Giessen, Stadttheater, XERXES - Georg Friedrich Händel, IOCO Kritik
XERXES: Das Stadttheater Gießen hat mit der Inszenierung einen mutigen Schritt gewagt, so die Autorin Alla Perchikova, da Komplexität und Vielfalt der Aufgaben, die alle Beteiligte fordert und fördert, sehr umfangreich sind und große Herausforderungen mit sich bringt.
„Ausnahmezustand der Barockmusik“ - Modernes Konzept von Händel’s Xerxes steht unter dem Einfluss des heutigen Gesellschaftswandels.
von Alla Perchikova
Moderne Zeiten sind schnelllebig, hart und anspruchsvoll. Eine Vielzahl verschiedener Faktoren beeinflusst uns und unser Leben, und wir werden als Menschen häufig auf die Probe gestellt. Im Vergleich zur Barockzeit, in der Musik und Schauspielkunst hauptsächlich der Unterhaltung des Publikums dienten, kann das moderne Theater nicht abseits der Realität existieren.
Sozial-gesellschaftliche Brennpunkte, die durch die Sprache der Musik und des Gesangs ganz dezent berührt und angesprochen werden, hinterlassen einen starken Eindruck. Doch hinter der „Leichtigkeit“ des Unterhaltungsgenres, zu dem das Theater gehört, steht immer viel mehr. Das Bühnengeschehen spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen wider und überbringt uns jedes Mal eine Art Botschaft, die uns zum Nachdenken anregen sollte.
Dies beweist und betont die Bedeutung des Theaters und der kulturellen Bildung.
Das Stadttheater Gießen hat mit der Inszenierung von Xerxes einen mutigen Schritt gewagt, da Komplexität und Vielfalt der Aufgaben, die alle Beteiligte fordert und fördert, sehr umfangreich sind und große Herausforderungen mit sich bringt:
Der Regisseur ist gefragt, viel Talent und Geschick einzusetzen; sein Konzept muss detailliert und präzise geplant sein, damit die „alte“ Handlung zeitgemäß, verständlich und menschennah vermittelt wird. Die Spezifik der Barockoper erfordert eine besonders gut aufeinander abgestimmte Besetzung von Solisten. Und die gesamte Produktion ist nur dann vollständig und erfolgreich, wenn das Orchester mit seinem musikalischen Leiter den authentischen Klang und unterstützende Begleitung des Bühnengeschehens bietet.
Xerxes ist die letzte Oper von Georg Friedrich Händel, die im Jahr 1738 geschrieben wurde. Bei der Premiere erfuhr sie weder Erfolg noch Anerkennung. Doch nicht die Musik stand massiv in der Kritik, sondern viel mehr die Struktur der Oper und das Libretto, das damals einen höheren Stellenwert und eine größere Bedeutung hatte.
Xerxes wurde als Opera Seria (seriöse Oper) angekündigt und bezeichnet, unterschied sich jedoch deutlich von den damaligen Regeln und Konventionen. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir zunächst wissen, was die Opera Seria ist.
Die „seriöse Oper“ (italienisch „seria“ bedeutet „ernsthaft“) entstand am Ende des 17. Jahrhunderts in Neapel, und erreichte im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Die italienische seriöse Oper hatte weltweit Fans und galt als eines der wichtigsten, bedeutendsten und beliebtesten Operngenres.
Zu den charakteristischen Merkmalen gehörte eine obligatorische heroisch-mythologische Handlung mit einer gewissen Moralität, die in der Musik durch Rezitative und dreiteiligen Arien ausgedrückt wurde. In den Rezitativen wurde die Handlung vorangetrieben, während sich in den Arien das Gefühl entfaltete. Die Arien waren in dreiteiliger „Da capo“-Form (A-B-A) geschrieben, wobei es bei der zweiten Wiederholung von Teil eins üblich war, zu improvisieren, und der Mittelteil sich in Stimmung und Farbe von den anderen Teilen unterschied.
Die Inszenierungen der „Opera Seria“ waren mit einer aufwendigen Bühnenmaschinerie ausgestattet, und manchmal erschien sogar echtes Wasser auf der Bühne. Obwohl die Welt am Ende des Genres sowohl der Kastraten als auch ihrer Pracht und der endlosen stimmlichen Akrobatik überdrüssig geworden war, erreichte die Opera Seria in den späten 1730er Jahren den Gipfel der Opernmode.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich die Opera Buffa, die aus den Zwischenspielen (Intermezzi) der seriösen Oper hervorging -komischen Sketchen und Szenen, die zwischen den Akten gespielt wurden. In ihnen wurden weitgehend Alltagsgespräche, Volksmusik und beliebte Lieder verwendet. Dieses „niedrige“ komische Genre, im Gegensatz zur erhabenen seriösen Oper, erlaubte solche Darbietungen. Charmante und oft kleinere Werke fanden eine Nische, die die seriöse Oper nicht füllen konnte.
Damals gab es nur eine Möglichkeit, um beide Genres zu kombinieren: Eine ernste Aufführung wurde durch Zwischenspiele, die nicht mit der Haupthandlung verbunden waren, quasi entlastet.
Wie bereits erwähnt wurde, erlitt die Uraufführung von Xerxes im Jahr 1738 in London einen Misserfolg, was dazu führte, dass die Oper für zwei Jahrhunderte aus dem weltweiten Repertoire verschwand.
Die Gründe für das Scheitern wurden auf verschiedene Weise erklärt: Das schwache Libretto und die Innovationen, die Händel eingeführt hatte, fanden kein Verständnis und keine Akzeptanz beim Publikum und Kritikern.
Allgemein lag es im Stil von Händel, die deutsche Tradition mit der italienischen Oper und englischen Eigenschaften zu vereinen. Der Komponist hat in die als Opera Seria angekündigte Xerxes, Elemente der komischen Oper eingeflochten.
Alle erwarteten endlose Arien in der „Da capo“-Form, streng eingehaltene Rezitative und eine Vielzahl musikalischer Effekte. Stattessen wurde dem Publikum etwas präsentiert, das für sie ungewöhnlich und daher unverständlich war: merkwürdige einaktige Arien, fehlende Rezitative und eine Mischung aus Ernsthaftigkeit und Komik, dazu noch manchmal sogar fast pöbelhafte Scherze.
Die Wiederbelebung der Oper begann mit einer Inszenierung in Göttingen im Jahr 1924 unter Regie von Oscar Hagen. Bis 1926 wurde diese Produktion nicht weniger als 90 Mal in fünfzehn deutschen Städten aufgeführt. Seitdem ist Xerxes ein anhaltender Erfolg und nach Julius Cäsar und Rinaldo die beliebteste Oper Händels beim modernen Publikum.
Die Merkmale, die im achtzehnten Jahrhundert als Schwachpunkte galten- kurze Arien und ein Hauch von Possenreißerei-sind für das Publikum des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts zu Tugenden geworden.
Die Aufführungsniveau der Xerxes in Stadttheater Gießen war insgesamt sehr hoch, insbesondere in Bezug auf das Orchesterspiel und das allgemeine Konzept des Werkes, sowie dessen Interpretationen, wobei das Hauptlob Maestro Vladimir Yaskorski gebührt.
Die beeindruckendste Seite seiner musikalischen Leistung ist die Klarheit der Artikulation und die Präzision der tempo-rhythmischen Struktur, was dazu führt, dass die Oper in Kombination mit ihrer dramaturgischen Komplexität als Ganzes gehört wird.
In dieser unebenen und mehrdeutigen Musik versteht es der Dirigent, die Akzente richtig zu setzen, die Partitur lebendig und interessant klingen zu lassen, ihre Vorzüge zu betonen und die Mängel zu mildern. Der Klang des Orchesters ist sehr authentisch, und zweifellos spielen hier die originalen Musikinstrumente der Barockzeit eine wichtige Rolle.
Yaskorski ist äußerst musikalisch und präzise im Umgang mit den Solisten und ist stets darauf bedacht, sie in den Vordergrund zu stellen.
Dem Regie- und Dramaturgieteam (Philipp Grigorian, Moritz Haakh, Kevin Weidlich, Ilya Kukharenko, Ann-Christine Mecke) ist es gelungen, das dramaturgische Konzept so durchdacht und umgesetzt zu haben, dass das Publikum stets das Bühnengeschehen mit Interesse und Aufmerksamkeit verfolgt.
Die Inszenierung ist dynamisch, originell und überraschend. „Ausnahmezustand“- das beschreibt den Gießener Xerxes am besten.
Bemerkenswert ist, dass der Regisseur Philipp Grigorian nicht nur die Regie, sondern auch das Bühnenbild übernommen hat. Dies ist zwar selten, verleiht der Produktion jedoch zusätzliche Vorteile und eine besondere Individualität. Die Kostüme von Moritz Haakh und Lichtkonzept von Kevin Weidlich unterstützen jedem Darsteller harmonisch und setzen die notwendigen optischen Akzente.
Der Chor unter der Leitung von Moritz Laurer hatte bei dieser Aufführung zwar keine großen Auftritte, war jedoch sehr klangvoll und zeigte eine perfekte Einstudierung.
Große Anerkennung gebührt den Solisten, die bei der Arbeit an einer Barockoper besonderen Herausforderungen gegenüberstanden.
Das schwere musikalische Material erforderte nicht nur stimmliche Fähigkeiten, sondern auch Kenntnisse des Stils. Zudem verlangte das dramaturgische Konzept besonderes schauspielerisches Können.
Mezzo-Sopranistin Fanny Lustaud verkörpert die Hauptrolle des Xerxes und zeigt dabei eine unglaublich breite Palette von Emotionen, die sich natürlich in ihrem Gesang widerspiegeln.
Polina Artsis überzeugt als Amastris, doch besonders erwähnt werden muss die Sopranistin Julia Araújo in der Rolle des Atalantes: Ihre gut geschulte, leichte Stimme verfügt über ein großes Potenzial und Tragkraft.
Jana Marković und Annika Gerhards haben dementsprechend Arsamena und Romilda gesungen. Beide Darstellerinnen waren sehr gefühlvoll und vielfältig, und haben sowohl stimmlich als auch gestalterisch sehr gut harmoniert.
Clarke Ruth und Tomi Wendt als Ariodates und Elviro verleihen mit ihren tiefen Stimmen der gesamten Oper das entsprechende Kolorit und machen sie somit vollständig und komplett.
Alle Sänger überzeugen voll und ganz durch sehr präzises und exzellentes Schauspiel sowie ihre Musikalität. Sie führen die Vorstellung mit Freude und Genuss auf, was das Publikum sehr deutlich spürt. Und die Reaktion am Ende der Aufführung ist zweifellos positiv, alle Beteiligten werden mit einem großen Applaus belohnt.