Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier, 200 Jahre Italienerin in Algier - Rossini Modern, IOCO Aktuell, 28.10.2013

Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier, 200 Jahre Italienerin in Algier - Rossini Modern, IOCO Aktuell, 28.10.2013
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Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen © MiR Musiktheater im Revier
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen © MiR Musiktheater im Revier

Belcanto und Bühneneuphorie machen Seele stark

Gioacchino Rossini, 1792 - 1868, entging nur knapp dem Kastratendasein. Bekannte der Eltern empfahlen wohlmeinend, seine schöne Knabenstimme durch Kastration zu erhalten. Seine Mutter empfand diese Vorschläge jedoch nicht wirklich überzeugend und so blieb Rossini´s Körper unangetastet. Doch nicht nur stimmlich war Rossini ein Wunderknabe. Er war auch kompositorisches Ausnahmetalent wie Lebenskünstler: Mit 12 Jahren schrieb Rossini erste Kompositionen für Violinen, Violoncello und Kontrabass. 1813, mit 18 Jahren schrieb er eine erste, wenn auch wenig erfolgreiche Oper Demetrio e Polibio. Die Oper Italienerin in Algier (L´italiana in Algeri) komponierte Rossini mit gerade einmal 21 Jahren in weniger als vier Wochen. 1829, mit gerade einmal 36 Jahren, schrieb Rossini sein letztes Werk, Wilhelm Tell. 1830 wurde er durch eine bedeutende Rente des französischen Staates für den Rest seines noch langen Lebens finanziell unabhängig.

MiR / Italienerin in Algier - Ensemble © Pedro Malinowski
MiR / Italienerin in Algier - Ensemble © Pedro Malinowski

Die Opera Buffa und exotisch morgenländische „Türkenopern“ voller Klischees und Fantasien waren zu Rossinis Zeit auf ihrem Höhepunkt. Gerade einmal 21 Jahre alt war Rossini, als er 1813 vier Opern komponierte, einschließlich seiner Italienerin in Algier (L´italiana in Algeri). Genau 200 Jahre später begeistern nicht nur Wagner und Verdi auf den Bühnen der Welt, sondern auch - ein geradezu frevelhafter Vergleich - Gioacchino Rossini mit seiner Italienerin in Algier. Obwohl dessen Entstehungsgeschichte wie Handlung kurz und verwirrend ist: Rossini, ein genialer Improvisator, war aus Terminnot gezwungen, das Werk schnellstens zu komponieren; ein bereits vorliegendes Libretto bildete das Gerüst. Komplexe oder soziokulturelle Figurenzeichnungen waren für dieses Stück nicht angesagt. Es galt durch westöstlichen  Sitten- und Wertevergleich zu verwirren, zu polarisieren und Theaterbesucher mit feiner wie handfester Situationskomik zu

Regisseur David Hermann zeigt in seiner spektakulären Inszenierung im Musiktheater im Revier einen Rossini Modern. Orientalisches Librettogeklingel wie Algier, Mustafa, Zulima dient in seiner Inszenierung nur als Metapher. Nicht Harem oder Turban bewehrte Muslime dominieren die Bühne, sondern ein irgendwo im afrikanischen Dschungel inmitten von Palmen abgestürztes Passagierflugzeug. Pilotenkanzel, Tragfläche und aufgerissener Passagierraum,  spektakulär wie aufwändig und originalgetreu nachgebaut, bieten furiosen Regieeinfällen zahllose Optionen. So dient ein Triebwerk als Gefängnis des Sklaven Lindoro. Nur Bey Mustafa trägt meist eine ordensbestückte Uniformjacke. Die anderen Solisten agieren zwischen Flugzeug und Bühne in flotter Alltagskleidung. Der allgegenwärtige Chor agiert Dschungel-konform in braunen Sackleinen-Gewändern, die Gesichter hinter fantasievollen Gesichtsmasken verborgen.

MiR / Italienerin in Algier / vlnr: Seo, Sieloff, Kamalova, Borysiewicz und abflugbereites Flugzeug mit Passagieren © Pedro Malinowski
MiR / Italienerin in Algier - vlnr: Seo, Sieloff, Kamalova, Borysiewicz und abflugbereites Flugzeug mit Passagieren © Pedro Malinowski

IOCO erlebte am 27. Oktober 2013 nicht die Premiere, aber ein exzellent eingespieltes Orchester wie Ensemble: Schon die sensibel filigran gespielte Ouvertüre, am Pult Valtteri Rauhalammi, illustrierte lebensfrohe Euphorie. Das Neue Philharmonie Westfalen zeichnete danach heitere Bilder buffoneske Leichtigkeit von quirliger Dynamik bis hin zu sanften Piani. Selbst nicht ungefährliche Hörner-Soli gelingen in wohltuend lyrisch weicher Färbung. Das Ensemble bewies große Vertrautheit mit Komposition und Regie; stimmlich sicher produzierte es lebendige Spielfreude. Allen voran Krzysztof Borysiewicz, der als Macho Mustafa, ohne morgenländisches Geplänkel in Galauniform und mit rotem Gesichtsstreifen eher indianisch wirkend, mit prächtigem Bassbariton, virtuosen Triolen und darstellerischer Präsenz dem Abend Charakter gibt. Der junge Tenor Hongjae Lim zeigt in seiner fordernden Tenorpartie des Lindoro keine Höhenangst; Spitzentöne kein Problem – rund und kräftig ausgesungen, immer. Carola Guber brachte schon in ihrer Auftrittsarie als sichtlich wohl geformte Isabella mit orientalischen Regungen und koloraturensicherem, wohltimbriertem Mezzosopran Zuschauer wie Mustafa in Wallung.

Pere Lachaise in Paris, Grab von Gioacchino Rossini © IOCO
Pere Lachaise in Paris, Grab von Gioacchino Rossini © IOCO

Als eine Art Schamane verleiht Mustafas Diener Haly (Dong-Won Seo) der Inszenierung  komisch deftige Mystik. Der junge Pjotr Prochera überzeugte als Taddeo mit gepflegtem Bassbariton und seh- und hörbarem Zorn über seine Ernennung zum KaimakanMustafas Gattin Elvira (Alfia Kamalova) und Zulma (Anke Sieloff) runden die frische Ensembleleistung stimmlich wie darstellerisch ab. In wunderbarer Harmonie gestaltete das Ensemble das komplexe Kettenfinale des 1. Aktes, von Rossini mit allen kompositorischen Effekten, von lyrischer Phase über onomatopoetische staccato-Rufe (cra, cra, din, din, bum, bum usw) bis zu überraschender Modulationen ausgestattet: Die konfuse Seelenstimmung der Protagonisten wird stilvoll schön lautmalerisch beschrieben.

Ein kurzweiliger Abend im Musiktheater im Revier mit einem humorig modernen Rossini endet indem Isabella, Lindoro, Taddeo und andere Passagiere den Bühnen-Jet besteigen, eine perfekt livrierte Flugzeug-Besatzung an Bord die Sicherheitsvorgaben demonstriert und sich der Vorhang zu den aufbrausenden Triebwerksgeräuschen des startenden Flugzeuges schließt. Viel Beifall und frohe Stimmung füllen den Zuschauerraum.

IOCO / Viktor Jarosch / 28.10.2013

Letzte Vorstellungen 2013/14:   31.Oktober 2013;  17.11.2013; 22.11.2013; 25.12.2013

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