Frankfurt, Oper Frankfurt, DIE ERSTEN MENSCHEN - Oper Rudi Stephan, IOCO Kritik, 16.07.2023
DIE ERSTEN MENSCHEN - Rudi Stephan
- das aus dem Paradies vertriebene erste Menschenpaar und ihre zwei Söhne .... -
von Ljerka Oreskovic Herrmann
Fast auf den Tag genau 123 Jahre nach der Uraufführung im Frankfurter Opernhaus, der heutigen Alten Oper, erklingt die einzige Oper von Rudi Stephan erneut – diesmal in der heutigen Oper Frankfurt am Willy-Brandt-Platz. Stephan wurde 1887 in Worms geboren, studierte in Frankfurt und München, wo er bis zu seiner Einberufung als freischaffender Komponist lebte. Bekannt wurde Stephan durch Orchesterwerke, die nicht nur eine große Begabung erkennen ließen, sondern ebenso große Erwartungen in seine musikalische Entwicklung weckten. Seine Musik für sieben Saiteninstrumente wurde als „neuartige Tonsprache“ von der Kritik gelobt. Von 1909 bis 1914 arbeitete Rudi Stephan an seiner Oper Die ersten Menschen, die er zugleich als sein Hauptwerk betrachtete und auf traurige Weise Recht behalten sollte. Die Uraufführung von Die ersten Menschen, seinem musikalischen Drama in zwei Akten, erlebte Stephan nicht. Er fiel als Soldat 1915 – gerade einmal 28 Jahre alt – im Kampf um Tarnopol in Galizien, im Westen der heutigen, um ihren Fortbestand ringenden, Ukraine gelegen. Nicht nur sein künstlerischer Werdegang wurde jäh unterbrochen, eine ganze Generation bezahlte den Schlachtenwahn des 1. Weltkrieges mit dem Leben.
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Der Text stammt von Otto Borngräber nach seinem gleichnamigen „Erotischen Mysterium“, in dem er das aus dem Paradies vertriebene erste Menschenpaar und ihre zwei Söhne auftreten lässt, der dritte im Alten Testament erwähnte Sohn ist allerdings nicht in die Handlung eingebettet. Die von ihm genutzten Umschriften der hebräischen Namen ist der Zeit geschuldet, wie auch dem Einfluss der damals populär werdenden Psychoanalyse, die eine stärkere psychologische Spannung in die Figuren und das Drama legt und nicht zu einer simplen Nacherzählung der Ursünde aus dem ersten Buch Mose gerät. Im Zentrum steht das erotische Begehren dreier miteinander als Familie verbundenen Personen, während das vierte Familienmitglied – der Vater – sich allein auf das Überleben konzentriert und zum Leidwesen seiner Frau sich von jeglicher Sinnenlust freimacht. Diese Menschen haben allerdings nicht deckungsgleiche Sehnsüchte und ein gieriges Verlangen nach einem neuen Leben, das auch in einen existentiellen Kampf der Ideen mündet: inbrünstig vorgetragen von Ian Koziaras Chabel, als den in Abstimmung mit dem Vater (und auch der ihm zugeneigten Mutter) erzeugten Gottesglauben-Repräsentanten, während dagegen der ältere Sohn Kajin, den Iain MacNeil mit der jugendlich-rebellischen Verve verkörpert, die Existenz und Sinnhaftigkeit einer Gottesfigur leugnet und auf der Suche nach einer Frau ist. Es ist ein interessanter philosophischer Diskussionsstoff für eine Oper, den Kratzer aufgreift und gekonnt mit den Figuren und ihrem Leiden an den jeweils eigenen Begierden verknüpft.
Die zentrale Person und einzige weibliche Stimme im Stück ist Chawa – Ehefrau von Adahm und Mutter der beiden Söhne. Auf sie werden Kajin und Chabel ihre erotischen Gelüste projizieren – es ist ja weit und breit keine andere Frau zu finden –, aus einer nicht unüblichen brüderlichen Rivalität um die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Mutter erwächst die Katastrophe. Aber auch Chawa trägt daran Schuld, denn sie bevorzugt ohnehin den jüngeren Sohn Chabel, sie liebt ihn, Kajin stößt sie dagegen ab. Ihre erotisch-inzestuöse Hinwendung zu Chabel, der erst spät seine Erotik und das Begehren der eigenen Mutter entdeckt, ist der Auslöser für Kajin und seine Tat. Für Ambur Braid, die zum Saisonende die Oper Frankfurt verlässt, ist es eine grandiose Partie, die viel abverlangt – stimmlich wie darstellerisch – und die sie mit beeindruckender Bravour meistert.
Adahm – gesungen von Andreas Bauer Kanabas – ist der gediegene, schaffende und gottesgläubige Vater, der den Zusammenhalt der Familie angesichts einer kaum überwundenen Endzeitstimmung zusammen zu halten versucht. Adahms ruhige und bedächtige Art setzt genau die richtige Tonlage und schafft den nötigen Konflikt zwischen ihm und Chawa. Ihre Wünsche – mehr Intimität und noch ein Kind – nimmt er kaum zur Kenntnis, ja er begreift sie nicht einmal. Er will nur in Ruhe und endlich in Frieden leben und den Wiederaufbau leisten. Damit wären wir bei der grundsätzlichen Änderung die Kratzer vornimmt. Er zeigt nicht die ersten, sondern die letzten Menschen, die ihr Dasein unterhalb der Erdoberfläche fristen, während auf ihr eine „postkatastrophische Landschaft“ (Kratzer) nicht mehr bewohnbar ist; nur im Schutzanzug kann man sich dort zunächst bewegen. Für die Szenerie und Kostüme zeichnet Rainer Sellmaier verantwortlich; der erste Aufzug zeigt eine Pseudohäuslichkeit mit Küche und Wohnzimmer, erst die rechts und links verschobenen Sichtwände geben den Blick auf den von Adahm betriebenen Generator (rechts) und die nach oben führende Treppe sowie den gut gefüllten Vorratsraum (links) frei.
Die vorgeführte Idylle ist allein aufgrund der psychologischen Gemengelage innerhalb der Familie keine, die sich oben abgespielten Verwüstungen finden ihre Fortsetzung in den Personen. Auch der Disput über einen möglichen Gott, der dies alles doch zugelassen hat, und einer durch Opferleistungen ersehnten Erlösung führt zu keiner Beruhigung. Dazu sind Chabel und Kajin grundsätzlich zu verschieden; Koziara und MacNeil überzeugen in jeder Hinsicht als das unterschiedliche Bruderpaar. Das sich abspielende Familiendrama findet für Kratzer nicht nach der Vertreibung aus den paradiesischen Zuständen – der Garten Eden bot für ihn keinen „unschuldigen Urzustand“ und ist letztlich auch uninteressant –, sondern nach einer, wodurch auch immer ausgelösten Katastrophe statt. Kratzer unterliegt jedoch nicht der Versuchung, die aktuellen Kriegsgeschehnisse in der Ukraine szenisch umzusetzen, was sich gerade auch angesichts der Tatsache, dass Rudi Stephan ebendort vor über einen Jahrhundert auf dem Schlachtfeld den Tod fand, leicht angeboten hätte.
Im zweiten Aufzug, zum ersten Mal gehen die Bewohner zwar in Schutzanzug jedoch ohne Gasmaske nach oben, spitzt sich die Situation zu. Nur für einen kurzen Moment gibt es so etwas wie einen Anflug von Glück und Freude, als sich Chawa und Chabel nahe kommen und eine berührende Arie vortragen. Aber die dystopische Gegend (von Joachim Kleins flackerndem Licht entsprechend beleuchtet, für die Videoeinspielungen der kurzen und scheinbar glücklichen Kindheitssequenzen ist Manuel Braun zuständig) ist kein Ort für erfüllte Liebe, das Begehren wird drastisch und auf die unmittelbare Befriedigung der angestauten und sich entladenden erotischen Gelüste ausgerichtet. Dass das Stück von Borngräber 1912 bei der Uraufführung in München einen Skandal auslöste und anschließend im gesamten Königreich Bayern verboten wurde, verwundert angesichts Kratzers deutlicher Bildsprache auch aus heutiger Perspektive nicht. Man täte Kratzer allerdings Unrecht seine Interpretation auf den erhofften Schock zu reduzieren. Im Gegenteil, Kratzers Regie gelingt es nachdrücklich die unterschiedlichen Bedürfnisse der auf sich selbst zurückgeworfenen vier ineinander verstrickten Familienmitglieder zu veranschaulichen; nicht zuletzt verdankt sich das auch den exzellenten Mitwirkenden, die darstellerisch und stimmlich Höchstleistungen aufbieten. Adahm kommt aber zu spät und kann nur noch die Rache Chawas an Kajin verhindern, beide finden über den Tod des Sohnes wohl irgendwie zueinander und sehen seinen Verlust als Gottesopfer, während Kajin sich von seinen Begierden zu befreien versucht. Am Ende lässt Kratzer andere Menschen aus den Luken hochsteigen, aber der Zukunftserwartung auf ein besseres Leben scheint Kratzer nicht so richtig zu trauen, im Gegensatz zum klanglichen Geschehen, das eindeutig mehr Hoffnung verströmt.
Stephans Musik ist tonal, opulent, der junge Schönberg klingt da ebenso an wie Strauss oder Wagner – wobei dem letzteren sogar die Dichtung in etwas verdruckster Sprache zu folgen scheint – und auch jazzige Element leuchten auf. Für die Gesangspartien hat er durchgehend melodisch komponiert, das bewegendste Duett gehört Chawa und Chabel, der Mutter und dem von ihr geliebten Sohn. Die unglaubliche Leistung des Sängerensembles wird vom Publikum entsprechend gefeiert, auch das Regieteam erhält große Zustimmung. Den größten Zuspruch erfährt an diesem Premierenabend allerdings das Orchester unter der Leitung seines Generalmusikdirektors Sebastian Weigle.
Das Frankfurter Oper- und Museumsorchester gibt unter Sebastian Weigles Dirigat der Originalität der Klangfarben den größtmöglichen Raum, Klangfülle ebenso aufbietend wie die (für das damalige Publikum) andersartigen Harmonien. Dass dabei Wagner und auch Strauss heraushörbar sind, verwundert nicht – sind es doch gerade diese beiden Komponisten, die Weigle besonders schätzt und gerne zur Aufführung bringt. Und es scheint so, als wolle er noch einmal alles vorführen, was „sein“ Orchester vermag und dieses kann wirklich alles. Es ist Weigles letzte Premiere als Generalmusikdirektor an der Oper Frankfurt. Nach Saisonende 2023 verlässt Weigle die Oper Frankfurt, um sicherlich als Gast wiederzukehren. Das gesamte Orchester folgt ihm auf die Bühne, damit er in einer kurzen Zeremonie entsprechend verabschiedet werden kann. Dafür sorgt äußerst souverän der erst vor einigen Monaten ins Amt gewählte Oberbürgermeister Mike Josef. Er überreicht Weigle die Ehrenmitgliedschaft der Städtischen Bühnen Frankfurt und würdigt in einer kurzen und pointierten Rede die Leistungen des scheidenden Generalsmusikdirektors. Kein Vorgänger war so lange an der Oper Frankfurt – an über 500 Abenden hat er am Pult der Oper Frankfurt gestanden –, und fast noch bedeutsamer, verlief die Zusammenarbeit von GMD Weigle und Intendant Bernd Loebe geräuschlos und konfliktfrei – etwas, was nicht selbstverständlich ist; da schwang leise Ironie mit und Josef hatte die Lacher auf seiner Seite, als er hinzufügte, dass das selbst unter Parteifreunden nicht immer gelänge. Sichtlich bewegt verabschiedete sich Weigle von „seinem“ Orchester und dem Frankfurter Publikum, das ihn all die Jahre treu begleitet hat.