Frankfurt, Oper Frankfurt, Tamerlano - Georg Friedrich Händel, IOCO Kritik, 16.11.2019
Tamerlano - Georg Friedrich Händel
- ein aus der Zeit gefallener Möchtegern-Westernheld im Kulturkampf -
von Ljerka Oreskovic Herrmann
Dieser Tamerlano ist nicht blutrünstig, nur bisweilen komisch und hat mit der historischen Figur des Timur Leng (1336-1405) nur wenig gemein. Während bei Christopher Marlowe – Shakespeares gleichaltrigen und zunächst berühmteren Zeitgenossen – der gewalttätige Machtmensch ungeschönt gezeigt wird, hat sich Georg Friedrich Händel für eine andere Version entschieden und am Ende das Gewicht zugunsten Bajazets verlagert. Der Text von Nicola Francesco Haym geht auf die Libretti von Agostino Piovene (Tamerlano, 1711) und Ippolito Zanelli (Il Bajazet, 1719) zurück, diese wiederum bedienten sich bei der Tragödie Tamerlan ou La Mourt de Bajazet (1675) von Jacques Pradon.
Tamerlano von Georg Friedrich Händel feierte 1724 ihre Uraufführung am King’s Theatre Haymarket in London. Es war eine auf italienisch gesungene Tragödie um Macht, Hass, Liebe, Enttäuschung und Tod; wie so oft bei Händel wird das ganze menschliche Leben verhandelt, verpackt in einnehmender Musik, die einen nicht mehr loslässt. Dass muss der Regisseur R.B. Schlather – die Inszenierung für die Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot war sein Europadebüt – ebenso empfunden haben und befürchtete wohl, der Sogwirkung von Händels Werk ausgeliefert zu sein, so dass er kurzerhand das 28 Personen zählende Orchester in einen Käfig steckte. Natürlich gibt es auch einen inszenatorischen Sinn dahinter: Tamerlano ist ein amerikanischer Cowboy, wohl auch Kulturbanause und so hält er die Musiker und Musikerinnen wie Gefangene, denn er besitzt den Schlüssel zu diesem Gefängnis, ohne ihn kommen sie weder rein noch raus. Demütigung ist bei ihm Programm – und als Verweis zu Guantánamo gedacht. Sein gefangengenommener Feind, der Osmane Bajazet dagegen, vom Regisseur als europäische Kontrastfigur beschrieben, trägt zunächst einen edlen grauen Anzug, während seine Tochter Asteria im Jogging-Kapuzen-Outfit bereits an einen Häftling erinnert. Mit Waffen wird diese Feindschaft nicht mehr ausgetragen, sie gleicht eher einem (bösen) Spiel, Kultur- oder Sport-Wettkampf, der zwischen der einen und der anderen Seite des Atlantiks ausgefochten wird und wofür die Startnummern auf den Kostümen der Protagonisten um Tamerlano herum zeugen.
Tamerlano kann eigentlich nur verlieren, denn „Macht“ ist bei ihm allenfalls noch in seinem Peitsche-schwingenden Auftritt zu spüren, ansonsten ist er eher ein aus der Zeit gefallener Möchtegern-Westernheld mit Schnauzer. Er kann die Machopose nur noch übertreiben – der später eingesetzte Baseballschläger vermag ebenso wenig die kulturelle oder sportliche Überlegenheit belegen –, aber auch ein lächerlicher Tyrann ist zu menschenverachtender Erniedrigung fähig, denn die Regeln in diesem Schaukampf bestimmt immer noch Tamerlano. Seine grotesken Auswüchse – mal nimmt er im Publikum Platz oder verteilt Bierdosen – sorgen selbstverständlich für gehörige Lacher und wie sie der Countertenor Lawrence Zazzo verkörpert, zugleich schöne Koloraturen singend und dabei sich selbst ein bisschen karikierend, zeigt meisterliches Können. Ihm gegenüber – nicht nur gesanglich – steht Asteria, Bajazets Tochter, mit gehöriger Wut und unbeugsamen Willen, gewillt diesem Unmenschen entgegenzutreten. Das widerwillige Anziehen eines in ihren Augen unwürdigen Brautkleids, schwarze Cowboystiefel trägt sie bereits, die mit voller Wucht gesungene Rebellion und zugleich verzweifelt-betörende Suche nach Nähe zum Vater wird von Elizabeth Reiter überragend gesungen und gespielt; eine Darbietung auf unübertrefflichem Niveau.
Ihre Uneinigkeit mit dem Vater, wie dem Tyrannen zu begegnen sei, wird durch den Konflikt des ebenfalls in Haft gehaltenen Geliebten Andronico noch gesteigert. Ihre wechselseitigen Beschuldigungen am Verrat des jeweils anderen verstärken den Eindruck der Tragödie und der – auch räumlichen – Ausweglosigkeit. So wie Asteria einwilligt Tamerlano zu heiraten, weil sie sich von Andronico hintergangen fühlt, doch zum Anziehen des Brautkleids von Tamerlano gezwungen werden muss, so muss sich auch Andronico ein Football-Outfit überstreifen und anstelle Tamerlanos als Bräutigam vor Irene auftreten. Brennan Halls Altus und seine zurückgenommene Haltung schaffen einen eindringlichen Kontrast zu Tamerlanos Exaltiertheit.
Irene – von der Mezzosopranistin Cecelia Hall als furchtlose Frau trefflich gesungen – wiederum ist die eigentliche Braut Tamerlanos, an der er aber kein Interesse zeigt. In ihrem Glitzer-Jumpsuit passt sie tatsächlich besser zum Manipulator und mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein ausgestattet, ist sie nicht bereit, von Tamerlano zu lassen. Der Wärter Leone führt sie indes als Vertraute Irenes bei seinem Dienstherrn ein: Dann soll sie dafür sorgen, dass er kein Gefallen mehr an Asteria findet, und er wird Irene heiraten – so einfach geht das verachtende Spiel bei Machtmenschen. Leone, Liviu Holender stellt ihn als beobachtenden und verständigen, aber zurückhaltenden Mann dar und immer zur rechten Zeit zur Stelle, wird selbst zum Akteur in diesem bösen Spiel. Er trägt übrigens einen blauen Kittel mit der Aufschrift „Crew“, wie alle (wirklichen) Mitarbeiter des Bockenheimer Depots an diesem Abend, was ihn spätestens, wenn er seinen gut geführten Bariton erklingen lässt, aus diesem Kreis wieder heraushebt (Kostüme: Doey Lüthi). So wie ein Kleidungsstück über die wahren Absichten eines Protagonisten täuschen soll, so enthüllen sie zugleich den Zustand einer Figur: Bajazet trägt inzwischen orange Häftlingskleidung, in der er noch kurz vor seinem Tod von Tamerlano besudelt und erniedrigt wird. Es sind die äußeren, optischen Zeichen, die Regisseur R.B. Schlather bei seiner Deutung dieser Geschichte betont. Und auch Tamerlano wird dabei nicht verschont werden.
Die Ereignisse überstürzen sich. Bajazet sieht angesichts Asterias Entschluss Tamerlano zu heiraten nur noch im Selbstmord einen Ausweg und fordert seine Tochter auf, ebenfalls Gift zu nehmen, um sich vor Tamerlanos Übergriffen zu retten. Asteria, die diesen in der Hochzeitsnacht zu töten beabsichtigte, lässt davon ab, und endlich bekennt sich Andronico zu ihr, was Tamerlanos Wutanfall und ihre weitere Demütigung zur Folge hat. Sie nimmt das Gift nicht, sondern mischt es in Tamerlanos Getränk, wird dabei von Irene beobachtet – und diese ergreift die Gunst des Augenblicks: Sie warnt Tamerlano und gibt ihre wahre Identität zu erkennen. Noch kann Tamerlano seine Macht vollends ausspielen: Er verlangt von Andronico und Bajazet davon zu trinken. Asteria will ihnen zuvorzukommen, wird jedoch von ihrem Geliebten daran gehindert.
Den Selbstmord Bajazets kann Tamerlano aber nicht verhindern, und seine „Pose“ hat bereits gelitten: den aufgeklebten Schnurrbart, sein Symbol der Männlichkeit und Macht, hat er zuvor abgerissen. Nun muss er Bajazets letzten Kraftakt, vor dem wahrhaftigen und auch musikalischen Aushauchen, ertragen, und was dieser an Verwünschungen ausstößt, hat es in sich: „Um dich Ungeheuer zu quälen und zu zerreißen, will ich selbst die schlimmste Furie der Hölle sein.“ („Per tormentar, per lacerar quel mostro io sarò la maggior furia d’averno“, lautet es im italienischen Original). Bajazets Sterbeszene stellt der belgische Tenor Yves Saelens so intensiv, vokal und darstellerisch berührend dar, dass selbst ein herzloser, breitbeiniger Fake-Cowboy davon nicht unverschont bleibt und dem nichts mehr entgegenzusetzen hat. Vor dem Tod verblasst jede noch so machtvolle Gestalt, und dies lässt die Geschichte, die R.B. Schlather in eine heutige Zeit transferiert hat, am Ende doch noch aufgehen. Es ist aber vor allem ein Verdienst der Solisten, die durch ihre Darstellung das Konzept umsetzen und gesanglich bis zum Schluss grandios tragen.
Dass Tamerlano das Orchester in einem Käfig „hält“ ist ziemlich gewöhnungsbedürftig, wenn auch in der Lesart dieser Inszenierung konsequent. Der ganze Raum ist ein weiß umrandetes Gefangenenhaus, es gibt praktisch für niemanden ein Entkommen (Bühnenbild: Paul Steinberg) und das Licht ist meistens neon-grell, wie es sich für so einen Ort gehört (Licht: Marcel Heyde). Auf der rechten Seite befindet sich das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, allerdings nicht zum Publikum gewandt. Karsten Januschke, der musikalische Leiter der Produktion, besticht auch durch körperlichen Einsatz: Wie ein Vortänzer, an barocke Orchesterleiter erinnernd, peitscht er das Ensemble an, doch auch Innigkeit erzeugt er mit seinem z.T. auf alten Instrumenten wie Laute, Barockgitarre und Chalumeau oder auch Blockflöte spielendem Orchester – etwa bei dem von gegenseitigen Enttäuschungen geplagten Liebespaar Andronico und Asteria oder in der Sterbeszene von Bajazet. Wer den Wettkampf der Kulturen für sich entschieden hat, ist nicht eindeutig auszumachen, ganz sicher lässt sich jedoch festhalten, dass zwar das Orchester eingesperrt werden kann, aber allen Gitterstäben zum Trotz der herrliche Klang seine betörende Wirkung zu verströmen vermag.
Für sein Europadebüt erhielten R.B. Schlather und sein Team einhelligen Applaus, übertroffen wurde er allerdings von dem für die Mitwirkenden und dem „befreiten“ Orchester
Tamerlano -Bockenheimer Depot, Frankfurt: die weiteren Termine 16.11.; 20.11.; 22.11.; 24.11.2019
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