Freiburg, Opéra Factory, THE RAPE OF LUCRETIA - B. Britten, IOCO

THE RAPE OF LUCRETIA - Freiburg: Im Herbst 1993 hat Klaus Simon neugierige und begeis terungsfähige Kommilitoninnen und Kommilitonen um sich geschart und mit der „Young Opera Company“ den Grundstock für die heutige Opera Factory Freiburg geschaffen

Freiburg, Opéra Factory, THE RAPE OF LUCRETIA - B. Britten, IOCO
OPERA FACTORY FREIBURG @ M- Doradzillo

Wo Grenzen der Kunst ausgetestet und Musikdramatik auf höchstem Niveau zelebriert wird: Die Opera Factory Freiburg feiert mit einer mitreißenden Aufführungsserie von Benjamin Brittens „The Rape of Lucretia“ im Freiburger E-Werk ihr dreißigjähriges Bestehen.

von Peter Schlang

Benjamin Britten Büste in seiner Heimat Aldeburgh @ IOCO

Im Herbst 1993 hat Klaus Simon, damals noch Student an der Freiburger Musikhochschule, neugierige und begeisterungsfähige Kommilitoninnen und Kommilitonen um sich geschart und mit der „Young Opera Company“ den Grundstock für die heutige Opera Factory Freiburg geschaffen. Aus diesem Kreis die Grenzen der Musik und ihrer Dramaturgie austestender und risikobereiter junger Muszierenden hat sich im Laufe der Jahre ein höchst professionelles und experimentierfreudiges SpezialistInnen-Ensemble entwickelt, das für Opernproduktionen von allerhöchster Qualität steht. Zunächst von der öffentlichen Hand nur zögerlich unterstützt, erfährt die Opera Factory Freiburg seit einigen Jahren eine angemessene und ausreichende finanzielle Förderung durch Stadt, Land und weitere Sponsoren. Auch dadurch konnte sie nach und nach zu dem prägenden, innovativen und schöpferisch kaum zu bremsenden Motor der zeitgenössischen Klassikszene und zu einer der angesehensten freien Musiktheaterformationen Deutschlands werden, der bzw. die aus dem Musikleben Freiburgs, Südbadens und dessen Nachbarregionen nicht mehr wegzudenken ist.

 Dass für die 1993 gegründete „Young Opera Company“ ein Jahr später ein Trägerverein gegründet und damit ein rechtlicher Rahmen geschaffen wurde, nimmt die Opera Factory Freiburg zum Anlass, dieses „runde Jubiläum“ standesgemäß mit einer neuen Produktion zu feiern. Dazu haben Klaus Simon und sein Dramaturgie-Team Benjamin Brittens 1946/1947 entstandene Kammeroper The Rape of Lucretia ausgewählt. Das ist nicht nur eine Reverenz und Erinnerung an das Gründungsjahr der „Young Opera Company“, deren erste Produktion eben Brittens Lucretia war. Klaus Simon begründet diese Entscheidung auch damit, dass er von der Tiefe und Wirkung von Brittens dritter Oper noch immer regelrecht gefangen sei, denn diese böte eine geradezu unglaubliche Musik, „für die es sich allein schon gelohnt habe, Musiker geworden zu sein.“

The Rape of Lucrecia @ Marc Doradzillo

Schließlich dürfte aber auch die für die Opera Factory Freiburg wie maßgeschneidert wirkende Besetzung des Vokal- wie des Instrumental-Ensembles ein Auswahlgrund gewesen sein. Diese besteht aus zwölf Instrumentalisten, die sich aus je fünf Bläsern und Streichern sowie Schlagzeug und einer für den Klang und musikalischen Ausdruck der Partitur sehr bedeutsamen Harfe zusammensetzen, womit der Komponist die Kleinstfassung eines Sinfonie-Orchesters geschaffen hat.

Dazu gesellen sich im Vokalbereich vier Sängerinnen und Sänger, von denen je eine/r die Rolle des in der Tradition des antiken Chores beobachtenden und kommentierenden Kollektivs bzw. des im barocken Oratorium die Handlung erläuternden und vorantreibenden Evangelisten übernimmt. Schließlich kommt in dieser Freiburger Produktion bzw. in deren Regie-Konzeption noch ein aus sieben jungen Frauen bestehender „stummer Bewegungschor“ zum Einsatz, welcher die Handlung tänzerisch-pantomimisch kommentiert, bebildert und teilweise auch ergänzt.

Die Premiere dieser Jubiläumsproduktion fand am Samstag, dem 5. Oktober 2024 im Freiburger E-Werk, Foto oben, statt, welches seit Langem die Heimstatt der Opera Factory für größere Projekte bildet. Weil der Rezensent an diesem Abend jedoch anderweitig gebunden war, liegen dieser Rezension die Eindrücke und Beobachtungen von der zweiten Aufführung am 8. Oktober zu Grunde. Diese war äußerlich von dem Umstand geprägt, dass Klaus Simon krankheitsbedingt die musikalische Leitung an seinen Assistenten Yves Scheuring abgeben musste, während die Klavierbegleitung der Rezitative von Jacob Gröper übernommen wurde. Es spricht für die solide, ja exzellente Nachwuchsförderung der Opera Factory und ihres Leiters, dass dieser kurzfristige Wechsel in der musikalischen Leitung problemlos gelang. Mehr noch, der junge Dirigent meisterte seine Aufgabe bravourös, ohne dass ein Koordinationsproblem zwischen Orchester und Bühne aufgetreten wäre oder man der Aufführung eine musikalische Schwäche vorhalten müsste. Ganz besondere Bewunderung verdient dies, wenn man weiß, dass die beiden jungen Musiker erst am Vormittag von Ihrer Berufung und Verantwortung erfahren haben, ohne dass der Dirigent vorher die ganze Oper dirigiert hätte oder der Pianist gar das Stück gekannt hat.

The Rape of Lucrecia @ Marc Doradzillo

Thematisch widmet sich das 90 Minuten dauernde Werk, dessen englischer Titel mit „Die Schändung Lucretias“ ins Deutsche übersetzt werden kann, dem breiten und zeitlosen Thema des (weiblichen) Ehrverlusts, aber eben auch des noch immer unsagbaren Leid(en)s von Frauen, das ihnen durch ein gewaltbereites und von seiner eigenen Dominanz und Höherwertigkeit überzeugtes Patriarchat zugefügt wird. Neben dem vorzüglichen, sehr ansprechend gestalteten und äußerst informativen Programmheft greift auch ein bei den Aufführungen verteiltes Informationsblatt des Bewegungschores die vielfach ausgeübte Gewalt gegen Frauen und damit die Aktualität des Stückes auf und wirbt um Verständnis für die davon betroffenen Frauen und um finanzielle Unterstützung für zwei entsprechende Hilfsprojekte.

Ausgangspunkt der Handlung ist die Diskussion von Offizieren im antiken Rom des fünften vorchristlichen Jahrhunderts über die Treue ihrer Frauen und ihre Zweifel daran.  Tatsächlich wurden einige der Frauen beim Ehebruch ertappt, während die tugendhafte Lucretia der Verführung widersteht. Einer der gehörnten und daher auf Lucretias Ehemann Collatinus neidischen Ehemänner macht dem als Frauenheld geltenden und als ziemlichen Machotypen bekannten etruskischen Prinzen Tarquinius den Vorschlag, die Sittentreue und Ehrenhaftigkeit Lucretias noch einmal einer ernsthaften Probe zu unterziehen. Lucretia bleibt aber erneut allen Verführungsversuchen gegenüber standhaft und beweist ihre eheliche Treue. Darauf wird sie von dem seines Stolzes beraubten Tarquinius vergewaltigt, was ja schon im Titel der Oper anklingt. Lucretia berichtet das ihr Widerfahrene tags darauf ihrem von ihr eilends nach Hause gerufenen Gatten Collatinus und nimmt sich noch während dieser „Beichte“ das Leben. Die Zeugen einschließlich der beiden Solo-Choristen preisen die Tugendhaftigkeit Lucretias und bringen sie in einen christlich-verklärenden Zusammenhang mit dem vorbildlich-keuschen Leben und Handeln der Gottesmutter Maria.

The Rape of Lucrecia @ Marc Doradzillo

Das Regie-Duo aus Joachim Rathke und Claudia Spielmann-Hoppe, die nicht nur wie im Programmheft irrtümlich angegeben für die Ausstattung der Oper verantwortlich zeichnet, sondern an der gesamten Konzeption gleichberechtig mitgewirkt hat, findet für diese wie erwähnt leider zeitlose Handlung und deren Thematik eindrucksvolle, äußerst theaterwirksame und schlüssig-eingängige Bilder. Dazu gehört der kluge und gleich mehrfach wirksame Einfall, die Darstellerin des Female Chorus, die anfänglich noch etwas unsicher wirkende, dann aber die diese schwere Rolle vorzüglich und durchweg sicher gestaltende Sopranistin Siri Karoline Thornhill, und den Darsteller des Male Chorus, den in allen Facetten fabelhaften und sich zum Solisten des Abends aufschwingenden Tenor Daniel Johannsen, als Team eines christlichen Fernsehsenders zu filmischen Berichterstattern und Kommentatoren des Geschehens zu machen. Diese Idee liefert dem Publikum nicht nur eine mögliche Erklärung und einen schlüssigen Beweis für die christliche Umdeutung von Lucretias Schicksal durch Britten und seinen Librettisten Ronald Duncan sowie die dahinter verborgene Vereinnahmung von Lucretias Tugend- und Standhaftigkeit und deren Verklärung zum Reinheitsideal durch die Katholische Kirche - ungeachtet ihrer eigentlich von der Kirche geächteten Suizids. Vielmehr ermöglicht dieser Regiekniff Regie und Darstellern auch weitere Verweise auf aktuelle Zustände und Themen. So wird man auf fast schon erschütternde Weise an die Einschränkung und Bedrohung der Medienfreiheit in Diktaturen und Kriegsgebieten erinnert, wenn der als Geheimpolizei agierende Bewegungschor (Choreografie: Stefanie Verkerk) den wie Kriegsreporter ausgestatteten und durch Helme und schuss-sichere Westen geschützten Fernsehreportern Kamera und Mikrofon entwendet und sie in Fesseln legt. Auch die zwischen den Sängerinnen und Sängern und dem im hinteren Bühnendrittel platzierten Orchester aufgespannte Projektionsfläche illustriert mit behutsam eingestreuten Bildzitaten und Filmsequenzen das vielfältige Thema von Gewalt, Krieg und Terror, vor allem, aber nicht nur, gegen Frauen.

The Rape of Lucrecia @ Marc Doradzillo

Die ganz in weiß gekleideten drei Frauen - das sind neben Sybille Fischer als verletzlich-sensible wie glaubhaft widerstrebende Titelheldin, deren ehemalige Amme und jetzige Dienerin Bianca in Person der zweiten Altistin Barbara Ostertag und die junge, äußerst verheißungsvolle Sopranistin Leonor Pereira Pinto als Magd Lucia - kontrastieren auf den ersten Blick etwas plakativ mit den schwarzen Uniformen und Herrschafts-Gewändern nachempfundenen Kostümen der drei männlichen Rollen. Bei genauerer Betrachtung verweist diese farbliche Gegenüberstellung aber nicht nur auf antike und andere historische Vorbilder und Verwandtschaften, sondern dient auch der theaterwirksamen Verfremdung und Verdeutlichung von charakterlichen und geschlechterspezifischen Eigenschaften. Ob es dazu bei der Vergewaltigungsszene tatsächlich eines (roten) Apfels als Symbol der Verführung und (Un-)Schuld gebraucht hätte, mag eine Bagatellfrage sein.

Darstellerisch-sängerisch stehen die drei männlichen Solisten ihren Kolleginnen in nichts nach, wobei das Trio rein äußerlich und altersmäßig nicht ganz zusammenzupassen scheint. So wirkt der dem Freiburger Ensemble seit dessen Gründung verbundene Bariton Ekkehard Abele als Junius ungeachtet seiner stimmlichen Prägnanz und Sicherheit für seine Rolle etwas zu alt. Dies gilt vor allem im Vergleich zu seinem Konkurrenten Collatinus, dem Ehemann Lucretias, dem der gerade mal 23jährige Bassist David Rother zwar enormes stimmliches Potenzial verleiht, es aber altersmäßig und darstellerisch schwer hat, das Publikum von seiner Liebe zu Lucretia und erst recht von einer glücklich-treuen Ehe mit ihr zu überzeugen. Diese Besetzung darf wohl, genau wie die des erst 27 Jahre alten Baritons Ejnar Colak als zur Rolle passendem ungestümen und unter erheblichem Kontrollverlust leidenden Tarquinus, der Suche der Opera Factory nach passenden Ensemblemitgliedern und der Förderung von verheißungsvollem Nachwuchs zugeschrieben werden. Und wie gut sich dieser zu den „alten Häsinnen und Hasen“ gesellt, zeigt sich auf eindrucksvolle und teils sehr berührende Weise bei den diversen Ensembleszenen, etwa den Quartetten und dem hinreißenden Sextett in der Schlussszene - dort wie auch an anderen Stellen in beispielhaftem Zusammenspiel mit dem Orchester bzw. dessen Soloinstrumenten.

Diese an sich lobenswerte Vorgehensweise und pädagogisch kluge Altersmischung lässt sich auch bei der Holst Sinfonietta, dem Residenz- und Haus-Ensemble der Opera Factory, beobachten. Deren bei dieser Produktion zwölf Mitwirkende bringen unter der erwähnt souveränen Leitung ihres so überraschend wie früh zum Einsatz gekommenen „Abend-Spiel-LeitersYves Scheuring die höchst farbige, zahlreichen Musikstilen und -epochen verpflichtete, anspruchsvolle, ja stellenweise in Dynamik und Harmonik recht herausfordernde Musik Brittens auf gestalterisch überzeugende Weise und mit ungebremster Lebhaftigkeit zum Klingen und erweisen sich als absolut sängerfreundliches Begleit-Kollektiv. Dabei unterstreichen sie zusammen mit den acht Sängerinnen und Sängern eindrucksvoll die vielfältigen orchestralen und vokalen Effekte von Brittens Musik, die Momente des bis ins vierfache Pianissimo reichenden Fast-Verstummens bis zu regelrechten Klang-Eruptionen bereithält.

So verbindet sich nach diesem eindrucksvollen Dienstagabend im dafür bestens geeigneten Freiburger E-Werk der Glückwunsch zu dieser gelungenen Jubiläumsproduktion mit der Hoffnung auf viele weitere erfolgreiche und wie bisher produktive Jahre der Freiburger Opera Factory – für sie selbst und ihre umtriebigen Gestalter und Mitwirkenden, aber auch für die vielseitige Kulturstadt Freiburg und deren aufgeschlossenes, neugieriges Musikpublikum.

Weitere Aufführungen am Freitag, 11. und Samstag, 12 Oktober jeweils um 20.00 Uhr sowie am Sonntag, 13. Oktober um 19.00 Uhr - Näheres auf www.operafactory.de