Greifswald, Theater Vorpommern, ORFEO ED EURIDICE - Christoph W. Gluck, IOCO Kritik, 19.04.2023
ORFEO ED EURIDICE - Christoph Willibald Gluck
Antiker Mythos und individuelle Tragödie - Spiegel gegenwärtiger sozialer Entfremdung?
von Ekkehard Ochs
Opern- und Konzertfreunden des Theater Greifswald stehen harte Zeiten bevor. Ihr Großes Haus, ein 1915 fertiggestellter großer Gebäudekomplex von Theater (seinerzeit 750 Plätze) und Stadthalle mit zwei Veranstaltungssälen (seinerzeit rund 1000 Plätze), Kaffeehaus und Restaurant, wird in seinem Theaterteil grundsaniert und steht seit Sommer 2022 für einige Jahre nicht zur Verfügung. Interessenten für Philharmonische Konzerte und Musiktheatersparten müssen in den sauren Apfel beißen und die zweite große Spielstätte des Theaters Vorpommern, Stralsund, besuchen. In Greifswald verbleiben in der Stadthalle bislang Schauspiel und kleinere musikalische Formen. Es gibt allerdings Überlegungen, den großen Saal der Stadthalle („Kaisersaal“) doch noch für Musiktheaterproduktionen - unter welchen Kompromissen auch immer - zu nutzen. Schon um zu vermeiden, dass das Theater nach der Renovierung ohne sein im Wortsinne altehrwürdiges Publikum dasteht.
Lösungsmöglichkeiten deuteten sich unlängst an, als das Theater Vorpommern in genanntem im “Kaisersaal“ von Greifswald Glucks Orfeo ed Euridice in leicht erweiterter Wiener Fassung präsentierte: auf einem im Saal längs und mittig installierten, schmalen und flachen „Laufsteg“, der rechts und links von Zuschauertribünen flankiert wird und damit die (relativ kleine) Bühne dem Orchester überlassen kann. Viel Raum also für dieses italienisch gesungene Drei-Personen-Stück. Und für eine Publikumsnähe, die Wolfgang Berthold für seine Inszenierung ausdrücklich gewünscht hatte und auf anspruchsvolle Weise zu nutzen gedachte: viele Feinheiten deutlicher sichtbar zu machen, kein „Verstecken“ zu ermöglichen. Für die Protagonisten ist das sicher eine besondere mentale wie gestalterische Herausforderung. Der Aktionsraum „Kaisersaal“ erscheint unter solchen Aspekten weniger als Notfalllösung denn als Glücksfall für Bertholds Konzept, das sich bewusst als „maximal antiillusionistisch“ versteht. (Dieses und alle folgenden Zitate entstammen einem im Programmheft abgedruckten Interview mit dem Regisseur). Alles geschieht offen, Auf- wie Umbauten, Auf- wie Abgänge, was angesichts beabsichtigter Realistik und einer signifikant veränderten Sicht auf das Werk schon nicht wenig die „Aufgabe“ für den Besucher erschwert. Und die lautet: Alles Geschehen, alle „Bilder“ sind als „symbolische Visionen“ zu verstehen, als „(Alp)träume, Überhöhungen – und als solche immer reich an Skurrilitäten, Brechungen und Irritationen“. Das Drama wird ganz auf Inneres verlegt, auf Darstellung „subjektiver Empfindungen“ und „psychologischer Bilderwelten“ (vor allem zu den rein instrumentalen Stücken). Da hat man als Besucher gedanklich allerhand zu tun. Im allerdings unerwünschtesten Falle sehnt man sich dann vielleicht nach dem, was man in Greifswald auf jeden Fall vermeiden will: „illusionistisches „Behauptungstheater`“, was immer man darunter verstehen mag.
Im Übrigen glaubt das Inszenierungsteam, mit der Psychologisierung der Vorgänge und der Minimierung Letzterer durchaus im Sinne Christoph Willibald Glucks zu handeln. Schwieriger dürften Akzeptanzversuche werden, wenn man die Grundauffassung der Inszenierung einbezieht. Sie habe sich - so Regisseur Wolfgang Berthold - darauf bezogen, dass man dem Stoff schon immer mit unterschiedlichsten Sicht- und Herangehensweisen begegnete. Warum nicht auch heute mit einer neuen? Und so entschließt er sich, „die ganze Geschichte viel profaner und diesseitiger zu interpretieren, als Passion nach einer gescheiterten Beziehung.“ Will heißen: das Stück erscheint als Demonstration einer hier grundsätzlich nicht möglich scheinenden Beziehung, wobei Euridice diejenige ist, die sich als beziehungsunwillig oder gar -unfähig erweist.
Bewusst wird dabei der Bogen bis in unsere Gegenwart gespannt. Euridices distanziertes, ja abwehrendes Verhalten dem unverändert leidenschaftlich liebenden und ihren (hier gar nicht realen!) Tod beklagenden Orfeo gegenüber interpretiert man als Synonym für heutige Standards: eine immer lockerer werdende, teils gar verschwindende Bindungsfähigkeit und -willigkeit - bis hin zur Vereinzelung! [Dazu passt, dass man kürzlich an repräsentativer publizistischer Stelle ein flammendes Plädoyer für die Abschaffung der Ehe lesen konnte]. In diesem Zusammenhang ist daher weniger vom Tod Euridices die Rede, eher von „Trennung“. Was durch ihre ständige, lebendige (!) Gegenwart auf der Bühne bis zum Schluss des Werkes unterstrichen wird. Eine Folge auch der Absicht, das Sterben hier nicht wörtlich zu nehmen, sondern - laut Berthold – als „Metapher“ zu betrachten.
Für die Inszenierung ist es dann folgerichtig, Orfeos Weg in die Unterwelt nicht realiter, sondern als „Weg in das eigene Unterbewusste“ als „Konfrontation mit seinen Ängsten, Projektionen und auch Hoffnungen“ zu interpretieren. Da verwundert dann nicht, dass der Stückausgang völlig offen bleibt und eine „zweite Chance“ in den Beziehungen beider Protagonisten – die hier ja außerhalb des Stückes läge – wenig realistisch scheint. Dazu passt eine letzte der insgesamt drei Handlungsunterbrechungen: diesmal als Publikumsbefragung, betreffend die positiv oder negativ eingeschätzten Aussichten auf eine Fortführung der Beziehung zwischen Orfeo und Euridice! Eine Abstimmung, die doch eigentlich keinerlei Folgen für den weiteren Handlungsverlauf haben konnte. Die beiden anderen Handlungszäsuren untermauern als Literaturzitate das hier kursorisch geschilderte und insgesamt auf eine Parabel hinauslaufende Aufführungskonzept. Da gibt es ein in seiner Länge und inhaltlichen Komplexität den Besucher (Hörer!) schon nicht wenig (über)forderndes Statement Euridices an Orfeo. Sie referiert – aus der Sicht eines heutigen (!) Menschen- über die „unvergleichbare, nicht teilbare Liebe“, die zwischen ihnen beiden „im Alltag“ nicht vorhanden ist und auch nie gelingen kann. Und dann redet Amore über die (heutigen!) denkbaren Qualen bei der Partnersuche und – in schon merkwürdigem Widerspruch – über heute (endlich) gegebene Möglichkeiten, „Liebeshoffnung und Liebeserwartung“ erfüllt zu sehen – bis hin zu den Vorzügen computergestützt denkbarer Partnerwahl. „Die Idee der Liebe wird durch keine andere Idee, keine Struktur mehr beschränkt. Sie ist absolut unbegrenzt“.
So weit, so gut. Auch passend? Und was für Stoff zum Grübeln! Wobei noch anzumerken wäre, dass es kaum die reale Chance gibt, sich v o r einer Vorstellung in das wahrlich anspruchsvoll andersartige Konzept einzufühlen. So bleiben nicht nur die angesprochenen Gedankengänge des Regieteams eher nur vage nachvollziehbar, sondern auch das eigentliche Geschehen auf dem schmalen, langen Catwalk. Etwa die Tischszenen (Gaststätte) zwischen hemmungslos verliebtem Orfeo und sich distanziert, geradezu zickig verhaltender Euridice, die gleich zu Anfang (Ouvertüre) - und später als stets erfolglose Annäherungsversuche wiederholt (Furientanz) - die konfrontative Spannung zwischen beiden verdeutlichen. Ebenso die Versuche Amores, Orfeo mit Hilfe einer Lageskizze den Weg in den Hades zu weisen; oder der qualmende Grill, auf dem ein menschliches Herz (das geschundene Orfeos!) liegt, sowie jene drei Eimer, aus denen sich Euridice mit Wasser, Erde und Blut beschmiert. Schließlich Aussehen (geschlechtslos, mit und ohne Masken) und Bewegungen des Chores sowie die vielen Spielzeug-Schiffchen, die Amore als Symbole des Brückenbauens (zur Oberwelt?!) auf der Bühne verteilt (Bühne und Kostüm: Eva Humburg). Von den drei handlungsorientierenden Zäsuren im Ablauf war oben schon die Rede.
Genutzt wurde aber auch Glucks Musik insofern, als diverse Ballettmusiken zum szenischen Tableau und die durchaus gesehenen Kontrapunkte (Widersprüche) zwischen Szene und Musik als musikalisch grundierte „Reibepunkte“ erkannt und genutzt wurden. Nicht uninteressant der Regisseur-Hinweis, dass dies alles „fast eine kognitive Überforderung“ bedeute, als solche aber „genau“ der des Orfeo entspräche! Ersterem kann man kaum widersprechen!
Bleibt die Frage, wo bei solchen gravierenden Umdeutungen, ja, einem Infragestellen des ursprünglichen Werkes, der Komponist Gluck und sein Texter Calzabigi bleiben? Denkbar ist da Konträres: ein gänzliches Sich-Verweigern einerseits oder Akzeptanz und Bereitschaft, ein neues, eigenwilliges Zugangsangebot zu prüfen. Kompromisse fallen da eher schwer. Aber ausgeschlossen scheinen sie nicht, denn es gibt eine Kraft, die selbst stärkste Antagonismen zu verbinden vermag: die Musik! Generell sieht sich die Inszenierung hinsichtlich der emotionalen Stärke des Musikalischen in völliger Übereinstimmung mit Gluck, da er – wie auch diese Inszenierung zeigen soll – „innerliche Empfindsamkeit“ äußeren Vorgängen gegenüber bevorzugt habe. Und tatsächlich ist es Glucks so gefühlssensibles wie überzeugendes und hier nicht zu erörterndes Komponieren, das die Aufführung prägt. Getragen etwa von einer Pihla Terttunen, die als (schwarz gekleideter) Orfeo mit bemerkenswertem physischen Einsatz und grandioser stimmlichen Präsenz für andauernde Gänsehautmomente sorgt. Wenn von der Überzeugungskraft einer schmucklos und in ihrer gefühlvollen Direktheit unmittelbaren Wirkungsmächtigkeit sängerischen Agierens gesprochen werden kann, ja muss, dann hier!
Auf stimmlicher wie künstlerischer Augenhöhe aber auch die (weiß gekleidete) Euridice von Franziska Ringe gleichermaßen rhetorisch-musikalisch prägnant, stringent und voller sich an dramaturgisch gewollten Zweifeln klangintensiv aussingend. Wohl für die Sängerin eine gestalterische Gratwanderung der besonderen Art, muss sie doch - gegen eine emphathische Musik - als die Liebe verweigernd auf inneres Beteiligtsein weitgehend verzichten. Was sicher als eine der zwangsläufigen Kompromisslösungen der Inszenierung zu gelten hat. Bleibt Elia Cohen Weissert als (rot gekleideter) Amore und als in jeder Hinsicht dazu passendes Regulativ. Als, wie Dramaturgin Katja Pfeifer augenzwinkernd formuliert, „psychologische Fachkraft“; stimmlich weniger beschäftigt, aber ohne jeden Abstrich an den musikalischen wie gestalterischen Anforderungen ihrer Rolle. Insgesamt ein Trio in Bestbesetzung und von stärkster Ausdruckskraft. Letzteres gilt auch für den wieder bestens präparierten Chor des Theater Vorpommern (Csaba Grünfelder), der in seiner Funktion zwischen klagender Anteilnahme und – im Wortsinne - „furioser“ Wildheit dramaturgisch gewichtige, vielfach dramatische Akzente setzt. Gleiches, aber noch umfassender, gilt für das Philharmonische Orchester Vorpommern. Hier setzt Alexander Mayer, 1. Kapellmeister des Hauses und Stellvertreter des GMD, die entscheidenden Akzente. Im akustisch günstigen Saal gelingt da mit ausgefeilter Dynamik, lebendiger, variabel viele Klangfacetten ausschöpfender Tongestaltung, gestischer Prägnanz und vehementem Schwung ein so eindrucksvolles wie expressives Musizieren. Der gesamte Abend: ein Hörgenuss, dem die alles bestimmende, klanglich ungemein fesselnde Dimension einer großen menschlichen Tragödie allerdings nie abhanden kommt.