Genf, Grand Théâtre de Genève, PARSIFAL - Richard Wagner, IOCO Kritik, 02.02.2023
PARSIFAL (1882) - Richard Wagner
- PARSIFAL: Eine neue christliche Legende ? -
von Peter Michael Peters
- KARFREITAGSZAUBER
- Du siehst, das ist nicht so.
- Des Sünders Reuetränen sind es,
- die heut mit heil’gem Tau
- beträufet Flur und Au‘:
- der liess sie so gedeihen.
- Nun freut sich alle Kreatur
- auf des Erlösers holder Spur,
- will ihr Gebet ihm weihen.
- Ihn selbst am Kreuze kann sie nicht erschauen:
- Da blickt sie zum erlösten Menschen auf;
- Der fühlt sich frei von Sündenlast und Grauen,
- durch Gottes Liebesopfer rein und heil. (Auszug: Szene des Gurnemanz)
Eine Neu-Interpretation des Christentums nach Wagner…
Die in Bayreuth zur Zeit der Entstehungsgeschichte von Parsifal aufgenommenen Fotografien, sind einwandfreie Zeugnisse eines mürrischen und frömmelnden Saint Sulpice Sévère (363-425 n. J. C.) Erbarmen, das einwandfrei nur ins 19. Jahrhundert gehört. Sie sind voller Beredsamkeit und lassen wenig Zweifel an den Absichten von Richard Wagner (1813-1883), was sein Bühnenweihfest betrifft: Sie zeigen in der Tat den gleichnamigen Helden, gekleidet während des berühmten Karfreitag-Zaubers als Ebenbild von Jesus Christus und Kundry präsentiert sich als eine Reinkarnation von Maria-Magdalena, der reuigen Sünderin. In der Tat ist es dieses Bekenntnis zum Katholizismus eines Künstlers, der der christlichen Religion im Allgemeinen ( man denke nur an seine Aufsätze über die Religionen aus den Jahren 1840/1850) und dem Katholizismus im Besonderen bis dahin äußerst kritisch – ja sogar sehr bissig – gegenüberstand, was wohl Friedrich Nietzsche (1844-1900) sehr irritierte. Wir wissen, dass zum Zeitpunkt der Entstehung von Parsifal der Komponist auf sehr präzise und methodische Weise sich über den liturgischen Ablauf einer katholischen Messe dokumentierte. Heißt das, Wagner hätte gerne aus seinem letzten Werk, in dem sich die Artussage mit vermeintlichen Anleihen aus den Evangelien vermischt, eine Art Apologie des Christentums zu machen? Von der späten und spektakulären Bekehrung eines Künstlers zu sprechen, der in den 1840er Jahren im Christentum wie auch Karl Marx (1818-1883) ein kapitalistisches Instrument der großen Ausbeutung der ärmsten unter den Bevölkerungsschichten sah, wäre sicherlich eine zu starke Vereinfachung.
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Tatsächlich hatte Wagner bereits 1849 zur Zeit der Dresdner Revolution mit der Arbeit an einem erstaunlichen Opern-Projekt begonnen, das leider unvollendet blieb, Jesus von Nazareth, WWV80 (1848). Darin erzählt er eine ziemlich getreue Geschichte, durchsetzt mit großen Zitationen aus dem Neuen Testament: Die letzten Tagen aus dem Leben von Jesus. Nur bei näherer Betrachtung erkennen wir, dass dieses unvollendete Libretto keine „orthodoxe“ Darstellung ist, sondern eher eine „sozialisierende“ Neulektüre des Lebens von Jesus mit der Anspielung auf einen kaum verbrämten berühmten Slogan von Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) wird folgendes zitiert: „Eigentum ist Diebstahl!“. Wagner hatte daher immer Interesse an den Evangelien, die er nicht nach christlicher Orthodoxie verstand. Doch jedoch glaubte er, dass sie ebenso wie die Mythen Wahrheiten enthielten, die für alle Zeiten gültig waren! So sollte man sie auch ständig im Lichte der Zeit lesen und neu interpretieren für unsere aktuelle Welt. Wir finden in Parsifal diesen Geist des Synkretismus, diese disparate Neigung und sogar das antagonistische Denksystem wird zusammen gebracht. Die Artussage und die christliche Symbolik werden neu interpretiert und korrigiert im „Lichte“ von Arthur Schopenhauer (1788-1860). Indem er sich auf einen Philosophen beruft, dessen Denken in mehr als einer Hinsicht auf den Antipoden des Christentums steht, ist Wagners Ziel nichts weniger als das zu retten, „was das Herz der Religion“ ist. So jedenfalls sind die rätselhaften Worte zu verstehen, die das Werk beschließen: Erlösung dem Erlöser.
Der radikale Pessimismus von Schopenhauer
Im Jahre 1854, als er nach dem Scheitern des Dresdner Aufstands und seinem Exil in der Schweiz eine Zeit der tiefsten Zweifel durchlebte und er glaubte nicht mehr daran, dass seine Werke eines Tages doch noch das Bühnenlicht erblicken werden. In dieser schwierigen Zeit entdeckte Wagner das Werk von Schopenhauer und insbesondere Die Welt als Wille und Vorstellung (1818/1844). Das Werk des von einem großen radikalen und spektakulären Pessimismus geprägten Philosophen, der in der Welt nur Schmerz und Illusion sieht, wird zum philosophischen Substrat der Denkweise und Ästhetik von Wagner: Der damals entstehende Der Ring des Nibelungen (1876), dazu Tristan und Isolde (1865) und auch Parsifal (1882) sind äußerst stark von Schopenhauers Pessimismus durchdrungen, auch wenn Wagner schließlich versuchen wird die Werke in eine positivere Richtung zu lenken. So erweist es sich jedoch als notwendig, wenn man sich in diesem undurchdringlichen Wald von Zeichen, Symbolen und Anspielungen etwas zurecht finden will. So sollte man sich trotz scheinbarer und trügerischer Einfachheit des Musikdrama von Wagner wenigsten etwas mit dem Denken des Philosophen vertraut zu machen, denn umso schneller und besser wird man dann mit klarem Kopf durch dieses Wald-Labyrinth leicht seinen Weg finden.
Seine Philosophie, die dem Menschen eine Wahlmöglichkeit innerhalb der Natur verweigert, stellt sich strikt gegen eine Transzendenz, die der Geschichte einen Sinn verleihen würde: Schopenhauer stellt sich damit auf die Antipoden der christlichen Eschatologie, für die die Perspektive des Jüngsten Gerichts der Welt ihre ganze Bedeutung gibt für eine historische Zukunft. Die Geschichte und das menschliche Abenteuer haben nach Die Welt als Wille und Vorstellung weder einen Ursprung noch irgendeinen Begriff, noch besondere Endgültigkeiten. Wir dürfen also in der geschichtlichen Welt weder Evolution noch Fortschritt mit Sinn sehen, sondern nur die endlose Ausdehnung eines ewig unerfüllten Verlangen, das sich völlig selbst ernährt und das auch erleidet was es hervorbringt. Das metaphysische Prinzip, das die Welt regiert, ist nach Schopenhauer immer ein unbefriedigtes Verlangen. Das Prinzipe von allem aber ist der Wille, der Wille zum Leben! Garantiert überhaupt nichts! Ganz im Gegenteil, nur die Einheit oder die Harmonie der Welt: Es wird tatsächlich ständig in die Individuen fragmentiert, in denen es objektiviert und verkörpert wird kraft dessen, wie der Philosoph es nennt principium individuationis (Prinzip der Individuation). Individuen sind keine autonomen und freien Realitäten, sondern nur zum Leiden verurteilte Manifestationen des universellen Willens, der sich durch diese Individuen, die sich gegenseitig zerreißen und töten! Sogar selbst verschlingen! Das Prinzip der Individuation gilt daher als das absolut Böse, gleichzeitig ist es nur eine Repräsentation, eine Illusion, von der wir uns befreien müssen und die der Philosoph mit einer Buddhistischen Weisheit entlehnten Metapher: Der Mâyâ-Schleier bezeichnet wird! Um dem Leiden zu entgehen, ist es notwendig, den Mâyâ-Schleier zu lüften, also dem Lebenswillen abzuschwören.
Ist es nicht das: Was Amfortas tut, wenn er sich weigert das Grals-Amt als das Prinzip des Lebens zu zelebrieren und Kundry im 3. Akt auf das Wort und den Gesang verzichtet, Ausdruck sowohl ihrer Sehnsucht als auch ihrer großen Kraft der Verführung? Sie will nichts weiter als eine einfache Dienerin in der Grals-Gemeinschaft sein! Der von Amfortas gewollte und von Kundry akzeptierte Tod ist nach Schopenhauer der Moment, wo „sich der Wille (…) vom Leben abwendet: Der Mensch erkennt dann seine Lustbegierden mit grossem Grausen und erkennt in ihr die Bejahung dieses Lebens. Der Mensch begibt sich freiwillig in einen Zustand der nur noch Entsagung, Resignation und wahre Gelassenheit und völlige Willenlosigkeit ist. Durch ihren Verzicht gelingt es Kundry, der Individuation und somit dem höllischen Kreislauf der Reinkarnationen zu entkommen, dem sie seit Anbeginn der Zeit unterworfen war. Die totale und ehrlich gesagt verblüffende Gleichgültigkeit des Orchesters zum Zeitpunkt ihres Todes hat keine andere Erklärung: Sie ist jenseits des principium individuationis angekommen und ihr Tod ist nichts anderes mehr als die Auslöschung aller Begierden und allem Wollen des Lebens. Dies nennen die Buddhisten, von denen Schopenhauer und Wagner glühende Verehrer waren: Nirvana (wörtlich: Aussterben).
Das Zerreißen des Mâyâ-Schleiers…
Wenn Amfortas und Kundry, jeder auf seine Weise in dem Drama von Wagner das unerträglichste Leiden des Menschen verkörpern, dann deshalb, weil sie diesem ständig ausgesetzt sind. Für Schopenhauer war dass die größte unerträglichste Manifestation, die stärkste gewalttätige und unwiderstehlichste des Willens im Prinzip der Individuation: Das ständige sexuelle Verlangen! Ohne Parsifal auf eine Illustration der Philosophie von Schopenhauer zu reduzieren, können wir sagen, dass Klingsors verzauberter Garten von Wagner als der Ort konzipiert wurde, an dem das Prinzip der Individuation vom Komponisten dem Egoismus gleichgesetzt wurde und in seiner ganzen herrlichen Kraft und seiner trügerischen Pracht bestätigt wird. Es ist zugleich das Reich der Begierde, des Lebenswillens und des Willens zur Macht. Der Zauberer hat tatsächlich den Heiligen Speer von seiner primären Funktion (er war ein heiliges Objekt im Dienst der Gemeinschaft des Heiligen Grals) abgelenkt, um ihn zu einem Instrument für die Eroberung persönlicher und selbstsüchtiger Macht zu machen. Aber wir werden am Ende des 2. Akt Zeuge eines spektakulären Moments sein, dem der großen Ernüchterung und dem Zerreißen des Mâyâ-Schleiers: Als Parsifal mit dem Heiligen Speer das Zeichen des Kreuz macht! Die vergängliche Pracht einer Welt von schmerzhafter Wollust bricht buchstäblich in sich zusammen und wir nehmen wahr, was hinter dem trügerischen Schleier von principium individuationis liegt: Eine Welt der Verwüstung, übersät mit den verblühten Blumen unserer Illusion.
Aber wenn es Parsifal gelingt den Mâyâ-Schleier zu zerreißen, dann nicht weil er sich auf dem Weg der Entsagung und des Todes begeben hat. Nein, es gibt tatsächlich ein positiveres Mittel um das Prinzip der Individuation zu überwinden: Es ist die Liebe! Wagner führt hier eine Unterscheidung ein, - die Schopenhauer sehr am Herzen liegt, die aber auch freilich in einem ganz anderen ideologischen Kontext steht – die in seinen ersten Opern und insbesondere in Tannhäuser (1845) skizziert wird. Es handelt sich um den Gegensatz zwischen: Eros-Liebe und Agape-Liebe! Am Antipoden des Eros finden wir den Agape-Liebe, also die Liebe, die sich im Mitleid manifestiert (christliche Caritas), eine Liebe in der sich der Einzelne der Identität bewusst wird, die ihn an seinen Nächsten bindet und somit erkennen wir auch das Gebot der buddhistischen Veden: Tat twam asi („du bist auch das“). In der Agape-Liebe verzichtet der Mensch auf seinen selbstsüchtigen Lebenswillen, verallgemeinert sich und erlangt so die höchste Weisheit. In diesem Sinne müssen wir die Prophezeiung von Parsifal verstehen: „Durch Mitleid wissend der reine Tor“. Paradoxerweise erlangt Parsifal durch den Kuss von Kundry den Zugang zu dieser höchsten Weisheit, dem Bewusstsein der Identität aller Wesen und ihres Leidens. So kann er den principium individuationis überwinden und den Speer, der umgelenkt wurde, um einem individuellen Willen zu dienen, wieder seiner primären Funktion zu zuführen: Die darin besteht, der Gemeinschaft zu dienen. Das wilde Kind, – dessen Verhalten an das des jungen Siegfried erinnert – das im 1. Akt einen Schwan tötet und auch Kundry heftig angreift, wird im 3. Teil des Triptychon zum Weisen. Der auch erkennt, dass alle Kreaturen – ob es die Ritter des Grals sind, Kundry, oder die Tiere und Blumen, die die Natur während des Karfreitagszauber (ohne Zweifel sind sie die Reinkarnation der Blumenmädchen von Klingsor) bedecken – an der Schöpfung in gleicher Weise teilnehmen. Es ist daher kein Zufall, dass Kundrys Kuss, durch den sich alles ändert, geometrisch im Zentrum des Dramas steht, das Wagner symmetrisch um diesen entscheidenden Punkt herum konstruiert.
Die Apologie des Mitleids, in der Nietzsche nur eine Geste der Schwäche und Dekadenz sah, ist auch der Punkt, an dem der Synkretismus von Wagner in Parsifal operiert: Mit den Anleihen aus dem Christentum (Nächstenliebe), der Philosophie von Schopenhauer und der buddhistischen Weisheit somit zusammenführt. Nebenbei sei bemerkt, dass Wagner in seinem opus ultimum eine Revision des Denkens von Schopenhauer vornimmt, dessen Pessimismus er teilweise zurückweist, wohl weil er unerschütterlich an die rettende Kraft seiner Kunst glaubt. Er zeigt in der Tat, dass das principium individuationis, das für ihn zum Paradigma des Egoismus und Utilitarismus geworden ist und das die ihn umgebende Welt der Dekadenz charakterisiert, auch anders als im Tod aufgehoben werden kann. Das heißt, indem sie den Egoismus aufgeben sollte und zu einer Religion zurückkehren, die ihre historischen Schlacken und ihre Dogmen abgeschüttelt hat: Eine Religion, die durch die Kunst gerettet wird!
Das Thema des unreinen Blut und die Frage des Rassismus in Parsifal!
Hier führt der Komponist einen gelinde gesagt zweifelhaften Begriff ein, indem er in den rassistischen Theorien von Arthur de Gobineau (1816-1882) eine Illustration finden wird, die ihn in den letzten Jahren seines Lebens beschäftigen wird, nämlich der Gedanke der Regeneration. Die Rückkehr der Heiligen Lanze zum Gralstempel, die mit dem Tod von Kundry zusammenfällt und den Gral wieder in seiner vollen Pracht zeigen wird, ist in Wagners Vorstellung als eine Verwirklichung der regenerierten Wiedergeburt gedacht. Sicher ist, dass der heutige Zuschauer angesichts dieser Problematik des unreinen Blut (im Gegensatz zum reinen Blut des Heiligen Grals) ein Unbehagen verspürt: Das Blut des Königs Amfortas ist befleckt, weil er mit Kundry ein erotisches Abenteuer hatte. Wenn im Libretto nichts ausdrücklich gesagt wird, dass Kundry eine jüdische Figur ist, so erinnert ihr Schicksal doch zweifellos an das des wandernden Juden, der bereits von Wagner in Der Fliegende Holländer behandelt wurde. Der dazu verdammt ist auf ewig ruhelos zu wandern bis er die Frau trifft, die ihn aus Mitleid vor seinem Fluch errettet: Er symbolisiert den Charakter von Ahasvar (der wandernde Jude) in der Legende die jüdische Diaspora. Es sollte auch nebenbei bemerkt werden, dass in einer der vielen literarischen Erscheinungen und Adaptionen, die Wagner von dieser Legende kannte Le Juif errant (1844) von Eugène Sue (1804-1857), in der Protagonist ständig von Herodias begleitet wird, von der Kundry, wenn wir Klingsor glauben wollen, eine Reinkarnation wäre.
Der rassistische und antisemitische Charakter von Wagners Bühnenwerken wurde nie endgültig bewiesen oder auch widerlegt. Außerdem ist die Frage seit einigen Jahren mit ziemlich lebhafter Polemik zwischen den besten Wagner-Spezialisten verbunden. Andererseits bietet der heftige antisemitische Inhalt einiger seiner theoretischen Aufsätze keine Zweideutigkeit und bleibt, wie Daniel Barenboim (*1942) kürzlich bemerkte, absolut unentschuldbar. Gewisse Äußerungen von Wagner zur Zeit der Komposition von Parsifal werfen einen besorgniserregenden Schatten auf dieses sogenannte Heilige Drama, wie in diesem folgenden Satz aus einem Brief an König Ludwig II von Bayern (1845-1889) vom 22. November 1881: „Ich betrachte die jüdische Rasse als ein angeborener Feind der reinen Menschlichkeit und alles Edle darin: Es ist sicher, dass wir Deutschen ihretwegen vernichtet werden und ich bin vielleicht auch der letzte Deutsche, der als Künstler dem Judentum bewusst gegenüber tritt, denn diese werden bald alles dominieren.“ Sicher ist, dass der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, von dem Wagner nur ein Vertreter unter vielen war, kann jedoch nicht mit der NS-Barbarei gleichgesetzt werden und auch die Idee des Genozids war Wagner wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen. Tatsache bleibt, dass Parsifal über seinen ausserordentlichen künstlerischen Reichtum hinaus eine unglaubliche Mischung der großzügigsten und gefährlichsten Ideen enthält und heute mit unendlicher Umsicht angegangen werden muss. Deshalb ist die Rolle des Regisseurs noch mehr als in den anderen Opern von Wagner sehr wesentlich: Zwischen allen Interpretationsspuren zu wählen, die das Werk natürlich selbst vorschlägt und es nicht zu entfremden, aber er hat keinen Fall das Recht sich auf eine gefährliche ideologische Ebene zu verirren.
PARSIFAL - 25. Januar 2023 - Grand Théâtre de Genève
Parsifal wandelt zwischen Dunkelheit und blutigen Wänden…
Die Opern von Wagner und insbesondere Parsifal sind wohl in allen möglichen Inszenierungen denkbar. Um nur einige zu nennen, die wir im Laufe der letzten zwanzig Jahren gesehen haben: Da sieht man Gurnemanz als einen allgewaltigen Bankdirektor mit seinen Aktionären vor einem riesigen offenen Geldschrank mit Massen von überflutenden Geldscheinen. Oder auch die ganze geheime Gralsgemeinschaft mit dem steckbrieflich gesuchten Amfortas lebt versteckt und zurückgezogen im tiefen südamerikanischen Urwald und handelt mit giftigen Drogen. Warum auch nicht! Kundry erwacht unter einer Bank im Central-Parc in New York mitten im eiskalten Winter. Eine besondere schöne Erinnerung: Kundry als übersinnliche Verführerin mit nur feiner durchsichtiger schwarzer Wäsche bekleidet und zeigt sie ihre vollen runden Brüste, usw.…! Man kann Parsifal mit allen ermöglichen Soßen genießen! Doch gibt es jedoch nicht immer die Garantie für einen guten Geschmack. Ohne eine tiefschürfenden Inszenierung, einer erleuchtenden neuen Vision und einer tiefgreifenden Botschaft wird das Ganze uninteressant und fade, langweilig und besonders gefährlich.
Vor vielen Jahren hat uns einer der vielen fanatischen Jünger des Meisters im Walhalla von Bayreuth gesagt: Wir müssen uns unbedingt eine schon mythische Produktion von Parsifal im Staatstheater Mannheim ansehen. Gesagt! Getan! Wir sahen eine äußerst kunterbunte Produktion mit alternden Pappkulissen von 1957 (!) im Jahre 2007 (?)! Wir gingen verstört, verärgert und sprachlos nach der Vorstellung ins Hotel zurück und fragten uns: Was wahr da mythisch? Was war da einmalig? Nichts! Absolut nichts! Nur Fadheit! Später verstanden wir, dass das ein sogenannter jährlicher Pilgerort für reaktionäre Regietheater-Gegner geworden ist. Natürlich kann nicht jede Inszenierung des Regie-Theaters immer gut gelingen! Aber dagegen eine verstaubte Pappmaché-Geschichte von Anno-Zopf jedes Jahr zu programmieren, ist für uns nichts weiter als reine Demagogie und Menschen-Verdummung im wahrsten Sinne des Wortes. Das Theater ist unserer Meinung eine aktuelle lebendige Kunstinstitution und kein vermottetes Museums-Archiv. Auch der „Meister“ dreht sich nicht im Grabe um! Alles Blödsinn und dummes Gerede!
Dagegen sahen wir vor einem Monat hier in Paris in einer Kino-Aufzeichnung: Parsifal aus der Wiener Staatsoper in der Inszenierung des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov. Das war eine Offenbarung für uns! Das ging in alle Eingeweide und brachte eine schlaflose Nacht! Hier war eine Vision…, eine Botschaft… ein tiefes Schürfen bis an die Wurzeln des Werks! Ein völliges Überdenken und Erneuern! Auch die politischen Aspekte wurden voll herausgearbeitet. Denn Wagners Werk ist mehr als politisch: Politisch im positiven wie auch leider im negativen Sinne! Dazu alles völlig natürlich ohne verkünstelten Zwang. Eine ungemein musikalische Regie, in der die Musik fühlbar alles durchflutete…
Man verzeihe uns für das lange Vorwort, aber jetzt geht’s los: Blutbad in Montsalvat…
Ja! Die neue Inszenierung von Parsifal des deutschen Regisseurs Michael Thalheimer am Grand Théâtre de Genève ist besonders blutig...! Sehr blutig…! Aber auch sehr ästhetisch! Wohl ein Paradox? Schmutziges Blut? Reines Blut? Ästhetisches Blut? Unter gewissen strengen Aspekten ist diese szenische Lesart grausam streng. Die Verletzung von Amfortas betrifft hier die gesamte Bevölkerung von Montsalvat: Die Ritter und Knappen bewegen sich alle schwer in blutgetränkter Kleidung und zeigen ein unberechenbares Verhalten, wie etwa beim Anmalen von Kreuzen an die schon blutigen Wände mit ihrem eigenen Blut im Finale von 1. Akt. Wir würden sagen es sind sogenannte Zombies, lebendige Tode, die da herum irren. „Déjà vue“ in amerikanischen Horrorfilmen! Angeführt werden sie von Gurnemanz, der auf Krücken über die Bühne taumelt und dessen mühsames Hinsetzen diese schmerzhafte und verstörende Atmosphäre noch mehr bestätigt. Hier ist ein Mann, der in seinen Bewegungen sehr behindert ist, der am ganzen Körper zittert und bei der geringsten Gelegenheit stürzen würde ohne seine Krücken. Selbst Kundry kritzelt sogar im 3. Akt Slogans mit Blut an die Wand, die von „Durch Mitleid wissend…“ über „der reine Tor…“ bis zu dem Wort „Parsifal“ reichen. Alles spielt sich in einer ebenso minimalistischen wie auch imposanten Umgebung ab, die von dem deutschen Bühnenbildner Henrik Ahr entwickelt wurde: Die aus zwei großen rechteckigen Blöcken besteht, die sich leicht auseinander bewegen, um als Mittelpunkt für die ersten Auftritte der Protagonisten zu dienen. Die cremefarbenen Kostüme von der deutschen Kostümbildnerin Michaela Barth, so einfach sie auch sind, ermöglichen sie doch das Blut während der Handlung gleichmäßig aufzutragen. Die Bewohner des verwünschten Schloss sind unterschiedlich gekleidet: Klingsor als alternder Rockstar, Kundry im roten oder schwarzen Hosenanzug, je nachdem wie stark ihre Verführung ausfallen muss, während die Blumenmädchen anschmiegsame silberne Roben tragen, die den 1920er Jahren sehr nahe sind, aber auch haben sie verschiedene Prothesen und Anzeichen von unschönen Beulen, Knoten und anderer Behinderungen. Besser gesagt für uns waren es sogenannte „Monster“-Blumen: Mit überbreiten Hüften, riesengroßen Brüsten, großen Buckeln und vielen anderen Unförmigkeiten!
Blut, Blut, viel Blut! Allerdings gelangten wir schnell in eine Art Blut-Überdruss, der den Eindruck an einen Besuch in einem übervollen Krankenhaus für Kriegs-Schwerverletzte erinnernde oder eines üblen Kinobesuch mit zweitklassiger Zombie-Film-Atmosphäre und dem lächerlichen Anblick von den ruckartigen Bewegungen der vielen Krüppel entstehen lässt. Aber dieses Blutbad des 1. Akt hindert glücklicherweise nichts daran, die große Vorfreude für die Gralszeremonie zu genießen. Wenn Parsifal und besonders Gurnemanz nach vielen schmerzhaften Verrenkungen sich am Rande des Orchestergrabens niederlassen und sich dem Publikum zu zuwenden. Kein Schwan, der heute Nacht von Parsifal getötet wurde, kein Gral, außer einem grellen Lichtschein in der Mitte der Bühne.
Der 2. Akt ist weniger blutig-knallrot und klassischer im Sinne des Regie-Theaters: Klingsor zeigt sich gegen das Licht in der schmalen zentralen Öffnung zwischen den beiden Rückwänden. Parsifal hat die Heilige Lanze natürlich zurück erobert, aber Kundry tötet Klingsor schließlich mit mehreren Pistolenschüssen (?). Zurück zum ständig fließenden Blut der Wände für den 3. Akt, wo es Kundry ist, die nach ihren letzten Worten: „Dienen! Dienen!“ tatsächlich damit beschäftigt ist, die blutroten Graffitis an den Wänden abzuwischen und dann in schnellen hektischen Bewegungen ohne jeden Sinn alles blutig zu verschmieren. Gewissermaßen sorgt sie für eine etwas alberne stumme Unterhaltung auf der Bühne, indem sie schnell mit einem blutigen Pinselstrich die Füße von Parsifal! wäscht. Blut! Überall Blut!
Le Grand Théâtre de Genève und sein Co-Produzent, die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg sind ein riskantes Wagnis eingegangen, aber es ist dennoch enorm gelungen, denn von den sieben Hauptrollen wurden sechs zum ersten Mal von den jeweiligen Sängern verkörpert. Nur die deutsche Mezzo-Sopranistin Tanja Ariane Baumgartner hat schon mehrmals die Rolle der Kundry interpretiert, eine Rolle die sie als „wie eine Achterbahnfahrt“ beschreibt. „Die Schwierigkeiten von Kundry ist sowohl musikalisch“, erklärt die sympathische Sängerin, „weil ich im 1. Akt die Stimmlage vom Mezzo bis zum großen dramatischen Sopran singe. Kundry ist auch schwer zu spielen, weil sie so viele Frauen in sich hat und auch in so vielen Facetten“. Warm und verzaubernd in den tiefsten Tiefen, leuchtend in den extremen Höhen und perfekt ausbalanciert zwischen den beiden Stimmlagen, scheint Tanja Ariane Baumgartners Stimme besonders gut für die wechselnde Natur ihres Rollen-Charakters geeignet zu sein. Baumgartner bewohnt gewissermaßen Kundry und ihre Bühnenpräsenz ist in allen Variationen ihres Bühnencharakters intensiv und eingängig.
In der Rolle des Parsifal lieferte der schwedische Tenor Daniel Johansson eine gemessene Interpretation ab, solide in der ganzen Bandbreite, aber keineswegs übergewaltig und protzig. Trotz seiner lustigen „Unterwäsche“-Bekleidung, die nicht gerade intuitive an ein messianisches Königtum erinnerte, schaffte es Johansson seinem Charakter eine gewisse menschliche Würde zu verleihen und das ist alles zu seiner Ehre. Vor allem aber war seine Stimme für uns die eindrucksvollste Entdeckung des Abends: Solide und stark in der Basis, aber nie ein brüllender Wagner-Held, nein ganz im Gegenteil er baute seine Rolle mit wunderschönen lyrischen Tönen auf. So sollte man Wagner interpretieren! Warum aber Parsifal im 3. Akt mit einem grimassenhaften Clownsgesicht erscheinen muss? Einer der vielen Rätsel des Abends! Mein Nachbar antwortete lakonisch in der Pause: „Das steht wohl in den Sternen…“. Nein das steht nicht in den Sternen, das steht beim Horror-Spezialisten aus Hollywood: Der böse Clown mit dem übergroßen schwarzen erschreckenden Maul…, der Schrecken aller kleinen und großen Kinder ist Pennywise, the Dancing Clown (1986) Film von Stephan King (*1947).
Aber das wahre Wunder dieses Parsifal ist wohl der deutsch-ägyptische Bass Tareq Nazmi in der Rolle des Gurnemanz. Seine Stimme bleibt in den samtigen Tiefen so souverän und großzügig, desgleichen in den Höhen strahlend-leicht und überaus wirkungsvoll. Obwohl er gewissermaßen den ganzen Abend in zwei Teile gebogen ist und so weiter auf seinen zwei Krücken mühsam laufen muss. Wir kennen ihn schon von der Bayerischen Staatsoper München, wo er viele Rollen seines Fachs mit viel Erfolg gesungen hat. Seit einiger Zeit wendet er sich auch dem Wagner-Fach zu! Seine körperliche und stimmliche Leistung ist so erstaunlich und einmalig, dass ihm selbst der zurückhaltenste Zuschauer überaus herzlich applaudierte. Das ist wohl der Anfang einer großen internationalen Karriere!
Die beiden Baritone: Der englische Sänger Christopher Maltman als Amfortas und der deutsche Sänger Martin Gantner als Klingsor verkörpern ihre Charaktere mit viel Überzeugung und projizieren ihre Stimmen mit gewaltiger Energie. Maltman ist sehr ausdrucksstark und kraftvoll, findet eine natürliche Balance zwischen dem Mann, der ein grausames und extremes Leid erdulden muss und der auch bereitwillig seine Selbstmordgedanken zu äußern. Somit bereitwillig riskiert die gesamte Ritterschaft mit sich in den Abgrund zu ziehen! Die absolute Inkarnation des Bösen und Gewalttätigen wird in vielen Farbnuancen von Gantner extraordinäre interpretiert.
Der 1. und 2.Gralsritter wurde von Louis Zaitoun, Tenor, sowie von William Meinert, Bass ritterlich gesungen.
Die verbeulten und verformten Blumenmädchen machten den vergeblichen Versuch mit großem sinnlichen Eklat und viel stimmlicher Präsenz den Helden des Abends zu verführen. Jedoch uns haben sie mit ihren wunderschönen Stimmen vollkommen überzeugt: Julieth Lozano, Sopran; Ena Pongrac, Mezzo-Sopran; Tineke van Ingelgem, Sopran; Louise Foor, Sopran; Valeriia Savinskaia und Ramya Roy, Mezzo-Sopran.
Auch in den kleinen Rollen waren exzellente Sänger am Werk. Die Knappen wurden von Julieth Lozano, Sopran, Ena Pongrac, Mezzo-Sopran; Omar Mancini, Tenor und José Pazos, Tenor gesungen.
Eine feine Darbietung des Choeur du Grand Théâtre de Genève unter der Leitung des englischen Chordirektor Alan Woodbridge, während der englische Dirigent Jonathan Nott an der Spitze des Orchestre de la Suisse Romande für eine ordentliche und aufmerksame Leitung sorgt, aber eher oft ohne jegliche ausgeprägte farbliche Kontraste oder besondere dramatische Ereignisse. Wir hören vom Beginn des Vorspiels an eine vor Details strotzenden Partitur, die ohne viel übertriebenes Klingklang-Lametta vorgetragen wird. Auf jeden Fall weiß der Dirigent, wie er sich in den Dienst der Protagonisten auf der Bühne stellen kann, indem er die Lautstärke im Graben mäßig klingen lässt um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen.
Wie schon gesagt die Interpretation der gesamten Sänger-Besetzung vor ein außergewöhnlicher großer Glückstreffer und jedes renommierte internationale Opernhaus einschließlich die Bayreuther Festspiele sollte das absolut als Vorbild nehmen.
Zur Inszenierung möchten wir noch einen Satz hinzufügen: Wenn man schon als einzigen Leitfaden die kostbare Lebensquelle Blut gewissermaßen als Konsumware darstellt, sollte man auch in seiner Vision und Darstellung bis zum Ende des Tunnels gehen. Das Blut hat in Verbindung mit Wagner und insbesondere Parsifal hat eine erdrückende und unauslöschliche Vergangenheit: Reines Blut…! Unreines Blut…! Unserer Meinung fehlt hier ein aufklärendes pädagogisches Ende! Denn dieses Blutbad könnte man falsch verstehen! Letztendlich einen Rat an diejenigen, die vom Anblick des Blut verstört sind: Verzichten Sie also… obwohl die Musik Sie mit geschlossenen Augen mitreißt. Aber leider ist das sehr trügerisch, denn auch mit geschlossenen Augen verfolgt sie dieser bittere Geschmack von Blut…! Blut…! Überall Blut…! (PMP/31.01.2023)