Frankfurt, Oper Frankfurt, Oedipus Rex - Iolanta, IOCO Kritik, 05.11.2018
Igor Strawinsky - Oedipus Rex : Peter I. Tschaikowski - Iolanta
- Mit Blindheit geschlagen -
von Ljerka Oreskovic Herrmann
Lydia Steier scheint alles richtig gemacht zu haben, denn ihr Doppelabend mit Strawinsky Oedipus Rex und Tschaikowskis Iolanta wirkt nach. Zu bedrückend-berückend die Bilder und die Interpretation. Diese Regisseurin hat in Mainz zwei wunderbare Regiearbeiten hingelegt – Perelà und Saul. In beiden zeigte sie, wie eine (Familien-)Welt aus den Fugen geraten kann. Auch hier in der Frankfurter Inszenierung geraten die Lebensumstände ins Wanken, es stürzt alles ein, aber es gibt keine Bereinigung oder gar die von Tschaikowski erhoffte Erlösung.
Igor Strawinsky - Oedipus Rex : Peter I. Tschaikowski Iolanta Youtube Trailer der Oper Frankfurt [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
In Oedipus Rex sehen wir den Titelheld schon zu Beginn als angeschlagenen König, der von seiner ihm verborgenen Vergangenheit eingeholt werden wird. Schuldlos schuldig steht er in dieser wie ein Parlament oder Gerichtssaal aufgebauten Bühne, nach halt suchend und doch wie ein Angeklagter verloren herum. Seine Macht bröckelt, auch wenn er immer wieder seinen Triumph – über die Sphinx gesiegt zu haben – in die Waagschale werfen wird. Allein diese Tat zählt nicht mehr, es braucht eine neue übermenschliche Kraftanstrengung gegen die wütende Pest, so jedenfalls will es das Volk – hier verkörpert durch einen exzellenten Chor, der zum Hauptakteur und gesellschaftlichen Machtfaktor wird. Oedipus bleibt nur die Reaktion, die ihn zur Suche nach seiner wahren Identität treibt und bekanntermaßen in der Katastrophe endet.
Die inzestuöse Last der Welt von Iolanta
Aber indem sich Lydia Steier weniger für dieses unsägliche Familiengeflecht, die grauenhaften Verstrickungen und inzestuösen Geschehnisse interessiert, als für die Machtübernahme durch Kreon und einem Sieg des Volkes über den zuvor noch gefeierten Oedipus, verliert diese Geschichte ihre Wucht. Das Monströse dieser Familie, das mit Oedipus’ Selbststrafe nicht aus der Welt ist, sondern sich in Antigone, der Tochter, perpetuiert, geht verloren – stattdessen verlagert sich die inzestuöse Last in die Welt von Iolanta. Hier ist ebenfalls nichts in Ordnung, auch oder gerade weil das zuckersüße, pinke Gefängnis der Protagonistin zunächst für Freude beim Publikum sorgt; die Szenerie zuvor war dunkel, in grau und schwarz gehalten. Doch das wahrhaftige Puppenhaus „entpuppt“ sich als ein nicht minder schauerlicher Ort wie zuvor das alte Theben – bloß dass dort bereits die Anklage und Verurteilung stattgefunden hat und Exekution durch eigene Hand – von Oedipus und Jokaste – vollzogen wurde. Es lebe König Kreon, Theben gerettet – nicht jedoch bei Sophokles! Strawinskys Musik ist packend, dramatisch, treibt die Handlung voran, was durch den oratorienhaften Charakter und der lateinischen Sprache sogar noch verstärkt wird, während sich die Erkenntnis bei Oedipus, den Vater getötet und die Mutter geheiratet zu haben, nur mühsam einstellt.
Eindeutig ist in dieser Hinsicht die Darstellung von Jokaste: eine lasziv rothaarige und mitsamt ihrer Tochter in rot – der einzige Farbtupfer – gekleidete femme fatale. Doch das Klischee des männerfressenden Vamp greift zu kurz und verengt die Geschichte auf die Machtfrage einerseits und die Verführung andererseits. Gespiegelt wird diese Sicht umso brutaler in Iolanta: Hier ist es der Vater, der zwar kein Verführer, aber ein missbrauchender Alleinerzieher ist. Für jede Missbrauchstat wird die blinde und von der Welt ferngehaltene Tochter mit einem Spielzeug – einer pinken Puppe – „belohnt“. Ganz praktisch werden die Puppen unterhalb ihres monströs-großen Bettes im Souterrain hergestellt und oben bei ihr ordentlich in die Regalwände eingereiht. Der schöne Schein, der das Publikum noch zu Beginn erheiterte, zeigt schmerzlich seine Kehrseite: Auch wir im Publikum erkennen nicht und sind sehenden Auges „blind“, so dass wir unweigerlich zu Komplizen werde.
Die vermeintliche Klammer – das nicht-erkennen-können – der beiden Stücke gipfelt in dieser Schlussfolgerung, die ersehnte Erlösung wird von Tschaikowski zwar musikalisch eindringlich beschworen, aber szenisch so nicht eingelöst. Soweit, so gut, denn tatsächlich ist es nach dieser Inszenierung nicht mehr möglich, Iolanta als eine harmlose Märchenoper zu sehen und in Verbindung mit seinem Nussknacker, wie es Tschaikowski konzipierte, schon gar nicht. Die Unschuld ist verloren und dahin. Keine „schlechte“ Erkenntnis für einen Theaterabend, und dafür muss man (und frau) Lydia Steier dankbar sein – es bleibt dennoch das Gefühl zurück, dass das Dramatische in den „Familienstücken“ der vermeintlichen Gemeinsamkeit geopfert oder ausschließlich darauf zugespitzt wurde. Und die Verknüpfung beider Komponistenbiografien im Momentum der versteckten Homosexualität, ihr Auftauchen als „Maske“ und Wiedergänger im jeweils eigenen Stück wirkt durchaus naheliegend, erklärt jedoch nur bedingt den Zusammenhang der musikalisch und inhaltlich so unterschiedlichen Opern. Oedipus ist ein europäischer Ur-Mythos und Märchen sind beileibe nicht Schreckensfrei, doch ergeben die Erzählungen nicht zwangsläufig zwei Seiten einer Medaille.
Getragen wurde der spannungsreiche Abend durch das gute Sängerensemble – allen voran Asmik Grigorian als Iolanta, die im Laufe des Abends zur Höchstform auflief und damit zusätzlich die Gewichtung der Stücke zugunsten der Märchenoper verschob. Mit AJ Glueckert (Graf Vaudémont) gelang ihr ein wunderbares Duett, nur die beiden Königskinder kommen in dieser Inszenierung nicht zusammen, stattdessen entscheidet sich die nun „sehende“ Tochter für den Vater. Robert Pomakov als ebendieser König René, erscheint als vermeintlich harmloser Regent, letztlich ist er der Strippenzieher, der sich vermutlich am Ende selbst richten wird: Im Schlussbild hält er sich die Pistole in den Mund, während Iolanta ihn umarmt und Graf Vaudémont verlassen zurück bleibt. Der einzig „Sehende“ und Wissende ist der Arzt Ibn-Hakia von Andreas Bauer souverän musikalisch wie darstellerisch gestaltet. Weitere Mitwirkende sind: Gary Griffiths als Robert, Judita Nagyová als Martha, Elizabeth Reiter als Brigitta und Nina Tarandek als Laura sowie Magnús Baldvinsson als Bertrand und Matthew Swensen als Almeric.
Tanja Ariane Baumgartners Jokaste, in ihrem Auftreten an die italienische Chansonsängerin Milva erinnernd, ist die einzige Frau in Oedipus Rex, die nicht nur aufgrund ihres Äußeren, sondern in allem einen starken Kontrast zu der männerdominierenden Thebener Gesellschaft bildet. Die Titelfigur wird von Peter Marsh verkörpert, der glaubhaft verzweifelt einen Ausweg aus seiner aussichtslosen Lage sucht. Kreon von Gary Griffiths gesungen, ist ein geschmeidiger Machtmensch. Andreas Bauer ist der blinde Seher Teiresias, Matthew Swensen der Hirte, Brandon Cedel der Bote und Philipp Rumberg der Sprecher. Der Chor unter der Leitung von Tilman Michael ist gesanglich wie darstellerisch herausragend. Das glänzend aufgelegte Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter GMD Sebastian Weigle zeigt vor allem in Iolanta eine dramatische Zuspitzung, die der Inszenierung den entsprechenden Gestaltungsraum gibt und sie bis zum Schluss äußerst spannend macht.
Für das atemberaubende Bühnenbild (vor allem bei Iolanta) zeichnet Barbara Ehnes, für die Kostüme Alfred Mayerhofer verantwortlich. Die eindrücklichen Projektionen stammen von fettFilm (Torge Møller und Momme Hinrichs), Olaf Winter sorgt wie immer bewährt für das Licht. Es bleibt ein packender, vom Publikum gefeierter Premierenabend, der lange nachhallt.
---| IOCO Kritik Oper Frankfurt |---