten Symphonie Eroica 1803/04. Beethoven hatte dieses Konzert für seine eigenen Auftritte als Symphonie mit konzertierendem Pianoforte komponiert. Die konzertante Struktur wird zum Programm. In diesem Konzert wird es von Herbert Schuch, die Staatskapelle Halle und ihr GMD Josep Caballé-Domenech maßstabsetzend und zutiefst berührend in inniger Übereinstimmung umgesetzt. Für seine Einspielung des Dritten Klavierkonzertes hat der Pianist 2013 den renommierten ECHO-Klassik Preis erhalten. Mit seinen dramaturgisch durchdachten Konzertprogrammen und CD-Aufnahmen hat sich Schuch als einer der interessantesten Musiker seiner Generation einen herausragenden Ruf erworben, den er in Halle glänzend bestätigt.
Mit männlich-schlanker Eleganz spielt Herbert Schuch im einleitenden Satz den ersten Einsatz, keineswegs mit aggressiv-virtuosem triumphierend-heroischem Gestus sondern mit der ihm eigenen Nachdenklichkeit. Den großen heroisch-virtuosen Gestus spart er sich in durchdachter Dramaturgie für die Kadenz auf, in der Schuch sein ganzes Können zeigt. Dies zeigt sich bei ihm ganz besonders charakteristisch im zärtlichen Mittelteil und nach einem geradezu lisztmässigen Aufschwung höchster Virtuosität im aufregendsten Innehalten auf Pianissimo vor dem Wiedereinsetzen und Aufschwung des Orchesters: ein höchstspannungsvoller Augenblick, der das gebannte Publikum den Atem anhalten lässt.
Das darauf folgende Largo gestalten Schuch und Domenech im intimsten Zwiegesang mit der Staatskapelle Halle zum Höhepunkt des Klavierkonzertes. Die von Ralf Mielke und Gabriele Knappe gespielten Flöten atmen mit dem Pianisten auf unnachahmlich perfekte Weise.
Das abschließende Rondo musizieren Solist und die Streicher und Bläser der Staatskapelle in kunstvollster sich abwechselnder Rhetorik. Der Satz atmet den eleganten Witz Wiener Salons der Vormetternichzeit mit geradezu harlekinmäßiger Spielfreude. Besonders gefällt dabei die perfekte Wienerische Klarinettenseligkeit von Frank Hirschinger und Anja Starke im Wechselgesang mit dem Pianisten.
Als Zugabe krönte der Ausnahmepianist Herbert Schuch seinen glänzenden Auftritt in Halle überaus geschmackvoll und intelligent mit der letzten Komposition Beethovens aus den Bagatellen innig, virtuos und mit dem für den Meister aus Bonn charakteristischen Humor. Nicht enden wollende Ovationen und Getrampel des Publikums für den würdigen Freund und legitimen jugendlichen Fortführer der großen deutschen Pianistentradition Alfred Brendels.
Beethoven verstand sich als ersten Komponisten, der sich selbst als bewusst politisch handelnder Menschverstand. Er analysierte die gesellschaftlichen Vorgänge und versuchte, sie aktiv mitzugestalten, mit seiner Musik in sie einzugreifen. Das verbindet in diesem sehr hintersinnig komponierten Konzertprogramm Dmitri Schostakowitsch mit ihm.
Am 3. Oktober 1957 wurde Schostakowitschs Elfte Sinfonie in der Sowjetunion uraufgeführt. Stalin ist seit vier Jahren tot. Endlich kann es Schostakowitsch wagen, sich kritisch der Geschichte Russlands zu widmen: Thema seiner Elften ist der Petersburger Blutsonntag am 9. Januar 1905, das Massaker an demonstrierenden unbewaffneten Arbeitern und solidarischen Demonstranten, das die Palastwache des Zaren zu verantworten hatte. Die Menschen wollen dem autokratisch herrschenden Zaren eine Petition für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Rede- und Pressefreiheit und die Schaffung einer Volksvertretung überreichen. Plötzlich schossen Soldaten in die friedlich betende Menschenmenge und es sterben nach unterschiedlichen Angaben zwischen 130 und 1000 Menschen. Am Ende der Symphonie steht die Hoffnung auf bessere Zeiten und auf politische Veränderungen.
Das Konzert der Staatskapelle Halle kann als Erinnerung an den 100. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution und die Opfer verstanden werden. Die Elfte Symphonie "Das Jahr 1905" von Dmitri Schostakowitsch hat sehr gegensätzliche Interpretationen erfahren. "Vater, was wenn sie dich deswegen aufhängen?" soll der Sohn Maxim Schostakowitsch nach der Generalprobe 1957 seinen Vater gefragt haben. Wie sehr oft legt Dmitri Schostakowitsch äußerlich eine falsche Spur mit dem Programm. Die Symphonie ist zumindest als doppelbödig zu bezeichnen.
Das Uraufführungsdatum 30. Oktober 1957 verdeutlicht, aus welchem offiziellen Anlass die Elfte komponiert wurde: nämlich zur Gedenkfeier des 40. Jahrestages der Oktoberrevolution 1917.
Der in der Stalinzeit vom Regime als "formalistisch" abgekanzelte und daher nach Rehabilitierung strebende Schostakowitsch wählte folglich das "linientreue" Thema der auf Befehl des Zaren blutig niedergeschlagenen 1905er "Revolution" in St. Petersburg. Wenn man etwas weiter denkt und die Musik betrachtet - die Darstellung des Massakers und die gewaltige Totenklage - ist es naheliegend, dass nicht nur das blutige Niedermetzeln der Demonstranten 1905 durch die Zarentruppen gemeint war, sondern ebenso - oder sogar nur - die blutige Niederschlagung des ungarischen Aufstands durch die sowjetischen Truppen im Jahre 1956, also im Jahr vor der Komposition.
Zudem liegt es nahe darüber hinaus an die Millionen Opfer des Stalinismus zu denken, auch an die Opfer des Aufstandes in der DDR am 17.6.1953. Allerdings verzichtet Dmitri Schostakowitsch auf allzu offensichtliche Anspielungen oder Zitate ungarischer Musik und Rhythmen. Doch der erste Satz in einem von dem Dirigenten im großen Bogen gehaltenen Anspannungen lässt wahrhaft an die Eiszeit der Stalinzeit denken.
Schostakowitsch äußerte sich zu dieser Frage angeblich Salomon Wolkow in den Memoiren gegenüber so: „Mir scheint, dass sich in der russischen Geschichte vieles wiederholt. Natürlich wiederholt sich ein Ereignis nicht in genau derselben Weise. Selbstverständlich sind da Unterschiede. Aber vieles wiederholt sich trotzdem. Das Volk denkt und handelt in vielem ähnlich. ... Diese Wiederholbarkeit wollte ich in der Elften Symphonie zeigen. Ich komponierte sie 1957, und sie bezieht sich auf die Gegenwart, auch wenn sie den Titel Das Jahr 1905 trägt. Sie handelt vom Volk, das den Glauben verloren hat, weil der Kelch der Missetaten übergelaufen war. So begegnen die Eindrücke meiner Kindheit denen des reifen Lebensalters. Und natürlich haben die Ereignisse meines reifen Lebens mehr Gewicht“. Zitat nach dem ausgezeichneten Beitrag von Verena Großkreutz im Programmheft.
Deutlicher geht es auf den ersten Blick kaum. Das wahre Thema der Elften wäre dann die blutige Unterdrückung des Ungarn-Aufstands 1956 durch die Sowjets. Bezeichnend ist dann aber wiederum, dass dieses "wahre" Programm von den sowjetischen Kulturaufsichtsbeamten nicht erkannt wurde. Schostakowitsch erhielt für seine Elfte sogar den Lenin-Preis. Durch einen Beschluss des ZK der KPdSU vom 28. Mai 1958 wurde er schließlich offiziell rehabilitiert. Er wurde Mitglied der KPdSU und komponierte1961 aus "Dankbarkeit" die Zwölfte Symphonie Das Jahr 1917, die er Lenin widmete. Das erlaubt eine ganz andere Sicht auf den sowjetischen Komponisten, der sich eventuell direkter in seiner Kammermusik äußerte als in der repräsentativen Großsymphonik.
Schostakowitsch baute in diese Sinfonie zwei der 1951 von ihm komponierten Lieder aus "10Poème für Chor a cappella" ein, ansonsten kaum eigene melodische Erfindungen sondern zahlreiche in der Sowjetunion populäre revolutionäre Lieder, und zwar unter anderem der polnischen Arbeiter-Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts im Finale. Im ersten Satz Der Palastplatz: Adagio erklingen der Choral Herr, erbarme dich unser und das Gefangenenlied Gib acht!, die Schostakowitsch auch am Ende des zweiten Satzes mit dem Massaker Der 9. Januar: Allegro - Adagio - Allegro – Adagio wieder aufgreift. Diesen Satz steigert Caballé-Domenech grandios theatralisch mit der furios aufspielenden Staatskapelle mit prächtig strahlendem Blech der sechs Trompeten, drei Posaunen, Tuba und einem sechsfach besetzten großartig präzisen Schlagwerk.
Bereits im ersten Satz hatte der erste Fagottist Kay Stöckel mit seinem elegisch singenden Instrument stark beeindruckt und steigert dies im dritten Satz Ewiges Angedenken: Largo noch einmal phänomenal. Dieses Requiem für die Toten über den Revolutions-Trauergesang Unsterbliche Opfer gestaltet Caballé-Domenech mit der Staatskapelle Halle in noch gesteigerter Parallele zum Largo des Klavierkonzerts zum sich ständig wandelnden Klagehöhepunkt des Konzerts. Im direkten Anschluß an das Massaker des zweiten Satzes greift dieser Übergang in der Gestaltung durch Caballé-Domenech ans Herz. Hier verströmen dann aufeinander folgend und sich ergänzend die Kontrabässe, Celli, ersten und zweiten Violinen unter dem in Leningrad geborenen ersten Konzertmeister und Kammervirtuosen Arkadi Marasch und vor allem die besonders klangschön homogen spielenden Bratschen herzergreifenden Wohlklang. Dieses populäre Lied hatte auch schon Edmund Meisel in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin verwendet. Schostakowitsch selbst hat es außerdem in Podrugi (Girlfriends) verwendet, und Benjamin Britten in A russian funeral. Am Ende erklingt die Melodie nochmals im Choral der Blechbläser.
Die semantische Vieldeutigkeit von Musik wird nach den eher einfach und klar aufgebauten ersten drei Sätzen im trotzig insistierenden Finale besonders deutlich, indem es ironisch, satirisch, bissig, grotesk, operettenmäßig, polystilistisch aufblitzt. Es wird geradezu körperlich ungemütlich in den bösartigen Zuspitzungen von dröhnend-heroisch vorgebender Finalthematik mit vulgär erscheinenden Steigerungen wie auf KPdSU- Befehl erfüllte Kompositionsforderungen. Darauf antwortet das Englischhorn mit einem einsamen Klagegesang (hervorragend Markus Stein), das für mich zaghafte Hoffnung ausdrückt.
Der Dirigent Semyon Bychkov macht im Begleittext zu seiner Aufnahme der Elften eine sehr interessante Beobachtung, die hier abschließen soll: Die Antwort zum Inhalt der Sinfonie liegt in den letzten Kodatakten des Schlusssatzes. Zwei Gruppen aus zwei Noten werden abwechselnd auf den Röhrenglocken angeschlagen: G-B und G-H, die [...] große und kleine Terz [...] Zusammen bilden sie das Thema der im zweiten Satz erklingenden Fuge, die das Massaker des Blutsonntags [...] darstellt. Bevor die Sinfonie abrupt zum Stehen kommt, hört man als letztes die kleine Terz. Es gibt keinen Sieg, nicht für die, die an jenem Tag ihr Leben ließen, noch für die zahllosen Millionen, die ihnen in den nächsten Jahrzehnten in das Grab folgten. Das ist Schostakowitschs Auffassung über 1905 aus der Warte von 1957.
Mehr als verdienter Jubel des Publikums in der fast voll besetzten Georg-Friedrich-Händel-Halle für das hochkarätig musizierte Symphoniekonzert der Staatskapelle Halle und ihren GMD Josep Caballé-Domenech, dass ihre besondere Leistungskraft für große symphonische Werke damit wieder einmal nachdrücklich unter Beweis gestellt hat. Damit kann es mit benachbarten Weltklasseorchestern beachtlich gut konkurrieren.
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