Gießen, Stadttheater, MOSES IN ÄGYPTEN- Gioacchino Rossini, IOCO

Gießen, Stadttheater, MOSES IN ÄGYPTEN- Gioacchino Rossini, IOCO
Stadttheater Gießen

von Alla Perchikova

Auf der Suche nach dem Weg in eine für alle gerechte Welt

Gioacchino Rossini - Grabstätte in Paris c IOCO

Gioacchino Rossini (1792 - 1868) ist einer der bedeutendsten Komponisten in der Geschichte, dem es sehr gut gelungen ist, eine natürliche Synergie zwischen der Hohen und der Populären Kunst zu finden. Er war der Erste, der in seinen Opern dem Ideal der Synthese der Künste näherkam, bei dem die dramatische Handlung und die musikalische Entwicklung nicht getrennt voneinander stehen, sondern sich gegenseitig ergänzen und so die Bedeutung des Werks als Ganzes klarer und umfassender offenbaren. Die Musik von Rossini ist bis heute sehr gefragt, aktuell, und ein fester Bestandteil nahezu jeder Sammlung und jedes Repertoire der populären Klassik.

Szene Moses in Ägypten, Foto Christian Schuller

„Moses in Ägypten“ ist kein gewöhnliches Werk von Rossini. Das große historische Operndrama (Rossini selbst bezeichnete sein Werk als „tragisches Sakraldrama“) ist ein weitaus schwerfälligeres Genre als eine Opera buffa. Einerseits bietet es viel Raum für Experimente, anderseits besteht immer die Gefahr, dass das Publikum sich langweilt. Rossini jedoch vermied in seiner Oper Moses in Ägypten eine zu erdrückende Pathetik, und legte sein Hauptinteresse auf die Entwicklung und Dramaturgie der Handlung.

Die Oper basiert auf einer Kombination aus traditionellen Nummern und offenen, rezitativischen Strukturen, die den recitativo secco ersetzen. Dadurch gewinnt die Rolle des Orchesters, das die Rezitative begleitet, erheblich an Bedeutung, was das dramatische Geschehen emotional intensiver macht. Der innere Kontrast der Chor- und Ensemblenummern erzeugt vielschichtige Konflikte im musikalischen und dramaturgischen Verlauf. Die orchestralen Nummern verwandeln sich von reinen Ritornellen zu ausdrucksstarke Intermedien. Um die Dynamik zu steigern, führt Rossini anstelle einer Ouvertüre eine orchestrale Einleitung ein und folgt damit dem Prinzip in medias res (mitten ins Geschehen).

Zur Entstehungsgeschichte: Im Jahr 1818 erhielt Rossini vom neapolitanischen Theater den Auftrag, eine Oper zu komponieren, die zu Ostern aufgeführt werden sollte. Damals waren Aufführungen mit weltlichem Inhalt verboten- eine Ausnahme wurde nur für Werke mit religiösen Handlungen gemacht. Allerdings sollte die Oper dennoch das italienische Publikum fesseln. Die Italiener der damaligen Zeit bewegte besonders der Gedanke des Kampfes um die Befreiung ihres Volkes- eine Parallele zur biblischen Geschichte des Propheten Moses, der auf Gottes Geheiß das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft führte. Genau auf dieses Thema einigten sich Rossini und der Librettist Leone Andrea Tottola. Jedoch diente nicht der biblische Text als Grundlage für die Oper, sondern das Drama „Osiride“ des wenig bekannten italienischen Schriftstellers Francesco Rughieri.

Szene Moses in Ägypten, Foto Christian Schuller

Moses in Ägypten geht in der Tradition der italienischen opera seria- eine historisch-legendäre, in diesem Fall biblische Handlung, vor deren Hintergrund sich eine Liebesintrige entfaltet- die verbotene Liebe zwischen dem Pharaonensohn Osiride und der jüdischen Frau Elcia (Anaida). Es gibt jedoch weitere Elemente, die untypisch sind. Musikalisch im Mittelpunkt stehen nicht die traditionellen Koloraturarien (tatsächlich gibt es insgesamt nur wenige viele Solonummern), sondern vielmehr Ensembles und Chorszenen. Auch das Finale der Oper ist ungewöhnlich: es handelt sich um eine symphonische Darstellung des Sturms.

Die triumphale Uraufführung fand im März 1818 im Teatro San Carlo in Neapel statt. Zehn Jahre später, als Rossini in Paris lebte, überarbeitet er die Oper für die Grand Opéra. Das neue französische Libretto verfassten Luigi Balocchi und Étienne de Jouy. Rossini komponierte einen völlig neuen ersten Akt, sodass die Szene der „Finsternis-Plage“ nun erst im zweiten Akt erschien. Auch einige Figuren erhielten neue Namen und in Übereinstimmung mit der französischen Operntradition fügte Rossini zudem eine Ballettszene im Tempel der Isis hinzu- eine Konzession an den Geschmack des Pariser Publikums, auch wenn sie nicht organisch in die Handlung passte. In dieser Form erhielt das Werk sogar einen neuen Titel: „Moïse et Pharaon, ou Le Passage de la mer Rouge“ (Moses und der Pharao oder Der Durchzug durch Rote Meer).

In Paris war die Oper ebenso erfolgreich wie in Italien. Selbst der bekannte Meister der geistlichen Musik, Luigi Cherubini, zeigte sich tief beeindruckt. Die Zeitung „Le Globe“, die Rossini zuvor meist kritisch gegenüberstand, veröffentlichte eine begeisterte Rezension, in der das Werk als „vollendetes Meisterwerk eines reifen Genies“ gefeiert wurde.

In der heutigen Zeit wird meist die Pariser Fassung der Oper gespielt, allerdings ohne die ursprünglich eingefügte Ballettszene.

Szene Moses in Ägypten, Foto Christian Schuller

Die Entstehung von Moses in Ägypten war ein bedeutendes Ereignis nicht nur in Rossinis Schaffen, sondern in der Geschichte der italienischen Oper insgesamt. An die Stelle der sich zunehmend erschöpfenden opera seria trat die heroisch-patriotische Oper, die später in Giuseppe Verdis Werken ihre volle Blüte erreichen sollte.

Die Inszenierung in Gießen versucht, Rossini biblisches Drama mit einem modernen Regiekonzept zu bereichern. Der Konflikt zwischen Glauben und Macht, Freiheit und Unterdrückung, kultureller Unterschiede und gesellschaftlicher Spaltung sollte durch visuelle Symbole, sowie ein abstraktes, minimalistisches Bühnenbild, betont werden. Multimediale Elemente wie Tonaufnahmen mit Interviews von Gießener Bürgern und Videomaterial sind innovativ und unterstützen die Aktualität der Handlung für unsere Zeit. Sie zeigen ein tiefes Verständnis der Thematik durch die Regisseurin Carmen C. Kruse.

Doch leider blieb diese Vision auf der Bühne oft undeutlich. Manche Details des Bühnenbildes von Susanne Brendel, wie z. B. ein Oldtimer und ein Koffer wirkten in ihrer Ausführung fragmentarisch und ließen das Publikum im Ungewissen, was damit genau vermittelt werden sollte. Der Fokus der Inszenierung ist auch gespalten, entweder liegt er mehr auf der politischen Dimension der Geschichte, dem spirituellen Kampf Moses’ oder der tragischen Liebesgeschichte zwischen Osiride und Elcia. Die intellektuell reizvolle Idee des Konzeptes lässt beim Zuschauer ein paar Fragen offen, bewegt uns jedoch am Schuss und hinterlässt Nachdenklichkeit über Gemeinschaftsgefühl und zwischenmenschliche Beziehungen.  

Der Chor spielt in der Oper eine wichtige Rolle und trägt maßgeblich zur dramatischen Intensität bei. Rossinis Partitur fordert vom Chor eine immense Präzision und dynamische Flexibilität - Anforderungen, denen der Gießener Chor unter der Leitung von Moritz Laurer mit Bravour gerecht wurde. Besonders in den großen Ensembleszenen überzeugte er mit einem satten, ausgewogenen, homogenen Klang und makelloser Intonation.

Die Solisten erwiesen sich als das strahlende Zentrum der Aufführung.

Szene Moses in Ägypten, Foto Christian Schuller

Stefan Stoll als Moses zeigte eine überzeugende stimmliche Präsenz, sang kraftvoll und autoritär. Als Osiride hörten wir Eric Jongyoung Kim, dessen seine Stimme strahlend war, dem es jedoch an klanglicher Freiheit mangelte; die Höhen wirkten grenzwertig angespannt und dadurch etwas schrill. Technische Souveränität beherrscht Annika Gerhards in der Rolle der Elcia. Ihre ausdrucksvolle Interpretation ließ die Zerrissenheit ihrer Figur zwischen Liebe und Loyalität deutlich spürbar werden. Der Pharao, gesungen von Clarke Ruth bestach durch eine starke Bühnenpräsenz, während die Amaltea von Julia Araújo mit ihrer stimmlichen Wärme für einen klangvollen Kontrast sorgte. Auch die Nebenrollen fügten sich harmonisch in das Gesamtbild ein. Randall Bills als Aron, Dakai Wei als Mambre und Jana Marković als Amenofi waren glaubhaft und spielten ihre jeweiligen Charaktere mit Präzision und Sorgfalt.

Besonders hervorzuheben ist die perfekte Balance im Ensemblegesang, bei dem alle Stimmen zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen. Alle Solisten boten eine überragende Interpretation, die Rossinis Musik in ihrer ganzen Schönheit erstrahlen ließ.

Das Orchester unter der Leitung von Vladimir Yaskorski war zweifellos ein weiteres Glanzlicht des Premierenabends. Die orchestrale Interpretation zeichnete sich durch Dynamik, Präzision und ein feines Gespür für die Entwicklung des Werkes aus. Das Orchester begleitete die Sänger mit großer Sensibilität und passte sich flexibel an die Stimmen an, wodurch eine wunderbare Einheit zwischen Bühnen und Orchestergraben entstand.

Die darstellerische, musikalische und stimmliche Leistung des Gießener Theaters machte den Abend mit Moses in Ägypten zu einem beeindruckenden Erlebnis, das auch im Herzen des Publikums Anklang fang und die Premiere wurde mit begeisterter Resonanz gefeiert.