Frankfurt, Oper Frankfurt, LA JUIVE - Fromental Halévy, IOCO Kritik

OPER FRANKFURT: Von bestürzender Aktualität ist die Oper La Juive Die Oper wurde zwar 1835 uraufgeführt, das Thema der stereotypen Feindbilder und ihrer daraufhin folgenden gesellschaftlichen Ausgrenzung hält sich

Frankfurt, Oper Frankfurt, LA JUIVE - Fromental Halévy, IOCO Kritik
Oper Frankfurt - in der Mitte des Finanzzentrums @ IOCO

 von Ljerka Oreskovic Herrmann 

Von bestürzender Aktualität ist die Oper La Juive von Fromental Halévy und dem Librettisten Eugène Scribe. Die fünfaktige Oper wurde zwar 1835 uraufgeführt, das Thema der stereotypen Feindbilder und ihrer daraufhin folgenden gesellschaftlichen Ausgrenzung hält sich aber leider! hartnäckig bis heute. Scribe hat die Handlung zur Eröffnung des Kirchenkonzils von 1414 in Konstanz angesiedelt. Ein Feiertag zu Ehren des Fürsten Léopold, der die Hussiten besiegt hat, wird angesetzt – doch in den Augen der christlichen Bevölkerung sind der jüdische Goldschmied Éléazar und seine Tochter Rachel Störenfriede und unwillkommen. Immer wieder wird der Mob unter Federführung von Bürgermeister Ruggiero gegen sie angehen. Kardinal Brogni interveniert, bittet den Goldschmied um Vergebung, dieser kann aber nur ablehnen. Brogni hatte einst Éléazars beide Söhne in Rom hinrichten lassen. Erst als er Frau und Tochter bei einem Brand verliert, wird er in den Dienst der Kirche treten. Dass Éléazar Brognis Tochter aus den Flammen rettete, erfährt er allzu spät, das Schicksal der beiden Männer bleibt untrennbar miteinander verknüpft und wird am Ende nur Beschädigte zurücklassen.

LA JUIVE - Trailer - Oper Frankfurt youtube Oper Frankfurt

Rachel, eine innige und aufrichtige Liebe zu ihrem Vater verbindet sie, wird trotzdem heimlich eine Liebschaft führen. Noch weiß sie nicht, dass Samuel in Wahrheit der helden- und kampfbewährte Fürst ist, der sich ihr gegenüber als Student ausgegeben hat. Erste Zweifel kommen auf, als sie sieht, wie er das ungesäuerte Brot – sie hat ihn trotz der Bedenken Éléazars zum Pessachfest eingeladen – wegwirft und eine Heirat mit ihr ablehnt. Die Kette für den Festakt, von Eudoxie für Léopold zu den Feierlichkeiten bei dem Goldschmied bestellt, entlarvt den hehren Fürsten, die Ereignisse überstürzen sich; Rachel muss Samuels oder vielmehr Léopolds Verrat allzu deutlich gewahr werden, da er bekennt, dass ihr Gott nicht der Seinige ist und nur eine Flucht ein gemeinsames Leben ermöglichen könnte. Dazu kommt es nicht, denn Léopold verweigert sich einer Heirat mit Rachel – auch wenn er später sie und ihren Vater vor der wütenden Menge retten wird. Im Haus von Eudoxie, bei der Rachel sich als Sklavin andient, muss sie die Kleidung einer Prostituierten anziehen. Der Kontrast zwischen ihr und der Herrin könnte nicht größer sein, die Herabwürdigung vollzieht sich beim Kleidertausch. Beim Fest kommt es zum Eklat: Rachel bezichtigt den geehrten Fürsten öffentlich eine Beziehung zu ihr, der Jüdin, unterhalten zu haben, was strafbar ist. Kardinal Brogni spricht daraufhin den Kirchenbann gegen ihn aus, auch Éléazar und Rachel müssen in den Tod gehen.

LA JUIVE hier Ambur Braid (als Rachel; Bildmitte) sowie Ensemble @ Monika Rittershaus

Der Sinn und Zweck einer Neuinszenierung ist es, die Handlung durch einen anderen oder vollkommen neuen Blick zu interpretieren – bei Tannhäuser, vor wenigen Wochen an der Oper Frankfurt gegeben, war es schlüssig gelungen, eine andere Lesart zu beglaubigen. Doch in dieser Inszenierung fügt Regisseurin Tatjana Gürbaca eine persönliche Ebene ein, eine Dreiecksgeschichte, die keine entsprechende Wirkung entfaltet. Anders als bei Scribe – die Hochzeit zwischen Léopold und Eudoxie, der Nichte des Kaisers, soll überhaupt erst an dem Fest stattfinden und damit jedwede Zukunft des eigentlichen Liebespaares versperren – hat Léopold hier Frau und Kinder. Seine Frau möchte ihn trotzdem retten. Nun, viele Frauen haben die Untreue ihrer Gatten hingenommen und dennoch Contenance bewahrt, warum Eudoxie um sein Leben kämpft, erschließt sich nicht zwingend; es mag Liebe sein, aber in dem einzigen innigen Moment der Familie, den Eudoxie beschwört, ist davon nichts zu spüren, stattdessen Entfremdung und Tristesse. Was sich aber allzu deutlich erschließt und den zentralen Aspekt des Stückes überhaupt ausmacht, ist Rachels Handlungsweise. Sie begreift, dass Léopold sich nicht für sie entscheidet, weil er Familie hat und diese nicht aufgeben möchte, sondern vielmehr, dass er sich gegen sie entscheidet, weil sie Jüdin ist – und weshalb die Oper auch so heißt! Und hier wird es existentiell und durchaus politisch: nicht für sie oder gegen sind zwei Paar Schuhe.

Im ersten Fall wären die Gefühle einer im Schatten stehenden Geliebten betroffen, der Mann verliert das Interesse an ihr und – ein wiederkehrendes Sujet – geht den bequemeren Weg und kehrt reumütig zur Familie zurück. Im zweiten Fall hingegen – gegen sie gerichtet – bekommt die Erklärung eine andere Dimension, die Rachel Léopold in der Auseinandersetzung auch vorhält: Er hat sie als Frau getäuscht und gedemütigt, bitter genug, aber er lehnt sie ab, weil sie Jüdin ist. Sie ist keine Kurtisane, wie ihre allzu freizügige Kleidung später suggerieren soll, und damit eine frühere Version der Violetta Valéry, die großmütig auf den Geliebten verzichten wird, um seine Zukunft nicht zu verbauen. Nein, sie ist sich ihrer Herkunft nur zu bewusst und muss schmerzlich erkennen, dass die Ablehnung nicht ihrer Persönlichkeit – Léopold begehrt sie weiterhin –, sondern ihrem Glauben gilt. Deshalb ist es überhaupt nachvollziehbar, dass ihre Rache, die der Enttäuschung geschuldet war, ihr nichts mehr bringt und sie die volle Schuld auf sich nimmt; und es wird erst recht verständlich, dass sie das Kreuz von Kardinal Brogni gereicht, also die Konversion, ablehnt. Sie geht für ihren Glauben in den Tod. Die letztmalige Wendung, dass dieser Kardinal ihr (erstaunlicherweise) zugeneigt und ihr eigentlicher Vater ist, wird sie nicht mehr erfahren. Während sie auf den Scheiterhaufen verbrennt, spielt Éléazar seinen letzten Trumpf aus und gesteht Brogni, dass dieser soeben seine eigene Tochter geopfert hat, während der Chor die Rache am Juden verkündet.

LA JUIVE hier vl John Osborn (als Eléazar; Bildmitte) sowie Ensemble @ Monika Rittershaus

Wo Scribe drastisch wird, schwelgt die Musik in wunderbaren Farben, Melodien und Klängen, Halévys Musik mildert die Schrecklichkeiten, gönnt dem Publikum ein unglaubliches Musikerlebnis. Eben - Grand opéra! Große Tableaus mit einem beeindruckenden Frankfurter Chor und Extra-Chor, wie immer von Tilman Michael bestens vorbereitet, für den dies, da er für die nächste Spielzeit nach New York wechselt, die letzte Inszenierung in diesem Jahr in Frankfurt bedeutet.

Henrik Nánási hält die Ereignisdichte im Graben wie auch das komplexe Geschehen auf der Bühne zusammen. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester spielt unter seiner Leitung äußerst souverän, die beiden Welten – die christliche wie die jüdische in den jeweiligen Feststimmungen – klingen sacht und doch eindringlich durch und erscheinen dabei gar nicht so grundverschieden, das Tempo wirkt manchmal etwas zurückgenommen, was aber gerade für die Wucht der szenischen Handlung von Vorteil ist. Die Stimmen können sich entfalten und berühren zutiefst. Zuallererst ist es Rachel, der Ambur Braids eindringlicher Sopran – gerade in den Pianissmo-Passagen –Verletzlichkeit und Größe zugleich verleiht, berückend und anrührend gesungen. Nur ein einziges Mal, sie schreit ihre Wut aber nicht heraus, wird sie ihre Demütigung und Enttäuschung nach Außen kehren: sie ohrfeigt Léopold. Erstaunlich, dass Gürbaca ausgerechnet der Figur der Rachel so wenig Kontur beigeben konnte, im Gegensatz zu ihrer Gegenspielerin Eudoxie, die als moderne Luxusfrau gut charakterisiert ist, und um ihren Platz in der Welt und Hierarchie nicht kämpfen muss, sondern selbstverständlich und raumgreifend beansprucht. Monika Buczkowska überzeugt in dieser Rolle, ihre Koloraturenmeisterschaft sorgt für Zwischenapplaus und ihr heller Sopran ergänzt sich gut mit Braids dramatischerer Stimme.

LA JUIVE hier das Ensemble @ Monika Rittershaus

Auch die Sänger – John Osborn als Éléazar und Simon Lim als Kardinal Brogni – sind als die anderen zwei Gegenspieler beeindruckend. Die zunächst statuarische Gestalt Brognis bekommt immer mehr menschliche Züge, seine aufrichtige Zuwendung zu Rachel, die er retten möchte, verleiht der Figur Verletzlichkeit. Simon Lims Bass ist sehr gut geführt und am Ende ist der Kirchenfürst nur noch Mensch und Vater, der seine Tochter zum zweiten und endgültig Mal verliert. John Osborns Éléazar ist ein gebeutelter Mann, der genauso wie seine Tochter auch äußerlich bloßgestellt wird, dennoch nie an Würde verliert – und mit seinem geschmeidigen Tenor Dagegenhalten kann. Der Zerrissenheit seiner Figur verleiht er Intensität und Strahlkraft, insbesondere seine Arie, in der er aus einem Stoffbündel die kleine Rachel formt und sich daran erinnert, wie fürsorglich er sich um sie gekümmert hat, sorgt für erneuten Szenenapplaus. Beide Männer ringen mit ihren Gefühlen, beider Leben ist von Leid geprägt, eine Versöhnung ist aber nicht möglich.

Léopold ist aber die eigentlich „tragische“ Figur, weil sein Agieren – auch wenn er letztendlich verbannt, aber am Leben bleibt – nur auf dem Schlachtfeld von Erfolg gekrönt ist, im Privaten scheitert er auf ganzer Linie. Gerard Schneiders wohlklingender und hoher Tenor verleiht diesem eigentlich zaudernden Menschen stimmlich und darstellerisch Profil, er desavouiert ihn nicht, sondern erweckt Mitleid; seinem Unvermögen sich wahrhaftig zu verhalten, liegt sein ungelenkes und zutiefst unsicheres Auftreten zugrunde. Anschaulich kommt das zum Vorschein in der Videoeinspielung (Nadja Krüger). Die Verhältnisse bestimmen über ihn, er ist – Held hin oder her – nicht Herr seiner selbst.

Sebastian Geyer als Ruggiero, der den äußerst agilen und wendigen Bürgermeister gibt – bei Scribe ist er der "Schultheiß von Konstanz" –, überzeugt ebenso wie Danylo Matviienko als Albert, der den Hauptmann der Bogenschützen verkörpert. Und nicht zuletzt sollte der Chorsänger Olivier Brunel in einer kleinen Solopartie „ein Mann aus dem Volk“ erwähnt werden.

Das Einheitsbühnenbild von Klaus Grünberg (Bühnenbildmitarbeit Anne Kuhn) ist wahlweise ein Kirchen- oder Festraum, auch für das Pessachfest wie für die großen Chorszenen gibt es den Hintergrund ab; Grünberg ist zudem für das Licht, dunkler und intimer bei der Pessachfeier, und die Animationen verantwortlich. Die Kostüme von Silke Willrett (Kostümmitarbeit Carl-Christian Andresen) changieren von zeitlosen bis zu stilisierten Kostümen der Frührenaissance, die allerdings nur den staatlichen Würdenträgern vorbehalten bleiben. Begeisterter Applaus für alle Mitwirkenden rundet den spannenden Abend ab.