Hagen, Theater Hagen, Premiere Lucia di Lammermoor - Belcanto in packender Moderne, IOCO Kritik, 25.1.2017
Belcanto im Geflecht von Lüge, Betrug, Mord Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti
Von Viktor Jarosch
21. Januar 2017 und vor 37 Jahren, 1980: Die Premieren von Lucia di Lammermoor im Theater Hagen
Belcanto, der schöne Gesang, ab 1600 von Claudio Montverdi wesentlich geprägt, erreichte 1835 seinen Höhepunkt. Gesangsformen mit gebundenen wie gehaltenen Melodien, von Koloraturen geschmückt, markieren die Opern des Hochbarock. Vincenco Bellini (1801 - 1835) und Gaetano Donizetti (1797 – 1848) waren die Superstars dieser Epoche. Von Sängern verlangt der Belcanto großen Tonumfang und extreme, Grenzen ausfordernde Virtuosität.
Vielkomponist Gaetano Donizetti, u.a. Viva la Mamma, Regimentstochter, Liebestrank und großer Verehrer von Bellini (u.a. Norma), gelang mit Lucia di Lammermoor im damals populären Musikstil des Belcanto ein großer Wurf.
Lucia di Lammermoor entstammt einer Erzählung von Sir Walter Scott (1771 - 1832) aus schottischen Hochmooren. Gaetano Donizetti und Librettist Salvatore Cammarano übernahmen die Handlung weitgehend originalgetreu, aber italienisierten und personalisierten die schottische Dichtung durch überbordenden Ziergesang und Reduktion der Darsteller von 30 auf 7 Personen: Enrico Ashton, Oberhaupt der in finanziellen Nöten befindlichen Familie, erfährt von Normanno von der Liebe seiner Schwester Lucia zu seinem Todfeind Edgardo. Einer der Familie wirtschaftlich passenden Ehe mit Arturo zuzustimmen weigert sich Lucia zunächst. Gefangen im düsteren Labyrinth voller Lügen und Liebe stimmt Lucia der Ehe doch zu ("Ich habe mein Todesurteil unterschrieben"), verfällt darüber dem Wahnsinn und tötet Arturo in der Hochzeitsnacht. Donizetti gibt der Scott-Vorlage seinen eigenen Charakter. Mit Beginn der Oper legt er auf Lucia den Schatten des Todes, des Traumas: Somnambule seelische Gefühlswelten führen sie ins Verderben, nicht reale Katastrophen; ihr Umfeld nimmt Lucia, wahnsinnig geworden, nur noch als Traumwelt war. Doch ihr Umfeld ist ebenso verrucht wie blind; spürt nicht die kommende Katastrophe, welche im Tod von Lucia, Arturo und Edgardo endet.
Regisseur Thomas Weber-Schallauer bringt Lucia als spannendes, von aktuellem Zeitgeist geprägtes Psychodrama auf die Bühne des Theater Hagen. Das Bühnenbild (Jan Bammes): Ein großer Raum mit hohen massiven Seitenwände und wenig Ausstattung, im Hintergrund von einer Turmruine begrenzt; düstere blaue Nebelschwaden deuten schon im ersten Bild auf das kommende Drama. Die Protagonisten verkörpern die Handlung nicht historisch sondern in modern zeitgemäßem Auftritt; modern elegante Kleidung, Anzüge, Kleider, Jeans (Kostüme Christiane Luz) verleiht Aktualität. Auch handeln und konspirieren die Darsteller spürbar zielgerichtet; unaufgeregt mit vertrauter, heutiger Gestik. Edgardos infamer, Lucia zugrunde richtender Betrug, wird nüchtern unaufgeregt gezeichnet. Die Handlung wirkt so glaubhaft aktuell und erinnert in der Jetztzeit heiß diskutierter Fake-News an den üblen amerikanischen Wahlkampf. Man möchte dieser Inszenierung nicht glauben, dass die Lucia des Theater Hagen eine fast 200 Jahre alte Belcanto-Oper ist. Inszenierung und Personenführung vermitteln den Besucher das Gefühl, aktuelle Geschehnisse zu erleben.
Natürlich wird Lucia di Lammermoor, das „Fest des Belcanto“, auch im Theater Hagen von den Stimmen getragen. Überraschend ist, dass das hauseigene Ensemble eine stimmlich derart anspruchsvolle Oper so hervorragend bewältigt. Kenneth Mattice zeichnet den rücksichtslosen Enrico Ashton mit gut disponiertem Kavaliersbariton; Rainer Zaun ist der im Namen der Kirche eifrig konspirierende Pfarrer Raimondo, mit breitem, wohl timbrierten Bassbariton. Kejia Xiong lebte die lyrische Tenorpartie des Edgardo mit kraftvollem italienische Belcanto und ohne jede Höhenangst. Auch Peter Aisher als Arturo, Matthew Overmeyer als Normanno und Kristina Larissa Funkhauser als Alisa waren stimmlich und darstellerisch bestens disponiert; sie runden eine wunderbare Ensembleleistung ab. Glänzender Höhepunkt der Produktion jedoch war die Brasilianerin Cristina Piccardi: Ihr Rollendebüt als Lucia, eine der schwersten Sopranpartien überhaupt, gelang über alle Erwartungen. Schon in ihrer stark vorgetragenen ersten Arie „Regnava nel Silenzio“ wurde Piccardi mit vielen Bravos „begrüßt“; man glaubte noch nicht wirklich an eine ebenso glänzende Fortsetzung in der berühmten wie schwierigen Wahnsinnsarie „Il dolce suono“ im dritten Akt. Doch man irrte: Piccardi gab mit sicheren Staccati, Glissandi und Koloraturen der Welt der umnachteten Lucia mitreißenden Ausdruck; nicht als Bravourstück an der Bühnenrampe, sondern aktiv darstellend; nicht – wie bei einem Rollendebüt zu erwarten – Stimme und Koloraturen noch vorsichtig testend, sondern mit frappierender Sicherheit und Kraft der Lucia Gesicht und Stimme gebend. Viele Bravos.
Mihhail Gerts und die Hagener Philharmoniker deuten die Tragik des Stückes schon zur Ouvertüre mit sensibel dunklen Bläsern und düsterem Paukenwirbel an. Eine Glasharmonika und Philipp Maguerre steigert den Klangrausch von Euphorie, Abgründen und Wahnsinn. Im Sinne des Belcantos führt Gerts seine Philharmoniker im Graben präzise wie behutsam; das Ensemble auf der Bühne nutzt diesen klanglichen Freiraum für das erhoffte „Fest des Belcanto“, für ein "Fest der Stimmen" im Theater Hagen.
Lucia di Lammermoor ist nach modernen Maßstäben besonders für das Sänger und Chor höchst anspruchsvoll: Dem Theater Hagen gelang mit seiner glaubwürdig modernen Lucia - Inszenierung und einem starken Ensemble ein großer Wurf. Hagen ist mit seiner Lucia auf Augenhöhe mit anderen großen Theatern. Das Publikum teilte die IOCO - Einschätzung: Viele Bravos, viel Beifall ernteten Orchester, Regie, Ensemble! Im Theater Hagen wurde gefeiert.
Lucia di Lammermoor im Theater Hagen: Weitere Vorstellungen 27.1.2017, 1.2.2017, 5.2.2017, 10.2.2017, 16.2.2017, 1.3.2017, 1.4.2017, 23.4.2017, 14.5.2017
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