Freiburg, Opera Factory, La Voix humaine - wird zur Chanson-Opéra La Voix, IOCO Kritik, 07.10.2021
La Voix humaine -- Chanson-Opéra La Voix
Opera Factory Freiburg - Francis Poulencs La Voix humaine verbunden mit Chansons der französischen Chansonette Barbara - Es entsteht die Chanson-Opéra La Voix
- Von den Freuden, Leiden, Schmerzen von Sehnsucht und Liebe -
von Peter Schlang
Fünfmal lud Klaus Simons umtriebige Opera Factory Freiburg ab Mitte September zu ihrer jüngsten Produktion ins Vorderhaus in der Fabrik in Freiburg, Foto oben, einer traditionsreichen, schön gelegenen und für Kleinkunst geradezu idealen Veranstaltungsstätte. Dazu hatte man erstmals keine reine bzw. klassische Opernaufführung ausgewählt, sondern eine Kombination aus Francis Poulencs 1959 uraufgeführter einaktiger dritter Oper La Voix Humaine und fünf Chansons der bei uns nur einem Kreis von Eingeweihten und Fans bekannten Pariser Chansonette Barbara, die von 1930 bis 1997 gelebt hat. An den Beginn des Abends hatte das Leitungsteam der Opera Factory Poulencs 1939 entstandenen Instrumentaltitel Fleurs gesetzt, während seine „Valse chantée“ „Les Chemins de l’amour“ von 1940 mit einem Text Jean Anouilhs als Epilog diente.
Die inhaltliche Klammer der beiden Hauptteile dieses äußerst spannenden und kurzweiligen Musikabends ist das gemeinsame Thema von Poulencs Oper und Barbaras Lieder, die durch die Liebe erzeugte Sehnsucht und Freude, aber auch die in ihrem Gefolge meist entstehenden Schmerzen und Verwerfungen. Weitere für die Dramaturgie des Abends wichtige Gesichtspunkte waren die musikgeschichtliche Parallele von Barbaras Chansons und Poulencs Stücken, genauer deren Entstehungszeit, die späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts, aber auch deren große Nähe zur Kleinkunst. Um diese zwar thematisch gleichen, aber vom Aufbau und ihrer Gattung eben doch auch disparaten Teile des Abend dramaturgisch und handlungsmäßig zusammenzubringen, hatte sich der für das Konzept und die Regie des Abends verantwortliche Heiko Hentschel, der an der Hamburgischen Staatsoper als Spielleiter wirkt, und der Hausdramaturg der Freiburger Operntruppe, Cornelius Bauer, die Live-Vorstellung einer Chansonette als spielerischen Rahmen ausgedacht.
Diese, von Britta Stallmeister stimmlich wie darstellerisch jederzeit mit aller Raffinesse, feinem französischem Humor, viel Charme und brillanter Technik hinreißend dargestellt, gerät während des Vortrags der fünf Chansons Barbaras immer mehr in das private Erinnern und ins Nachdenken über ihr eigenes (Liebes-) Leben, dass sie nach dem dritten Lied „Je ne sais pas dire“ jegliche Contenance verliert, eine Art Erinnerungsschock erleidet und dem versammelten Auditorium das Ende ihres letzten amourösen Abenteuers schildert. Dieses Spiel im Spiel, ein „einseitiges“, nur von der Seite der verlassenen Geliebten zu hörendes Telefongespräch, ist eben Poulencs La Voix humaine, jene „Tragédie lyrique in einem Akt“, deren Libretto von keinem Geringeren als Jean Cocteau geschrieben wurde. Das Verschmelzen der verschiedenen Bestandteile dieses etwas anderen „Liebestranks“ funktioniert in jeder Hinsicht und nicht zuletzt auch musikalisch wunderbar, wozu auch der Umstand beiträgt, das beide Komponisten, Barbara wie Poulenc, in ihren Stücken häufig ähnliche musikalische Muster einsetzen und etwa auf leitmotivische Elemente setzen oder ein mustergültiges Parlando pflegen, was beim Chanson ja in dessen Natur liegt. Und so hätte es eigentlich der manchmal etwas aufgesetzt wirkenden Zwischentexte Heiko Hentschels gar nicht bedurft, die dieser zur Überleitung zwischen den Chansons einschieben zu müssen glaubte. Vielleicht hat er ja das Publikum nicht einmal als naiver eingeschätzt als es dieses höchstwahrscheinlich war, sondern wollte vermutlich nur der Gefahr vorbeugen, dass nicht alle der im ausverkauften Saal Anwesenden des Französischen so mächtig wären wie manche der ja in großer Nähe zu Frankreich Wohnenden und auch der Rezensent. Dieser möchte auch nicht verschweigen, dass die Texte Barbaras wie die des Duos Cocteau und Poulenc relativ einfach gebaut und so recht gut verständlich sind. Außerdem wurden sie von Britta Stallmeister nicht nur meisterhaft, in jeweils zu ihrem Thema und Inhalt passender Manier interpretiert, sondern auch in einem vorzüglichen, klangvollen, deutlichen und jederzeit problemlos zu übersetzenden Französisch vorgetragen.
Zu dieser nicht selbstverständlichen und von selbst kommenden Wirkung trug zu einem wichtigen Teil ganz bestimmt auch die einfühlsame Begleitung der Chansons und des „Opern-Kerns“ durch den Leiter der OFF Klaus Simon und seinen Haus-Cellisten Philipp Schiemenz bei, die als Combo auf der Chanson-Bühne auch darstellerisch gefordert waren. Nachdem die vorhandene Klavierbegleitung der Chansons Barbaras den bekannt hohen Ansprüchen Klaus Simons nicht genügten, schuf dieser für die fünf Lieder ein neues Arrangement, für das er neben dem Klavier auch das Violoncello auswählte. Wie im Programm genauer erläutert und bei der Aufführung eindrucksvoll „vor Ohren geführt“, hat das Cello nicht nur einen beachtlichen Tonumfang und kann nicht nur genauso gut führen wie begleiten, sondern ist mit seiner klanglichen Nähe zur menschlichen Stimme ein so einfühlsamer, passender Begleiter wie ein überzeugend auftretender musikalischer Gegenpart. Noch lange werden dem aufmerksamen Beobachter bzw. Zuhörer die wunderbaren Dialoge zwischen Chansonette/Sopranistin und dem (fast) ebenso schön singenden Violoncello in Erinnerung bleiben, die für eine unverwechselbare, dichte Chanson-Atmosphäre sorgten.
Und nachdem nun mal das Cello nun schon einmal für den ersten Teil des Opernabends in Stellung gebracht worden war, entschloss sich der musikalische Leiter und Arrangeur des Abends, sich nicht auf Francis Poulencs eigene Klavierfassung von dessen Monodram zu verlassen, sondern diese um eine daraus behutsam generierte Violoncello-Stimme zu bereichern. Dadurch kam das Freiburger Publikum nicht nur in den Genuss einer szenischen Premiere, sondern auch gleich noch von etlichen musikalischen bzw. kompositorischen Uraufführungen, die außerdem einen zu keiner Zeit geschmälerten hohen Unterhaltungswert und musikalischen Erkenntnisgewinn garantierten. Denn Simons Instrumentierung unterstützt die dramatische Wirkung des Gesangsparts ungemein, etwa wenn das Cello mit Flageolett-Passagen und fast teuflischen Trillern in das Vorspiel und in die Begleitung von Poulencs Binnenoper einsteigt.
Überhaupt geraten Cellist und Pianist nie in die Rolle von nur musikalischen Begleitern, die sie für die herausragende Sopranistin natürlich schon sind, sondern agieren als eigen- und selbstständige Solo-Mitglieder eines Trios, das sich aber durch eine nie gefährdete „musikalische Komplizenschaft“, einen wunderbar gemeinsamen Takt und Ton und eine vorbildliche Balance in den drei Stimmen auszeichnet. Daran wiederum hat sicherlich die einfühlsame, sehr zurückhaltende Leitung Klaus Simons vom Flügel aus einen hohen Anteil, wobei der Pianist sicherlich auch von seiner großen Erfahrung als Liedbegleiter profitiert.
Für den Geschmack eines Chanson-Liebhabers und des Rezensenten beginnt Stallmeister ihren Vortrag als Chansonette vielleicht etwas zu opernhaft und makellos singend, hier fehlte ein wenig das Morbid-Laszive, der eher mit einem Stück Subkultur in Verbindung zu bringende, nicht so perfekte Vortragston. Vielleicht wäre das aber bei einer Aufführungsdauer von gut 90 Minuten von der einzigen vokalen Mitwirkenden zu viel verlangt, zumal auch die „echte Barbara“ eine abgeschlossene Ausbildung in klassischer Musik vorzuweisen hatte.
Die Regie unterstützt die tadellose sängerische und darstellerische Vorstellung der Sopranistin mit einfachen, aber klugen Einfällen und einer feinen Personenführung und Bewegungs-Choreografie, die der Sängerin weder ein Herumkaspern noch das berüchtigte „An-der-Rampe-stehen“ zumutet. So dient etwa ein offenbar vergessener Hut als Reminiszenz an den untreu Gewordenen, der später als „mit dem Hut gekrönter Mikrofonständer“ sogar seine symbolische Rückkehr in die Nähe der früheren Geliebten erlebt. Solche Requisiten und das exquisite Spiel Stallmeisters machen es für das Publikum zu einem spannenden Erlebnis, den Erinnerungen, Gefühlen und Regungen der Verlassenen zu folgen.
Auch hier wäre es daher aus Sicht des Rezensenten nicht nötig gewesen, das intensive, transparente Spiel der Protagonistin, das auch eine schlüssige und passende Mimik einschließt, durch die eingespielten filmischen Erinnerungsfetzen zu ergänzen. Neue Erkenntnisse bewirkt das kaum, eher ein Stocken des dramaturgischen Flusses.
Trotz dieser - recht kleinen - Trübungen fällt die Bewertung dieser neuen Produktion von der Opera Factory Freiburg von Klaus Simon äußerst leicht und eindeutig positiv, ja euphorisch aus: Mit La Voix ist deren Verantwortlichen auf, vor und hinter der Bühne erneut ein unvergleichlicher, mitreißender und faszinierender Musikabend gelungen, der wiederum den Vergleich mit den hoch-subventionierten kommunalen oder staatlichen Häusern nicht zu scheuen braucht. Schade, dass die Freiburger kein Repertoire-Haus sind. La Voix hätte das Zeug, zum Kassenfüller zu werden!
---| IOCO Kritik Opera Factory Freiburg |---