Genf, La Cité Bleue Genève, ERNEST & VICTORIA - Leonardo García Alarcón, IOCO
La Cité Bleue in GENF: Victoria Ocampo (1890-1979) und Ernest Ansermet (1883-1969) haben eine starke Verbindung aufgebaut, die nicht nur zwei geografisch weit entfernte Orte, nämlich Buenos Aires und Genf vereinte, sondern es auch ermöglichte .....
von Peter Michael Peters
ERNEST & VICTORIA (2024) - Ein musikalisches Theater über Ernest Ansermet und Victoria Ocampo - eine Kreation von La Cité Bleue - nach einer Idee von Leonardo García Alarcón -
VICTORIA, DIE KAISERIN DER PAMPA…
Vous ne savez pas? Vous devez savoir.
Eh bien vous me le copierez vingt fois.
Vous me conjuguerez le verbe répondre.
Je vous le répète pour la dernière fois.
C’est ça que vous appelez savoir ?
Vous êtes une paresseuse.
Impossible n’est pas français.
(Auszug aus Lettres françaises / 1941 von Victoria Ocampo)
Eine Freundschaft ist die Summe ihrer Tage und der Verwirrung ihrer Ideen, ihrer Begegnung , ihrer Kämpfe, ihrer gemeinsamen Träume, ihrer Komplizenschaft und ihres Schweigens! Und wenn diese Freundschaft auch eine kreative Partnerschaft ist, vervielfachen sich alle diese Tugenden und Missverständnisse.
Victoria Ocampo (1890-1979) und Ernest Ansermet (1883-1969) haben eine starke Verbindung aufgebaut, die nicht nur zwei geografisch weit entfernte Orte, nämlich Buenos Aires und Genf vereinte, sondern es auch ermöglichte, dass einige der bemerkenswertesten und später sehr berühmten Musik-Kreationen des 20. Jahrhunderts Gegenstand eines einzigartigen Gedanken wurden. Victorias Anliegen, die Arbeit und das Denken eines großen Teils der europäischen Avantgarde in ihre Stadt zu bringen, führte dazu, dass sie mehrere ebenso langlebige wie auch oft stürmische Beziehungen zu einer großen Anzahl von Künstlern aufbaute und pflegte.
Diese Kreation konzentriert sich auf diese außergewöhnliche Beziehung zwischen zwei kulturellen Säulen beider Städte und baut eine Brücke der Zusammenarbeit, die bis heute nachwirkt. Daher will diese Produktion ein klares Zeugnis für die Bedeutung dieser Brücke sein: Die vor fast 100 Jahren errichtet wurde!
In diesem Theaterstück werden Ernest und Victoria von Jorge Luís Borges (1899-1986) und Igor Strawinsky (1882-1971) begleitet und bilden somit ein Quartett, das versunken in einer Orchesterprobe eine Fiktion erarbeitet, die einem von ihnen würdig ist und somit eine große Show aufbauen. In der Musik, Literatur, Leidenschaft stehen die beiden Länder im Mittelpunkt: Schweiz und Argentinien werdenimmer anwesend sein.
Das Erbe von Victoria…
„Die Kaiserin der Pampa“, so formuliert es André Malraux (1901-1976), der künftige Minister für Kultur von Charles de Gaulle (1890-1970). Der orientalistische Schriftsteller René Etiemble (1909-2002) sagte über sie: „Diese schöne Frau ist ein großartiger Mann“. In Paris war es immer am rechten Seine-Ufer, in der Nähe des Arc de Triomphe, wo sich Victoria seit ihrer Kindheit regelmäßig aufhielte – von Argentinien aus dauerte die Bootsfahrt dann 16 Tage. Sie übernachtete in Luxushotels an der Avenue Kléber, der Avenue Foch, der Avenue du Friedland und der Rue d’Artois. Sie wechselte nur einmal die Ufer-Seite, als sie sich 1941 in den Schriftsteller Pierre Eugène Drieu la Rochelle (1893-1945) verliebte. Die Prinzessin Marthe Lucie Lahovary Bibesco (1886-1973), die von Marcel Proust (1871-1922) so sehr bewundert wurde, hatte Drieu La Rochelle ihre Wohnung auf der Île Saint-Louis zur Verfügung gestellt. Leider war Drieu La Rochelle ein sehr gequältes Wesen, so dass er während des Krieges schließlich mit den Deutschen kollaborierte und 1945 Selbstmord beging, um den Folgen einer Verhaftung zu entgehen.
Die wohlhabende Ocampo wurde 1890 in eine alte aristokratische argentinische Familie hineingeboren und von einer Englisch-Lehrerin, Miss Kate Ellis (1872-1941) und einer französischen Gouvernante, Alexandrine Bonnemaison (1869-1931) bekannt als „Mademoiselle“ großgezogen. Die kleine Victoria lernte zunächst Englisch und Französisch sprechen und schreiben, wobei sie die Sprache von Jean-Bapiste Poquelin, genannt Molières (1622-1673) bevorzugte. In Racine et Mademoiselle, erschienen 1941 in Lettres françaises der französischen Beilage ihrer Zeitschrift SUR, beschreibt sie ihr Verhältnis zu ihrer anspruchsvollen Gouvernante (Gedicht-Auszug oben!).
Ocampo hätte das glänzende Leben eines jungen Mädchens aus gutem Hause führen können, doch sie entwickelte schnell eine große Leidenschaft für Literatur und Musik. Sie kannte und empfing die gesamte Intelligenz ihrer Zeit: Virginia Woolf (1882-1941), die sie mehrmals in London traf, Rabindranath Tagore (1861-1941), der große indische Dichter, der ihr 1924, verliebt in sie, sein Gedicht Vijaya (1924) widmete. Von Charles-Édouard Jeanneret-Gris genannt Le Corbusier (1887-1965), der sich von ihr inspirieren ließ, baute ihr die Villa Victoria, eine Sommer-Residenz in Mar del Plata. Bis hin zum großen Skandal der guten Gesellschaft, als Ansermet, einem persönlichen Freund seit vielen Jahren, als Dirigent das Orchester des Teatro Colón in Buenos Aires leitete. Als der russische Komponist Strawinsky, von der Ocampo 1936 in Buenos Aires als Rezitatorin in der Oper Persephone (1934) mitwirkte, nach einem Libretto von André Gide (1869-1951) sein neues Werk erschuf. Ocampo präsentierte das Werk 1939, mitten in der faschistischen Zeit, in Florenz zusammen mit Benito Mussolini (1883-1945), den sie „Mr. Megaphone“ nannte.
Aber ihr größtes Vermächtnis bestand darin, dass sie den Virus der lateinamerikanischen Literatur auf Roger Caillois (1913-1978) übertragen hatte. 1945, gerade aus Argentinien zurückgekehrt, kam Caillois zu Gallimard, um ihm eine neue Sammlung lateinamerikanischer Literatur anzubieten, die zur Croix du Sud-Sammlung werden sollte. Er bittet Ocampo, ihm Aleph (1949) von Borges zu schicken. 1946 bereitet Caillois eine Sonderausgabe der Zeitschrift Confluences zur latein-amerikanischen Literatur vor. 1951 entstand bei Gallimard die Croix du Sud-Kollektion. 1957 übersetzte und veröffentliche Caillois Fictions (1944) von Borges. 1963 schrieb er in Les Cahiers de l’Herne einen großen Aufsatz über die Gründungs-Themen von Borges, indem er den Dichter in Form eines Witzes sagen ließ: „Ich wurde von Caillois erfunden!“ Und seit 1965 hat Caillois den Kubaner Alejo Carpentier (1904-1980), den Peruaner Mario Vargas Llosa (*1936), den Argentinier Julio Cortázar (1914-1984), den Mexikaner Carlos Fuentes (1928-2012) und viele andere in seiner Croix du Sud-Kollektion aufgenommen, die von diesem Moment an weltweiten Ruhm erlangten.
Ocampo starb 1979. Sie ist heute weitgehend vergessen. Sie schenkte der UNESCO ihre beiden argentinischen Grundstücke: San Isidro in der Nähe von Buenos Aires und Mar del Plata für eine zukünftige Ocampo-Stiftung. Die UNESCO verkaufte die Villa Victoria, das Anwesen in Mar del Plata, an die gleichnamige Gemeinde mit der Idee, dort ein Ocampo-Museum zu errichten. Die Bibliothek, Aufzeichnungen und Gemälde der Villa wurden in die Villa Ocampo in San Isidro überführt, die sich noch immer im Besitz der UNESCO befindet und sie gerade der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat (http:://www.villaocampo.org/). Eine wohlverdiente Hommage an eine der intelligentesten und einflussreichsten Frauen des 20. Jahrhunderts für die lateinamerikanische Kultur und auch für die Weltkultur.
Ein Prophet der zeitgenössischen Musik…
Ernest Ansermet: „Es war ein Bedürfnis nach Klarheit, das mich dazu brachte, über die musikalische Praxis und Technik hinauszuschauen. Musik kann nicht durch isolierte Klänge ausgedrückt werden, die nur Atome sind“.
Verstehen und dienen hätte sein Motto sein können. Dieser ehemalige Mathematik-Professor näherte sich der Musik mit seinem ganzen Wesen: Er analysierte die Grammatik des Werkes, seine Syntax, legte nach und nach seine Bedeutung und sein grundlegendes Projekt frei und erlangte dieses intime Wissen, das sich damit verband, alles spontan und instinktiv, was seine zitternde Sensibilität nahelegte. Für ihn war es das, was im Tempo Gestalt annahm und lebte für ihn der Schlüssel zu jeder Interpretation, das er seinen Musikern mit genau dieser psychologischen Spannung vermittelte, die ihn fesselte. Das Werk entwickelte sich dann in vollem Licht, in all seinen Details, aber auch in der ganzen geheimnisvollen Kraft seiner tiefen Bewegungen. Dadurch war er einer der größten Interpreten von Claude Debussys (1862-1918) La Mer (1905) und Strawinskys Le Sacre du Printemps (1913).
Dies erklärt, warum dieser Mann nach einer großartigen Karriere fast fünfzehn Jahre damit verbrachte, eine Phänomenologie der Musik zu entwickeln, um noch weiter zu gehen und die Phänomene des musikalischen Bewusstseins an ihrer Quelle zu erfassen. Dies erklärt auch, warum er, nachdem er einer der Propheten der zeitgenössischen Musik war, die für ihn bedeutungslose serielle Musik vehement ablehnte und stigmatisierte, weil sie seiner Meinung nach der theoretischen Konstruktion Vorrang vor der Sprache einzuräumen schien.
Ansermet wurde am 11. November 1883 in Vevey geboren. Sein Vater war Landvermesser, seine Mutter eine gute Musikerin, brachte ihn schon früh ans Klavier. Nach seinem Abschluss und einem Posten als Professor für Mathematik in Lausanne (1906-1910) studierte er gleichzeitig Musik bei Alexandre Dénéréaz (1875-1947), Otto Barblan (1860-1943) und Ernst Bloch (1885-1977), kam nach Paris, wo er mit André Gedalge (1856-1926) zusammen arbeitetete und begann dann 1910 und 1911 in Deutschland zu dirigieren unter der Aufsicht von Arthur Nikisch (1855-1922) und Felix Mottl (1856-1911). Er denkt darüber nach, sich ganz der Komposition zu widmen.
Von 1912 bis 1914 war er Dirigent am Kursaal in Montreux, dann in Genf. 1915 wurde er von Serge de Diaghilew (1872-1929) engagiert, um die Balletts Russes auf Tourneen durch Europa, den USA und Südamerika zu leiten. Und dann mit Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947) und Strawinsky, einem Flüchtling in der Schweiz, während er seit 1914 mit den Cahiers Vaudoise zusammengearbeitet hatte, wagte er das Abenteuer Die Geschichte vom Soldaten, das unter seiner Leitung am 29. September 1918 in Lausanne uraufgeführt wurde. In Paris dirigierte er Parade (1917) von Erik Satie (1866-1925).
1918 gründete er aus „ethischer Entscheidung“ das Orchestre de la Suisse Romande in Genf, ein renommiertes Ensembles, das er ununterbrochen bis 1966 leitete, bevor er seinen Dirigentenstab an Paul Klecki (1900-1973) übergab. Hier hatte er auch die ersten Auditionen, die allesamt zeitgenössische Musik beinhalteten, die er auch bekannt und berühmt machte. Jedoch wie schon gesagt, lehnte er jegliche serielle Musik ab!
Im Jahre 1945 wurde das Orchester durch seine vielen Schallplatten sehr berühmt. In diesem Jahr, das das Ende des Zweiten Weltkriegs markierte, wurde Ansermet einer der Initiatoren der Internationalen Treffen in Genf, die es zahlreichen Intellektuellen ermöglichte, die fünf Jahre hinter ihren Grenzen inhaftiert waren, an den Ufern des Genfersees wertvolle Kontakte zu knüpfen. Seine Auftritte und Kreationen brachten ihm den Preis für die beste Orchester-Aufnahme der United States National Academy of Recording Arts and Sciences, den Großen Preis der American Record Critics, die Goldmedaille für die beste Aufnahme kompletter Opern und viele andere Auszeichnungen ein.
Zu den von ihm uraufgeführten Werken gehören neben zahlreichen Partituren von Strawinsky auch King David (1938) und Pacific 231 (1924) von Arthur Honegger (1892-1955). Desgleichen Le Tricorne (1919) von Manuel de Falla (1876-1946), Chout (1921) von Sergei Sergejewitsch Prokofjew (1891-1953), die Werke von Frank Martin (1890-1974) usw. Er hinterließ auch mehrere Bücher, darunter Les fondements de la musique par la conscience humaine (1961), das 1964 mit dem ersten Preis der Schiller-Stiftung ausgezeichnet wurde. Außerdem ist auch äußerst interessant ERNEST ANSERMET et JEAN-CLAUDE PIGUET (1924-2000): Entretiens sur la musique (1963), herausgegeben von Edition La Baconnerière in Neufchâtel, sowie einen wertvollen Text über die Geste des Dirigenten in Une vie en images (1965), die ihm von Paul Budry (1883-1949), Géa Augsbourg (1902-1974) und Romain Goldron (1915-2004) gewidmet wurden (Editionen Delachaux und Niestlé). Ansermet war Kommandeur der Ehrenlegion.
MUSIK-PROGRAMM: Ástor Piazzolla (1921-1992): Adiós Nonino * Igor Strawinsky: Capriccio für Klavier und Orchester * L’Oiseau de feu (Finale) * Robert Schumann (1810-1856): Konzert für Klavier in a-Moll, Op. 54 (solo cadenza) * Jean Sibelius (1865-1957): Konzert für Violine (Auszug) * Carlos Gardel (1890-1935): Anclao en Paris * Igor Strawinsky: Tango * Le Chant du rossignol * Julián Aguirre (1868-1924): La huella * Ástor Piazzolla: Alguien le dice al tango * Ángel Villoldo (1861-1919): El Choclo * Gianbattista Pergolesi (1710-1736): Stabat Mater * Igor Strawinsky: Konzert für Klavier und Streichinstrumente, II. Satz * Anton Webern (1883-1945): Ricercare à 6 * Igor Strawinsky: Konzert für Klavier und Streichinstrumente, III. Satz * Mariano Mores (1918-2016): Uno
Premiere - 3. Juni 2024 - La Cité Bleue Genève
Ein etwas langweiliges Musik-Theater…
Dieses sogenannte musikalische Theater ist sicherlich sehr schön erträumt und auch Ideenreich erdacht vom argentinisch-schweizerischen Barock-Dirigenten Leonardo Garcia Alarcón, aber ist leider in der Ausführung und Gestaltung äußerst platt und farblos vor unseren Augen erschienen. In einer populären und vulgären Sprachform würde man sagen: Das ist Fisch noch Fleisch!
Ernest et Victoria, eine Kreation von La Cité Bleue Genève in Zusammen-arbeit mit dem Orchestre de la Suisse Romande entstanden. Das Thema ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei bemerkenswerten Persönlichkeiten: Victoria Ocampo, eine große Dame der argentinischen Kultur, Mäzenin und Literatin und Ernest Ansermet, der große schweizerische Dirigent, der besonders die Musik des 20. Jahrhundert interpretierte. Diese im Grunde sehr interessante Geschichte wird durch ihre mit allerlei Unterhaltungen in Form von Musik-Auszügen durchsetzte Korrespondenz furchtbar langweilig und undramatisch gehalten. Auch die Figur des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges wird dort zitiert, ebenso wie die von Igor Strawinsky, da beide den Titelfiguren dieser Show nahe standen.
Ein Musik-Theater schreiben…
Der argentinische Dramaturg Alejandro Tantanian, der das Libretto [sic] geschrieben hat, ist unserer Meinung völlig danebengegangen, denn das ist kein Theater! Das ist vielleicht eine mit Worten hintereinander reihender Phrasen und Sätzen eine äußerst ermüdende fünfundsiebzig Minuten lange Lesung! Leider heißt der Dramaturg nicht Borges, denn er wäre wohl der einzige Richtige um dieser unbeholfenen Konzeption einige dramaturgische Impulse zu verleihen. Der Reichtum der Elemente dieser Show ist jedoch da: Die Lektüre der Briefe von Ernest und Victoria, die Inkarnation ihrer Charaktere auf der Bühne sowie die von Strawinsky und Borges, die Interpretationen von Tangos, die an die Welt von Buenos Aires erinnern und viele Musik-Stücke von Strawinsky, auch Auszüge aus Texten von Borges usw.
Aber es war die Art und Weise, diese Zutaten zu nutzen, um dem Zuschauer und Zuhörer trotz der schon genannten ungenügenden Qualität der Gesamt-Interpretationen: Jedoch insbesondere die Musiker lieferten einige atemberaubende Momente: Die sechzehn phantastischen Mitglieder des Orchestre de la Suisse Romande und auch derjenigen, die ihre Anführerin ist, die argentinische Dirigentin Ana Maria Patiño-Osorio, sowie der hervorragende französische Bandoneonist William Sabatier, die virtuose slowenische Pianistin Meta Cerv und der großartige argentinische Sänger Diego Valentin Flores.
Die Lesung von Briefen zu einem Theaterstück zu machen, ist an sich schon ein Unterfangen voller Hindernisse oder wirft zumindest ästhetische Fragen auf, der eine angemessene, sorgfältig durchdachte , theatralische Antwort gegeben werden muss. Allerdings erwecken der argentinisch-französische Regisseur und Bühnenbildner Marcial Di Fonzo Bo an diesem Abend den Eindruck, als hätte er und seine Mitarbeiter das Hindernis einfach umgangen, indem sie darauf gewettet haben, dass ein Schauspieler/eine Schauspielerin, der/die den Text der betreffenden Briefe auf der Bühne einfach spielt und ihre Autoren auch zum Leben erwecken zwingt: Victoria und Ernest! Dabei wird jedoch nebenbei vergessen, dass, wenn eine Figur auf der Bühne einen Text sagt, es sich nicht mehr um einen Brief, sondern um eine Szene handelt… Das innere Gefühl eines Wesens, das in einem von der Natur aus an einem abwesenden Adressaten gerichteten Brief zum Ausdruck kommt, ist nicht zu vergleichen mit dem Theater bis hin zur physischen Präsenz eines Schauspielers. Noch weniger, wenn der Beschenkte auch noch auf der Bühne anwesend ist…
Hommage an den Tango…
Was Musik-Theater ausmacht, ist natürlich der Wechsel von musikalischen Momenten und effektvollen Theater-Szenen, aber wir hatten den Eindruck, dass der Übergang vom Theater zum Musical nicht gut gemeistert wurde! Und manchmal wirkte das Erscheinen einer bestimmten Musiksequenz wie ein einfacher Atemzug, der ganz willkürlich zwischen zwei Szenen platziert wurde, als ob er einfach die argentinische Atmosphäre oder die Veranschaulichung von Strawinskys Persönlichkeit durch das Hören dieses oder jenes seiner Werke betonen wollte. Auch der Tango scheint in dieser musikalischen Konstruktion besser vertreten zu sein als das von Ansermet geleitete Repertoire, als ob Argentinien Vorrang vor der westlichen Welt hätte! Warum nicht? Aber ist das wirklich ein Beispiel für die Verbindung zweier Kulturen, die Victoria und Ernest verband? Oder eher eine Hommage an die Kultur von Buenos Aires als solche?
Es würde für den Zuschauer nichts bedeuten, wenn er zumindest Stoff fände, um die Substanz dieser Schöpfung, ihren Geist und man könnte sagen: Ihr verlangen zu begreifen… Dazu müssten sich aber Musik und Wort vermischen um eine Handlung mit dramatischer Spannung zu erschaffen und nicht nur eine fragmentarische Beschwörung der Charaktere, die sich auf der Bühne zufällig begegnen. Wir werden auch Inkonsistenzen in der Verteilung der Rollen-Besetzungen feststellen. Wenn die argentinisch-französische Pianistin und Schauspielerin Annie Dutoit-Argerich, die die Figur der Victoria spielt, mit ihrer Schönheit, ihrer Eleganz und ihrer Bühnenpräsenz glänzt, ist jedoch die Wahl des französischen Schauspieler Rudolphe Congé in der Rolle des Ernest mehr als dürftig: Fade und farblose Erscheinung und dazu mit einer sehr schlechten Diktion. Die Wahl des kolumbianischen Schauspieler Léon David Salazar ist darüber hinaus ausgezeichnet und mit einer schönen Theaterpräsenz um Strawinsky zu verkörpern, nur scheint er völlig willkürlich und sogar weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass Strawinsky notorisch hässlich und sehr klein war – in keiner Weise vergleichbar mit diesem Schauspieler mit einem schlangen Körper und einem schönen Gesicht, zu dem tanzte er mit seinem biegsamen schlangenhaften Körper… Um zweifellos die choreografischen Qualitäten von Strawinskys Musik au veranschaulichen! Das erscheint uns alles mehr als naiv! Was Borges betriff, der für einen Moment mit verbundenen Augen erscheint, um natürlich seine Blindheit anzudeuten, unter der er im hohen Alter litt. Er wurde von dem argentinischen Schauspieler Gaston Re sehr plausible interpretiert. Jedoch hätten wir uns gewünscht, dass die Brillanz seines literarischen Schaffens und die Kraft seines Schreibens in diesem Musiktheater mehr erscheinen würde. Das wäre eine wirkliche große Inspiration-Quelle für dieses matte und so undramatische Musik-Theater. Er bleibt leider hinter den großen angedeuteten Ambitionen weit zurück! Wirklich sehr schade! (PMP/10.06.2024)
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