Freiburg, Opera Factory, Narcissus und Echo - Kammeroper nach Ovid, IOCO Kritik, 31.10.2020
Narcissus und Echo - Jay Schwartz
Kammeroper nach Ovids Metamorphosen
von Peter Schlang
Gibt es eine Form oder eine Aktion der Kunst, welche die durch die Coronakrise hervorgerufenen Gefühle und Empfindungen adäquat wiederzugeben vermögen oder symbolisch für diese besondere, so wohl noch nie erlebte Zeit stehen? Und wie werden die Kultur-Anthropologen und Historiker dereinst diese Frage beantworten?
Opera Factory Freiburg präsentiert die Kammeroper im Freiburger EWERK Mit visueller und akustischer Spiegelung
Wenn man die diesjährige Produktion der Opera Factory Freiburg gesehen hat und die dazu im vorbildlich gemachten Programmheft zu lesenden Anmerkungen aufmerksam studiert, gewinnt man den Eindruck, dass dies neben manch anderen Möglichkeiten die Spiegelung und der damit eng verwandte Prozess der Reflexion, gerade die des eigenen Tuns und dessen möglicher wie notwendiger Veränderung, sein könnten.
Narcissus und Echo - Kammeroper nach Ovid youtube Trailer Heiko Hentschel [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Unter anderem darum - und das gleich doppelt, nämlich optisch und akustisch - geht es in der an fünf Abenden im Oktober im Freiburger E-Werk gezeigten Kammeroper Narcissus und Echo des 1965 geborenen amerikanischen Komponisten Jay Schwartz. Dabei handelt es sich nicht, wie gerade häufig in den größeren Opernhäusern praktiziert, um eine spezielle, corona-konforme Bearbeitung, ja „Eindampfung“ eines ursprünglich viel größer besetzten und musikalisch aufwändigeren Werkes, sondern um die Originalfassung einer 2003 entstandenen und 2009 überarbeiteten klein besetzten Opernversion. Und auch die Entdeckung und Würdigung des Kleinen, eher Unscheinbaren könnte ja vielleicht einmal als typisches Merkmal dieser aktuell durchlebten Epoche angesehen werden.
Der Stoff von Schwartz‘ Oper basiert auf der berühmten Sage des in sich selbst verliebten Narcissus und seiner kurzen Episode mit der Nymphe Echo, wie sie u. a. in den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid erzählt wird. Und Ovids Fassung, sogar in ihrer lateinischen Originalsprache, bietet das Gerüst dieses knapp zweistündigen Werkes, das In Freiburg um einen Prolog und Epilog des Regisseurs Heiko Hentschel sowie die Bearbeitung des Madrigals „If my complaints could passions move“ des englischen Renaissance-Komponisten John Dowland durch Benjamin Britten ergänzt wird.
Als musikalisches Bühnenpersonal agieren eine Sopranistin, die wunderbare, stimmlich wie darstellerisch jederzeit überzeugende, ja mitreißende Hélène Fauchère, als Narcissus und eine Bratscherin, in Freiburg die ebenbürtig vorzügliche Aida-Carmen Soanea, als dessen Gegenpart Echo sowie ein doppelt besetztes sehr üppiges Schlagwerk, das auch eine, im modernen Musikbetrieb sehr selten zu erlebende Glasharmonika umfasst und die beiden fantastischen Ausführenden Lee Ferguson und Seorim Lee über weite Strecken des Abends stark beschäftigt. Dazu gesellt sich als Organist bzw. Pianist der Gründer und Kopf der Freiburger Opera Factory, Klaus Simon, der den Abend auch als musikalischer und musik-dramaturgischer Leiter überzeugend und souverän strukturiert und buchstäblich in Händen hält.
Die zurückhaltende, behutsame Regie von Heiko Hentschel findet schöne Bilder und benötigt nur wenige Requisiten, um die inneren und äußeren Beziehungen und Konflikte der Hauptfiguren zu verbildlichen, etwa einen weißen Schal, eine Ansammlung von Koffern mit pflanzlichen Stoffen, Papierschnipseln und Fragmenten eines Spiegels oder die farbliche Beziehung der Kostüme der zwei Protagonistinnen und der drei Instrumentalisten. Diese treten im 2. Akt allesamt in der schwarz-weißen Kleidung eines Orchestermusikers auf, was der Interpretation etwas zusätzlich Distanziert-Feierliches verleiht. Dazu kommen an vielen Stellen die für heutige Aufführungen offenbar als unverzichtbar angesehenen Video-Untermalungen, die entweder Impressionen aus der Natur, hauptsächlich mit Wasser, oder aber Doppelungen und Wiederholungen der auf der Bühne zu erlebenden Handlung zeigen, den schreibenden Beobachter aber eher vom Bühnengeschehen ablenken als einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bereitzuhalten.
Diesen liefert dafür umso überzeugender die Musik des in Köln lebenden Jay Schwartz, die dem Hörer mit ihrem Reichtum an Klangfarben und einem den wichtigsten Epochen und Stilen der Musik nachspürenden Kosmos einen die eigene Fantasie beflügelnden, äußerst anregenden, kreativen Reflexionsraum bietet. Dazu bedient sie sich nicht nur lang gezogener Glissandi, üppig variierter Crescendi und Decrescendi sowie vieler weiterer klassischer Elemente, sei es aus der Vokalmusik oder dem instrumentalen Repertoire - so erinnert der Bratschenpart etwa häufig an die Solowerke Johann Sebastian Bachs -, sondern macht auch mutig Anleihen bei der modernen, experimentellen Musik. Man vernimmt aber auch Techniken und Stilmittel der elektronischen und computererzeugten Musik. Das alles schafft eine lebendige, äußerst differenzierte und anregende Klangmischung, die an keiner Stelle verstört und höchstens bei den häufigen Wiederholungen und in den langsameren, ruhigeren Passagen leicht ermüdend wirkt.
Dafür vermag es diese Musik, den Hörer phasenweise in verborgene, visionäre Ebenen zu entrücken und ihm manchmal sogar ein Gefühl der Transzendenz zu vermitteln. Großen Anteil daran haben in der Freiburger Produktion die fünf Interpreten, die nicht nur solistisch, sondern auch in ihren, allerdings eher seltenen Ensemble-Auftritten restlos überzeugen und den großen Saal des EWERK Freiburg in einen spannungsgeladenen, pulsierenden Klangraum verwandeln. Dabei bringen die Darstellerinnen des Narcissus und der Echo mit ihren subtilen, feinfühligen und psychologisch schlüssigen Rollenstudien das Publikum zum Staunen. Dieses gilt aber auch der Schlagzeugerin und ihrem Kollegen, die, zumal in ihren Solopassagen, ein wahres Feuerwerk an Klang- und Rhythmusraketen zünden und den Raum zum Vibrieren bringen.
In der zeitgenössischen Musik gibt es sicherlich manche Beiträge, die man wegen ihres nichts-sagenden Äußeren schnell wieder vergisst und die leer und entbehrlich wirken – Narcissus und Echo gehört ganz bestimmt nicht in diese Kategorie. Ja, so mitreißend und anregend interpretiert und ausgefüllt, kann man als Musikfreund selbst der Corona-Pandemie einen gewissen Sinn und Nutzen abgewinnen.
Und manch große, etablierte und komfortabel am staatlichen Subventionstopf vor sich hindämmernde städtische oder staatliche Kultureinrichtung kann und sollte sich die kleine, aber feine Opera Factory Freiburg als Vorbild nehmen!
---| IOCO Kritik Opera Factory Freiburg |---