Leipzig, Gewandhaus, GEWANDHAUSORCHESTER - Pablo Heras-Casado, IOCO

GEWANDHAUSORCHESTER - Konzert: Der Vater Abraham Mendelssohn schreibt seiner Tochter Fanny zu ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag: „Du mußt Dich mehr zusammennehmen, mehr sammeln, Du mußt Dich ernster und emsiger zu deinem eigentlichen Beruf, zum einzigen Beruf eines Mädchens, zur Hausfrau bilden“.

Leipzig, Gewandhaus,  GEWANDHAUSORCHESTER - Pablo Heras-Casado, IOCO
Gewandhaus Leipzig @ Jens Gerber / Gewandhaus

Leipzig, 7. November 2024 - Grosses Konzert - Gewandhausorchester Leipzig - Ouvertüre C-Dur von Fanny Hensel - Sinfonia concertante für Violine und Viola Es-Dur KV 364 (320d) - von Wolfgang Amadeus Mozart - Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36 von Ludwig van Beethoven

 von Bernd Runge

„Kräht ja doch kein Hahn danach und tanzt niemand nach meiner Pfeife“. (Fanny Hensel 1838).

Der Vater Abraham Mendelssohn schreibt seiner Tochter Fanny zu ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag: „Du mußt Dich mehr zusammennehmen, mehr sammeln, Du mußt Dich ernster und emsiger zu deinem eigentlichen Beruf, zum einzigen Beruf eines Mädchens, zur Hausfrau bilden“.

MENDELSSOHN Familiengrab mit Fanny Hensel in Berlin @ wikimedia commons

Für den Vater steht fest, dem Sohn Felix kommt es zu, seine Berufung als Musiker auszuleben, während es Fanny ziemt, sich an den Erfolgen des Bruders zu erfreuen und ihn nach Kräften bei seiner Karriere zu unterstützen.

Fanny Hensel protestiert: „Daß man seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekömmt, ist ein Punkt, der einen in Wuth und somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch das Uebel ärger würde“.

Fanny Mendelssohn, geb. 1805, wird nach dem Umzug der Familie von Hamburg nach Berlin dort gemeinsam mit ihrem Bruder Felix hervorragend musikalisch ausgebildet. Sehr früh zeigt sich Fannys außergewöhnliche musikalische Begabung. Zunächst von der eng mit der Bach-Tradition verbundenen Mutter unterrichtet, wird einer ihrer Lehrer Carl Friedrich Zelter, Leiter der Berliner Singakademie. Sie komponiert und organisiert die Sonntagsmusiken im Gartensaal des elterlichen Anwesens an der Leipziger Straße für bis zu 300 geladene Gäste. Bald genießt Fanny in eingeweihten Kreisen den Ruf einer brillianten Pianistin und Dirigentin. Sie führt auch ihre eigenen Kompositionen auf. Fast alle berühmten Musiker, die Berlin in dieser Zeit besuchen, wie Clara und Robert Schumann, Franz Liszt, sind Zuhörer oder Mitwirkende dieser Veranstaltungen. Dennoch bleibt ihr Wirkungskreis, auch mit dem Einverständnis des Bruders, beschränkt auf das Private. Die Geschwister verbindet lebenslang eine innige Liebe und Vertrautheit.

Dirigent Pablo Heras-Casado  Copyright: Jiyang Chen

Von Fannys mehr als 460 Kompositionen, darunter 250 Lieder, Chöre, Kammermusiken, ein Oratorium, Orchestermusiken und szenische Werke, sind bis heute nur wenige veröffentlicht, wenn, dann oft unter dem Namen des Bruders Felix. Erst Wilhelm Hensel, den sie 1829 heiratet, bestärkt sie darin, ihre Kompositionen unter ihrem Namen zu veröffentlichen. Erst 1846 beginnt sie ernsthaft damit - doch schon im Jahr darauf stirbt Fanny bei einer von ihr dirigierten Probe für eine der Sonntagsmusiken. Charles Gounod, der sie 1843 besucht, wird sich später erinnern: „Madame Hensel war eine außergewöhnliche Musikerin, eine bemerkenswerte Pianistin, eine Frau spritzigen Geistes … Sie war begabt mit seltenen Fähigkeiten als Komponistin“. Seit 1980, fast 150 Jahre nach ihrem Tod, interessiert sich die Forschung endlich für das Vermächtnis dieser großartigen Musikerin.

Fanny Hensel (1805-1847) Ouvertüre C-Dur, vermutlich 1832 komponiert, wird von ihr anlässlich einer der Sonntagsmusiken 1834 aufgeführt. Sie beweist in ihrem Werk ihre umfassende Kenntnis vorausgegangener Epochen und führt die Tradition weiter in die Romantik. Die Ouvertüre findet man inzwischen häufiger in den Konzertprogrammen, beweist sie doch, dass Fanny ihrem Bruder Felix ebenbürtig ist. Eine langsame Einleitung, ein Seufzen der Streicher, auf das auch die Holzbläser keine Antwort finden, endet mit einem Septakkord, bevor dann das Thema noch einmal wiederholt wird. Jetzt kommen die Trompeten hinzu, und die Phrase stürzt über die Dominante in ein furioses Allegro di molto, das in ein con fuoco mündet, unterbrochen von einem kurzen lyrischen Einschub, dann wieder vorwärts getrieben durch die Blechbläser. Die Ouvertüre endet in glanzvollem C-Dur. Fanny Hensels Ouvertüre ist eine wunderbare Überleitung zu

MOZART Skulptur - aber nicht in Wien - sondern in St. Petersburg @ IOCO / Gallee

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Sinfonia concertante für Violine und Viola Es-Dur KV 364 (320d).

Mit der Bezeichnung Sinfonia concertante nimmt Mozart die Tradition der Barockmusik wieder auf, hat er doch bei der für ihn ansonsten enttäuschend endenden Reise 1777-1779 nach Mannheim und Paris die dortige Vorliebe füreine Konzertform erfahren, bei der mehrere Solisten nicht nur mit einem Orchester, sondern auch untereinander musikalisch korrespondieren. Mozart nimmt diese Anregungen sofort auf und versucht noch in Mannheim, eine Concertante zu schreiben. Wie zwei weitere Anläufe für unterschiedliche solistische Besetzungen bleiben diese Versuche unvollendet. Erst nach seiner Rückkehr ins ungeliebte Salzburg gelingt Mozart mit der Sinfonia concertante für Violine und Viola der große Wurf. Die Komposition wird in ihrer Ausdruckstiefe zu einem Meisterwerk dieser Konzertform. Nicht nur der Dialog der beiden Solisten mit dem Orchester - die Viola wird einen Halbton höher gestimmt, um sie klanglich der Violine anzugleichen – sondern auch die kammermusikalisch feinsinnige Zwiesprache der Solisten untereinander, die Mozart auch auf das Orchester überträgt, machen das Konzert einzigartig. Vier Akkorde in Es-Dur eröffnen pathetisch ernst den ersten Satz Allegro maestoso. Aus einer weitgespannten sinfonischen Einleitung lösen sich die beiden Soli, zunächst unisono, dann in virtuosem Wechselspiel, nur wenige Male vom Orchester unterbrochen. Nach einer Kadenz für beide Solisten am Ende schließt der Satz mit einem kurzen Tutti. Der zweite Satz Andante steht in c-Moll. Er steigert sich nach einem tragisch schmerzlichen Anfang ins Dramatische. Auch hier hat Mozart vor dem Ende eine Kadenz für die Solisten eingefügt. Der Schlusssatz Presto kehrt zur Anfangstonart Es-Dur zurück. Das Hauptthema wird von den Soli aufgenommen und kunstvoll weitergeführt. Ein virtuoses Finale beschließt die Sinfonie.

Die Solisten sind Isabelle Faust, Violine und Antoine Tamestit, Viola.

Isabelle Faust Copyright: Felix Broede

Isabelle Faust startet nach dem Gewinn des Internationalen Violinwettbewerbs Leopold Mozart 1987 und des Paganini-Wettbewerbs 1994 den Beginn einer weltumspannnenden Karriere. Bis zu 120 Konzerte stehen in ihrem Jahresprogramm. Sie gastiert bei den renommierten Orchestern der Welt und arbeitet mit den namhaftesten Dirigenten zusammen. Ihr Repertoire umfasst die Barockmusik, gespielt auf  Originalinstrumenten, die klassisch-romantische Konzertliteratur bis zur zeitgenössischen Musik. Die Kammermusik ist ein wesentlicher Teil ihrer Tätigkeit.

Auch Antoine Tamestit erhält bei zahlreichen internationalen Wettbewerben erste Preise. Seit 2005 gastiert er weltweit. Er spielt eine Reihe von Uraufführungen, Sofia Gubaidulina richtet für ihn ihr Bratschenkonzert von 1996 neu ein. Er konzertiert gemeinsam mit Künstlern wie Gidon Kremer, den Brüdern Capuçon und anderen. Tamestit ist ständiges Mitglied des vom Geiger Frank-Peter Zimmermann gegründeten Trio Zimmermann.  

Antoine Tamestit Copyright: lenaka.net 

Isabelle Faust und Antoine Tamestit erweisen sich als ideale solistische Partner für die Mozart-Komposition. Wunderbar, wenn beide die Tutti des Orchesters mitspielen, wie sich beide dann solistisch aus dem Orchester herausheben, aufmerksam und sensibel in der musikalischen Zwiesprache, fein nuanciert in der klanglichen Abstimmung, perfekt im Zusammenspiel! So wird die Sinfonia concertante zu einem begeisternden Erlebnis. Das Publikum entlässt die Solisten erst nach Zugabe eines Stückes von Monsieur Saint-de Colombe.

Ludwig van Beethoven (1770-1827) - Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36

wird der grandiose Abschluss des Konzerts. Die Zweite ist wohl die am seltensten aufgeführte Sinfonie Beethovens. Während die erste Sinfonie ganz im Zeichen Haydns und Mozarts steht - sie bewegt sich noch im traditionellen Rahmen - versucht Beethoven in der zweiten Sinfonie neue Ausdrucksmittel. Das wiederum irritiert die Kritiker; auch wenn einige in ihr ein Werk „voll neuer Ideen und großer Kraft“ sehen, dominieren doch die Vorbehalte. Noch durchbricht Beethoven die Tradition nicht. Erste Skizzen entstehen zwischen 1800 und 1802, in einer Zeit, in der sich Beethoven seiner zunehmenden Taubheit bewusst wird. Er verfasst sein „Heiligenstädter Testament“ und schreibt 1801 an seinen Freund Wegeler das aufbegehrende  „ich will dem schicksaal in den rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht“. Doch von Niedergedrücktheit ist in der Sinfonie, die am 5. April 1803 uraufgeführt wird, nichts zu spüren. Eine langsame, quasi improvisatorische Einleitung, aus der thematisches Material in das anschließende Allegro con brio übernommen wird, ist ein Hinweis auf  Kommendes. Es folgt ein Larghetto, dessen strömender, wohlklingender kantabler Stil auch für Beethoven einzigartig ist. Statt des bisher üblichen Menuetts folgt jetzt ein Scherzo (Allegro). Mit einem ausgelassenen Finale schließt die Sinfonie. Die beiden letzten Sätze scheinen wie ein letzter, selbstbewusster Gruß an Haydn und Mozart. Das ist noch nicht der endgültige Bruch mit bis dahin üblichen Kompositionsweisen, aber die 2. Sinfonie ist bereits ungewohnt reich an poetischen Einfällen, interessanten Klangwirkungen und kühnen Kontrasten. Die thematische Verarbeitung lässt bereits die „Eroica“ ahnen.    

Das fast intime Konzertprogramm zeigt die nahtlose Weiterentwicklung einer musikalischen Tradition auf zeitlich engstem Raum: Beethoven übernimmt die Ideen Mozarts und führt sie weiter auf den Höhepunkt der Wiener Klassik. Fanny Hensel, aufbauend auf der umfassenden Kenntnis der Werke von Bach bis Beethoven, vollzieht in ihren Kompositionen den Schritt in die Epoche der Romantik.

Der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado, international hoch geschätzt, leitet 2023 den „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen, dirigiert an der Metropolitan Opera und der Oper in Madrid, ist Gast bei den bedeutendsten Orchestern Europas und den USA, arbeitet auch ständig sowohl mit dem Freiburger Barockorchester, als auch dem Ensemble Intercontemporain und Klangforum Wien zusammen.

Heras-Casado arbeitet die farblichen, agogischen und dynamischen Schattierungen der Werke fein heraus. Dabei beweist sich seine Vertrautheit mit der historischen Aufführungspraxis.

Seine Begeisterung und Freude am Spiel übertragen sich auf Orchester und Publikum, sichtbar und spürbar.