Frankfurt, Oper Frankfurt, L’INVISIBLE- Aribert Reimann, IOCO

Frankfurt, Oper Frankfurt, L’INVISIBLE- Aribert Reimann, IOCO
Oper Frankfurt, Wikipedia

Trilogie lyrique nach Maurice Maeterlinck

Libretto vom Komponisten

 

Foto: Monika Rittershaus

Von Ljerka Oreskovic Herrmann

Der 2024 verstorbene Komponist Aribert Reimann kannte die Weltliteratur und schuf immer wieder Bühnenwerke, die große Stoffe zum Inhalt hatten, so auch: L’invisible. Es war sein letztes vollendetes Werk für die Opernbühne – zwischen 2011 und 2016 entstanden und 2017 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt –, mit drei dramatischen Stücken von Maurice Maeterlinck. Bekannt ist der Dramatiker vor allem als Verfasser von Pelléas et Mélisande, einem Werk, das nicht nur von Claude Debussy musikalisch umgesetzt wurde, sondern auch zwei anderen Komponisten – Gabriel Fauré und Arnold Schönberg – fast zeitgleich als literarische Vorlage diente. Dass seine drei Stücke ebenfalls erfolgreich waren und in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts auf zahlreichen Bühnen zur Aufführung gelangten, zeugt von ihrer Qualität, aber auch von Reimanns Auseinandersetzung mit der Endlichkeit.

 

Die drei Einakter – L’intruse, Intérieur und La mort de Tintagiles – schrieb Maeterlinck Ende des 19. Jahrhunderts; der französisch schreibende belgische Dramatiker, Lyriker und Essayist, 1911 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, beschäftigte sich immer wieder mit den Unabänderlichkeiten oder wie er selbst nannte, mit den beiden „düstersten und furchtbarsten Mysterien“ des Lebens: „Tod und Verhängnis“. Deshalb hat er die beiden letztgenannten für Marionetten konzipiert, die den Eindruck des Ausgeliefertseins und das Symbolhafte noch verstärken. Der Finsternis Tod setzte er in seinen Essay Von der inneren Schönheit die Liebe entgegen: „Die Wissenden wissen nichts, wenn sie die Kraft der Liebe nicht besitzen; denn der wahre Weise ist nicht der, welcher sieht, sondern der, welcher am weitesten sieht und die Menschen am meisten liebt. Aber sehen, ohne zu lieben, heißt ins Finstere blicken.“

 

Foto: Monika Rittershaus

Die Trilogie lyrique, die der Komponist unter dem Titel L’invisible (der oder die Unsichtbare) zusammenfügte, handeln von der Anwesenheit des Todes; er ist stets präsent, auch wenn er unsichtbar bleibt. Der Tod ist allerdings im Französischen kein Gevatter oder Sensenmann sondern weiblicher Natur: „la mort“ – was der Tatsache des Vergehens und Ausgeliefertseins allerdings auch nicht den Schrecken nimmt. Genau hier setzt Reimann an, persönlich wie künstlerisch: Die Oper widmete er seinem älteren Bruder Dietrich, der 1944 im Alter von zwölf Jahren bei einem Bombenangriff auf Templin getötete wurde, und für den Komponisten eine lebenslange Lücke hinterließ. Eine Verlusterfahrung, die er mit dem belgischen Dramatiker teilte: auch Maeterlinck verlor seinen (jüngeren) Bruder. Die Regisseurin der Frankfurter Erstaufführung, Daniela Löffner, wiederum rekurriert auf Reimanns persönlichen Schicksalsschlag und lässt die Inszenierung mit einem Kind beginnen und enden. So viel sei vorweggenommen: dieses Kind – dargestellt von Victor Böhme – ist großartig!

 

Den ersten Teil komponierte Reimann für Streicher, der mittlere Teil wird von Bläsern dominiert, um im letzten Stück – in dem der Tod noch abzuwehren versucht wird – den Tuttiklang zu nutzen, was der Faktur von L’invisible Stimmigkeit und, gleichwohl es nicht gelingen kann und wird, für einen klitzekleinen Moment (vielleicht aufgrund des Harfenklangs) einen Hauch von Hoffnung verleiht. Das „Verhängnis“ wird seinen Lauf nehmen, daran lässt Reimann keinen Zweifel – die bedrohliche Grundierung nicht nur der Streicherklänge, auch von den dunkel timbrierten Holzbläsern bleibt immer hörbar – und wird durch das Dirigat von Titus Engel äußerst souverän und mit großer Sorgfalt herausgearbeitet. Das Ineinandergreifen der Handlungen, musikalisch ausgreifend und vorangetrieben, ohne dabei atemlos oder hektisch zu wirken, die Spannung über die drei musikalisch unterschiedlichen Teile hinweg zu steigern und damit den schwierigen, weil trügerischen, Balanceakt zwischen Innen- und Außenwelt zu halten und auszuhalten, gelingt dem Orchester auf sehr beeindruckende Weise. Dass der Komponist dem Frankfurter Opernhaus über Jahrzehnte verbunden war, belegt der Frankfurter Klangkörper an diesem Premierenabend mit großem Nachdruck. Ein weiteres Reimann-Werk – die Oper Melusine – wird ebenfalls in dieser Spielzeit im Bockenheimer Depot zur Premiere gelangen.

Foto: Monika Rittershaus

 

Noch ist die Welt in außen und innen, in eine belebte und unbelebte Welt nicht geteilt. Die Regisseurin lässt das (zunächst namenlose) Kind zuerst die Bühne betreten, dann folgt das Geschehen von L’intruse – der Eindringling. Die Familienwelt, von Bühnenbildner Fabian Wendling gestaltet, ist eine beinahe leere Bühne, es gibt nur einen festlich geschmückten Tisch, die Wiege rechts, im Rollstuhl die kranke Mutter links. Langsam platzieren sich die Akteure – der blinde Großvater, der Vater, der Onkel, die Enkelin Ursule – auf ihren Stühlen um den Tisch herum, eine fröhliche Stimmung wird nicht aufkommen; das Gespräch – eine weitere Tochter wird zum Essen erwartet – kreist einerseits um den bisher stumm geblieben Säugling und den Gesundheitszustand der Wöchnerin, dann jedoch vor allem um die Frage, ob sie endlich eingetroffen ist, was von der Dienerin verneint wird. Nur der blinde Großvater hat als einziger etwas gehört. Statt der Tochter kommt der unsichtbare Eindringling, erst jetzt, da die Mutter stirbt, wird das Kind endlich den lang ersehnten ersten Schrei ausstoßen – tiefes Holz – was zugleich den Übergang zum zweiten Teil markiert, in dem die Bläser das Klangbild tragen.

 

Intérieur, eigentlich Innenteil eines Raumes, wird hier zu einer dreiteiligen von oben herunterschwebenden Inselgruppe mit herunterhängendem Wurzelwerk; auf dem mittleren findet ein nettes und heiteres Familien-Picknick statt. Die beiden Männer – der Alte und der Fremde – sehen von unten die vergnügte Familie, wagen es aber nicht, diese Idylle zu zerstören und erörtern, wer die Todesnachricht überbringen soll: eine weitere Tochter ist ertrunken, unklar ob es ein Unfall war. Als die Bewohner mit der Leiche immer näher kommen, bleibt es dem Alten überlassen, die traurige Botschaft mitzuteilen. Der Tod kam wieder von außen, unbemerkt und unausweichlich, während im dritten Teil das Schloss auf einer Insel, in dem das Unglück sich ereignen wird, die Flucht verhindert.

 

Foto: Monika Rittershaus

In La mort de Tintagiles versuchen die beiden Schwestern Ygraine und Bellangère und der alte Vertraute Aglovale den kleinen Bruder Tintagiles vor der todbringenden Königin, ihrer Großmutter, zu retten. Diese hat alle potentiellen Thronfolger auf dem Gewissen, es ist ein von Verzweiflung, aber ausgesprochenem Willen geprägter Kampf ihrem mörderischen Zugriff zu entkommen und dem Bruder das traurige Schicksal zu ersparen. Die drei Dienerinnen der Königin werden allerdings die Flucht aus dem Schloss versperren. Tintagiles – von Victor Böhme Aussprache- und Textsicher gepaart mit einer ungeheuren Bühnenpräsenz verkörpert – stößt am Ende einen letzten verzweifelten Schrei nach seiner Schwester Ygraine aus. Retten konnte sie ihn nicht, die unsichtbare Königin steht geradezu sinnbildlich für „la mort“ – den Tod.

 

Die geschickt verknüpften Übergänge sorgen für die gemeinsame szenische Klammer des Geschehens. Dafür stehen neben dem Bühnenbild auch die zwischen zeitgenössisch und im dritten Teil etwas märchenhaft anmutenden Kostüme von Daniela Selig und das Licht von Joachim Klein, der nachgerade das (vermeintliche) Familienglück erstrahlen lässt, um den Absturz und die Verzweiflung der Mutter in Intérieur umso stärker in Szene zu setzen. Die Bildmächtigkeit der Trilogie hinterlässt einen starken Eindruck. Ebenso eindrücklich ist die Leistung des Ensembles.

 

Foto: Monika Rittershaus

Allen voran sei Irina Simmes genannt, die mit ihrem Koloratursopran mitreißend singt und spielt und von Stück zu Stück intensiver agiert; als Enkelin Ursule im ersten, Marie im zweiten und vor allem als Ygraine im letzten Teil ist sie herausragend. Ihr zur Seite steht nicht minder beeindruckend Karolina Makuła – zuerst als Krankenschwester, dann als Marthe und schließlich als ebenso kampf- und verteidigungsbereite Bellangère. Erik van Heyningen gibt den blinden Großvater, den Alten und Algovale und beweist stimmliche wie darstellerische Agilität ebenso wie Sebastian Geyer als besorgter Vater, Gerard Schneider als Onkel und der Fremde (beide im ersten und zweiten Stück) und die Mezzosopranistin Cláudia Ribas als Dienerin. Die Schauspielerin Viola Pobitschka ist die Mutter in Teil eins und zwei.

 

Und dann sind da noch die drei Dienerinnen der Königin: umwerfend die drei Countertenöre Iurii Iushkevich, Tobias Hechler und Dmitry Egorov, deren Stimmen gut harmonieren und dem beklemmenden Ausgang Dringlichkeit verleihen; die schleichenden Bewegungen verstärken ihren Gesang, in dem auch Anklänge an frühe Opernliteratur zu hören ist, täuschen aber nicht darüber hinweg, dass sie ihren Auftrag, Tintagiles zu entführen, erfüllen werden. Der Abend endet mit demonstrativ großem Applaus für alle Beteiligten, was angesichts der unter die Haut gehenden Thematik nicht nur versöhnlich stimmt, sondern ausgesprochen verdient ist.

Foto: Monika Rittershaus

 

 

 

 

 

 

 

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