Halle, Marktkirche, HIOB - Oratorium von Carl Loewe, IOCO
HIOB Oratorium in der Marktkirche von Halle: Carl Loewe, 1796 im seinerzeitigen Bergarbeiterstädtchen Löbejün bei Halle an der Saale in einer Kantorenfamilie geboren und das Musikleben Stettins prägender Tätigkeit 1869 in Kiel gestorben, zählt nicht zu jenen Komponisten, mit denen .....
Ausweis künstlerischer Individualität oder „unverdiente Strafe“? - Carl Loewes Oratorium HIOB (1855) in der Marktkirche von Halle/Saale aufgeführt
von Ekkehard Ochs
Carl Loewe, 1796 im seinerzeitigen Bergarbeiterstädtchen Löbejün bei Halle an der Saale in einer Kantorenfamilie geboren und nach knapp vier Jahrzehnten das Musikleben Stettins prägender Tätigkeit 1869 in Kiel gestorben, zählt nicht zu jenen Komponisten, mit denen man eine gewisse Sach- oder Hörkenntnis verbindet. Im günstigsten Falle wird bei entsprechender Nachfrage sein Lied „Die Uhr“ genannt, aber das war es dann meist auch schon. Zugegeben, früher war die allgemeine Unkenntnis noch erheblich größer. Aber auch heute hat der inzwischen vorhandene Zuwachs an sachdienlichen Informationen und akustischen Dokumentationen noch immer nicht dazu geführt, dieser als Komponist, Sänger, Organist, Kantor, Musikdirektor und Musikpädagoge einst hochgeschätzten und hochinteressanten, aber auch kontrovers betrachteten Persönlichkeit dauerhaft eine breitere Publikumsschicht zu erschließen.
Dabei gibt es Tonträger und Literatur inzwischen reichlich. Und wenn man die zunehmend involvierte Musikforschung, gebündelte musikwissenschaftliche Initiativen wie Konferenzen, separate Publikationen und dickleibige Festschriften sowie die Tätigkeiten von regionalen Vereinen und internationalen Gesellschaften hinzurechnet, dann sind die Voraussetzungen für eine notwendige, gerechtere Beurteilung von Loewes Leben und Werk, seines Schaffens und dessen Wirkungen gar nicht schlecht. Was angesichts noch immer möglicher und – wie bereits erwähnt - seit nunmehr rund zweihundert Jahren andauernder und so ambitionierter wie ambivalenter Sichtweisen auf den Komponisten ein Pfund ist, mit dem recht gut wuchern wäre!
Das betrifft sowohl die schon immer recht selten berücksichtigten, auch ungeachtet ihrer schieren Anzahl meist beiläufig als nicht so wichtig betrachteten Bereiche der Oper, der Chor-, Klavier- und Kammermusik, des Solokonzerts und der Sinfonik. Aber auch das schon eher in den Blick genommene Lied- und Balladenschaffen verträgt angesichts krasser Ungleichgewichtigkeiten in Bezug auf die hochgeschätzte Ballade einerseits (in allerdings stets engster Auswahl!) und das nahezu komplett vernachlässigte sonstige (umfangreiche) Liedschaffen andererseits deutlich mehr Aufmerksamkeit.
Es betrifft aber auch das Oratorium! Und dies aus vielerlei, hier im Einzelnen nicht zu erörternden Gründen. Achtzehn höchst unterschiedlich ausgefallene oratorische Werke hat Loewe geschrieben - womit ein augenfälliges Problem bereits benannt ist: Seit ihrem Erscheinen als Aufführung oder (in längst nicht allen Fällen) gedruckt als Partitur beziehungsweise Klavierauszug sind diese Werke Gegenstand teils heftiger Auseinandersetzungen gewesen und bieten noch heute – obwohl deutlich sachfundierter und mit historischem Abstand verständnisvoller diskutiert – nicht wenige, durchaus produktiv nutzbare Reibungsflächen. Geschuldet ist dies nicht nur einer speziellen Loeweschen Sicht auf die Gattung als „religiöses Volksoratorium“, einem Oratorium als „Mittelding zwischen Oper und traditionellem Oratorium“, das keine strikte Trennung von „geistlich“ und weltlich“ anstrebt. Aber auch einer vor allem im 19. Jahrhundert theologisch orientierten Öffentlichkeit, die musikpublizistisch mit den seinerzeit gebräuchlichen, normierten Begriffen von „Kirchenstyl“, „Kirchenmusik“, „geistlichem“ oder „kirchlichem“ Oratorium in bezug auf Loewes Werke nicht klar kam. Oder gleich zur nicht selten harschen bis bösartigen Kritik Zuflucht nahm. Dem Werk Loewes geriet das bis in die Gegenwart hinein zum Nachteil. Ein weites Feld also, das da immer noch der Bearbeitung harrt. Und das, wie gezeigt werden kann, jede Anstrengung lohnt.
Am besten natürlich so praktisch wie effizient mit einer Aufführung! In diesem Falle war es der Hiob, der am 20. April 2024 – am 155. Todestag Loewes - in Halles Marktkirche „Unser Lieben Frauen“ erklang. Dies im Rahmen der 9. Carl-Loewe-Festtage der Internationalen Carl-Loewe-Gesellschaft und als Schlusspunkt eines vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt in Verbindung mit der Loewe-Gesellschaft und der Universität Halle veranstalteten Musikwissenschaftlichen Symposiums zu Loewes Oratorien. Da passte alles zusammen: Loewe wurde in Halles Nähe geboren, ging in Halles Frankeschen Stiftungen zur Schule, war Schüler des berühmten Hallensers Daniel Gottlob Türk, den er auch als Organist in besagter Marktkirche "Unsere lieben Frauen" vertrat, studierte an der Universität (Jura) und war – mit schönster Stimme begabt – Mitglied jenes in seiner Geschichte bis ins Jahr 1116 zurück-reichenden und damit schon legendären Halleschen Stadtsingechores , der nun auch diese Hiob-Aufführung bestritt.
Carl Loewe komponierte seinen Hiob (WoO) als nunmehr zwölftes seiner Oratorien im Jahre 1848. Librettist Wilhelm Telschow (1809-1872), beruflich Buchhalter einer Stettiner Privatbank mit literarischen Ambitionen, lieferte ihm dazu einen nachgedichteten Textextrakt des mit 42 Kapiteln nicht eben kurzen alttestamentlichen Buches „Hiob“. Wollte heißen: Kerngedanken auf drei Teile verdichtet, und das – so in der Literatur von jeher betont – auf recht „geschickte“ Weise gemacht. Gemeint ist hier neben dem 1. (Hiob lebt glücklich, wird aber von Gott hart geprüft) und 3. Teil (Gott greift ein, Hiob erhält sein altes Leben zurück) der auch musikalisch gestalterisch wichtige Mittelteil. Er enthält das Fazit der zahlreichen Reden von Hiobs Freunden (der ja, wenn Gott schon straft, gar nicht schuldlos sein kann) und dessen konträre Gegenreden (schuldlos!) hoch-konzentriert auf den Punkt bringt: auf das Problem nämlich, warum Gott seinen absolut treuen Knecht Hiob so leiden lässt! Ist das gerecht?
Erst 1855, nach der Aufführung des Werkes in der Berliner Singakademie unter Loewes Leitung, erschienen einige erste überregionale Meinungs-äußerungen (Musikzeitschriften). Sie loben den Text, würdigen einen eigenen Weg Loewes, der als Komponist „heimischer im Ausdruck der Handlung, als in dem Ausdruck allgemein menschlichen Gefühls ist“. Im Übrigen sei Loewe ein Meister „in der Kunst, den Gegenstand in allen Einzelheiten zu individualisieren...“ (Neue Berliner Musikzeitung 9/1855). Hans von Bülow reagierte bissiger und sprach von der angekündigten Aufführung des Hiob als einer „unverdienten Strafe“ (Berliner Feuerspritze, 1855). Umfangreichere und dezidiert sachkompetentere Betrachtungen erscheinen dann erst am Ende des 19.beziehungsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts und können hier nicht berücksichtigt werden. Grundtenor ist aber weiterhin, dass man den Hiob zu Loewes besten, eindrucksvollsten oratorischen Werken zählte.
Wer in Halles Marktkirche oben benannte Aufführung erlebte, wird solchem Urteil – auch ohne die gar nicht mögliche Gesamtkenntnis des Oratorienschaffens – gern zustimmen. Vielleicht gar dem Meister auch einges abbitten. Sicher aber dankbar sein für einen mit dieser Aufführung ermöglichten Erkenntnisgewinn. Denn bislang über Loewe und sein Werk vielleicht nur Gelesenes kann nun überprüft, abgelehnt, bestätigt, relativiert oder, im besten Falle, gerechter beurteilt werden. Das beträfe Loewesche Spezifika hinsichtlich der Absichten und Ziele, der großen wie der Binnenformung sowie der (Aus)Wahl charakteristischer gestalterischer Mittel im Einzelnen. Dabei ist der Zug ins vokalsinfonisch Große, Stringente und klaggewaltig (religiös) Bekenntnishafte Loewes Sache eher nicht. Dafür vermag er – und hier sind viele Entdeckungen möglich - in der Beschränkung, im so sensiblen wie prägnanten Individualisieren von Stimmungen und Empfindungen sowohl vokalsolistisch wie chorisch mit fesselnder Kantabilität, glaubhafter Ausdruckstiefe und -intensität zu überraschen und zu überzeugen!
Voraussetzung ist allerdings eine Interpretation, die sich Loewescher Spezifika bewusst ist und sie zur Grundlage ihrer musikalischen Gestaltung macht. In Halle waren dazu beste Bedingungen gegeben: mit der Staatskapelle Halle, dem Stadtsingechor zu Halle und dem mit Gudrun Sidonie Otto (Sopran), Henriette Gödde (Alt), Daniel Johannsen (Tenor) sowie Tobias Berndt (Bass) wünschenswert kompetent besetzten Solistensensemble. Die Leitung hatte Clemens Flämig, Leiter des Stadtsingechores zu Halle. Ihnen allen gelang eine Aufführung, deren bemerkenswerte Ausdruckskraft für viele Besucher von überraschender, nachhaltiger Wirkung gewesen sein dürfte. Ungemein fesselnd etwa die Gestaltung der Arien, besonders aber die der deutlich stück-bestimmenden Telschow/Loeweschen Rezitative. Hier trafen die Solisten genau jenen Ton, der Letztere (secco wie accompagnato) als bevorzugte, fast experimentell zu nennende Kombination von Rezitativ und Arioso so anziehend macht. Dies mit einem deklamatorisch prägnanten, dennoch „gesungenen“ Erzählton, der mit durchdachten Akzenten, Dehnungen, retardierenden Momenten, sängerisch ausgereiztem, auch Weiträumigkeit nicht scheuenden Wortverständnis – man war ja als Komponist d e r Balladenmeister! - und viel arioser Empfindsamkeit sehr für sich einnahm; hin und wieder noch getoppt durch klanglich wie atmosphärisch sehr aparte Duette, Terzette (auch mal rezitativisch angelegt) und Quartette (auch a cappella!). Ob monologisierend oder im Dialog, dramatisch oder betrachtend, kontrastgeschärft oder lyrisch besinnlich – dem Solistenquartett gelang hier eine äußerst lebendige, ungemein zwingende und ständig höchste Aufmerksamkeit provozierende Präsentation! Und damit die Basis für eine Aufführung, die man hier und da sicher anders, aber kaum besser machen kann!
Das galt auch für das Chorische. Gewiß, mit der (begründbaren) Wahl eines Knabenchores entschied man sich bewusst für ein spezifisches Klangbild und – zum Beispiel – gegen erweiterte Möglichkeiten einer gemischten Besetzung. Was nicht hieß, dass dem in beachtlicher Sängerzahl angetretenen Halleschen Stadtsingechor irgendwelche Potenzen für die vielfältigen Choraufgaben des Hiob gefehlt hätten. Letzter scheinen zwischen Choral, liedhaftem, auch strophischem Satz, lyrischem Pastoralton, getragener, dunkel-besinnlichen Atmosphäre, kontrastloser polyphoner Struktur hin bis zur strengen Fuge und festlich-strahlender Pathetik nur auf den ersten Blick relativ einfach mach– und überschaubar, wollen aber auch erst einmal souverän und überzeugend gelöst sein. Im Bereich dieser eher epischen Funktion und Anlage – der große Philipp Spitta, 1894, und nach ihm Karl Anton,1912, sprachen von einem „balladischen Oratorium“ - ließen sich in der ansonsten tadellosen Interpretation des Stadtsingechores noch die eine oder andere Reserve erkennen.
Instrumental bedeutete der Hiob für die Staatskapelle Halle kein Problem. Loewes Orchestersatz meidet Komplizierungen, verteilt Klangballungen ebenso sparsam wie den Einsatz von Bläsern und widmet vor allem den Streichern entscheidende Aufgaben in Arien und Rezitativen (Ariosi). Eine (nur scheinbar „harmlose“) Begleiterrolle ist ebenso beabsichtigt, wie das an wichtien Punkten gestalterisch bewusst eigenständige Heraustreten aus bloßer Stimmungsfunktion. Gleichwohl fordert es gerade auch hier das ambitionierte Spiel samt Gespür für dem Text angemessene Klangsensibilität, -charakteristik und -vielfalt, für eine so unspektakulär scheinende wie tatsächlich wichtige Gestaltung des nicht immer gleich offensichtlich Bedeutsamen. Diesbezüglich lag Loewes Anliegen bei Halles Saatskapelle in den besten Händen.
Geiches galt für den „Chef“ am Pult. Clemens Flämig, erfahrena als Sänger, Organist und Dirigent, hatte keine Mühe, der (dem Original angenäherten) Partitur Loewes pulsierendes Leben zu vereihen. Dies sehr souverän, sichtlich sachkompetent und gestalterisch geprägt von jener inspirierenden Ausdrucks-kraft, die den ja auch im Wortsinne „historisch“ geprägten Aufführungsabend zu einem nachhaltigen Erlebnis werden ließ. Schön, sagen zu können, man sei dabei gewesen!