Frankfurt, Oper Frankfurt, Der Sandmann - Andrea Lorenzo Scartazzini, IOCO Kritik, 27.09.2016
Der Sandmann: "Die neue Opernsaison an der Oper Frankfurt beginnt mit einer Übernahme der Baseler Uraufführungsproduktion des Sandmann von Andrea Lorenzo Scartazzini, in der Regie von Christof Loy. ." Von Ljerka Oreskovic Herrmann"
Der Sandmann - Andrea Lorenzo Scartazzini
"ALLES EINE FRAGE DER PROGRAMMIERUNG"
Von Ljerka Oreskovic Herrmann
Die neue Opernsaison an der Oper Frankfurt beginnt mit einer Übernahme der Baseler Uraufführungsproduktion des Sandmann von Andrea Lorenzo Scartazzini, in der Regie von Christof Loy.
E.T.A. Hoffmanns Sandmann-Erzählung erschien erstmals 1816. Zweihundert Jahre später ist in der Oper Frankfurt die deutsche Erstaufführung von Andrea Lorenzo Scartazzinis 2012 entstandener gleichnamiger Oper zu sehen. Das Unheimliche, zentrales Motiv bei E.T.A. Hoffmann, ist auch in den zehn Bildern der Sandmann-Oper spürbar, und doch ist es auch eine (Librettio: Thomas Jonigk) Beziehungsgeschichte von heute: Ein Mann und eine Frau, mit unterschiedlichen Zielen und Wünschen, die nicht kompatibel sind. Das Unheimliche ist nicht das Schauermärchen, das Kindern den Schlaf raubt, es ist wie es Nathanaels Vater prägnant formuliert: das Trauma, die Traumata, die wir im Elternhaus erleben und ein Leben lang nicht mehr abschütteln können.
Die Rahmen-Handlung findet durch einen Licht-Rahmen (Bühnenbild: Barbara Pral, Licht: Stefan Bolliger), der die fast vollständig schwarze rechteckige Bühne umfasst, ihre Entsprechung. Für die Liebenden gibt es daraus keinen gemeinsamen Ausgang, nur die „Gespenster“ passieren die beiden Welten mühelos. Auf mehreren Ebenen wird die Geschichte erzählt.
Da ist Nathanael, der sich im Wahnsinn verfängt und als großer Schriftsteller wähnt, gepeinigt von den nur für ihn sichtbaren Toten – sein Vater und Coppelius. Diese beiden sind die Spielmacher, fast möchte man sie Conferenciers nennen, weil sie auch den Kommentar zur Handlung liefern. Komisch und wunderbar grotesk ist das von Loy inszeniert, wohlwissend, dass der Abgrund zu tief wäre; lieber lässt er uns darüber lachen.
Und dann gibt es noch Clara, im weißen Kleid der Lichtpunkt, die immer verzweifelter angesichts des sich im Wahn verlierenden Nathanael wird. Zumal ebendieser mittlerweile Clarissa – bei Hoffmann ein Puppenautomat, bei Jonigk und Scartazzini ein Android, der allerdings immer neu programmiert werden muss – in ihrem roten Kleid anziehender findet. Eine Männer-Vision, die kaum zufällig an den 1975 entstandenen Film Die Frauen von Stepford erinnert, wo echte (Ehe-)-Frauen von Androiden ersetzt werden. Sie sehen gut aus, sind immer freundlich, für den Mann immer da und verfügbar. Am Ende tragen alle Chor-damen rote Kleider wie Clarissa – unentscheidbar identisch sollen sie aussehen, jegliche Individualität verlierend, ist dies zugleich ein geschickt verpackter Hinweis auf die heutige Gleichförmigkeit und Gleichmacherei. Das Orchester dagegen entwickelt (nicht nur) für die Liebenden eigene Klangfarben: das Akkordeon ist der zärtliche Begleiter. Die Streicher können stattdessen fast bedrohlich scharf klingen. Der weibliche Computermensch verfügt über einen begrenzten Sprach- und Tonvorrat, auf den der rot gewandete Damenchor (Kostüme: Ursula Renzenbrink) aufspringt um ihn musikalisch wie sprachlich zu sprengen und Nathanael vollends in den Wahnsinn zu treiben.
Hartmut Keil leitet das gut einstudierte Orchester sehr souverän durch den Abend, klar und transparent gelingt ihm der musikalische Bogen. Die Sänger, allen voran Daniel Schmutzhard als Nathanael, Thomas Piffka (Vater) und Hans-Jürgen Schöpflin (Coppelius) sowie Daniel Miroslaw (Lothar) sind musikalisch und darstellerisch sehr überzeugend. Ebenso wie der in jeder Hinsicht gut geführte Chor. Clara/Clarissa, hervorragend Agneta Eichenholz, bleibt wie schon bei Hoffmann zurück. Die Entfremdung zwischen ihr und den in ihren Augen Möchtegern-Autor Nathanael ist unüberbrückbar. Nathanael phantasiert von einer toten Clara, mit der er intim werden möchte, ihr Entsetzen darüber und die Erlösung am Ende als er stirbt, gehören zusammen: Auf die Frage ihres Bruders beim Begräbnis, wie sie sich fühle, antwortet sie mit einem unverhohlenen „besser“. Dieses leise verhauchte „besser“ könnte ein vager Hoffnungsschimmer für eine bessere Zukunft sein. Mit diesem Trost, keineswegs aber sicherer Gewissheit, und wie bei Loy gewohnt gut durchdachten Inszenierung, entlässt uns der rundum geglückte Saisonstart der Oper Frankfurt nachdenklich nach Hause. IOCO / Ljerka Oreskovic Herrmann / 25.09.2016
Oper Frankfurt - Der Sandmann, weitere Vorstellungen: 30.9.2016, 03.10.2016, 08.10.2016, 13.10.2016, 23.10.2016
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