Frankfurt, Hessischer Rundfunk, hr-sinfonieorchester - Strauss, Bruch, Pejacevic, IOCO Kritik, 16.03.2023
AUFTAKT - hr-Sinfonieorchester - hr-Sendesaal
- Richard Strauss, Max Bruch und die Wiederentdeckung von Dora Pejacevic -
von Ljerka Oreskovic Herrmann
Heutzutage können Radio-Symphonie-Orchester zur Verfügungsmasse werden, denn als große Klangkörper bedeutet die Erhaltung einen ökonomischen Aufwand. Auf der anderen Seite dieser Rechnung steht ein künstlerischer Wert, der nicht exakt zu beziffern ist, jedoch einen geistigen und kulturellen Reichtum bereithält: Musik verbindet! Wird gern und oft zitiert, leider folgt anschließend das berühmte „aber“: Ist der Preis angemessen für dieses „Vergnügen“? Diese Frage stellt sich gerade für das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, einem Orchester, das sich der „Wiener Tradition des Orchesterspiels verbunden fühlt“, mit bedeutenden Dirigenten-Persönlichkeiten arbeitete – stellvertretend sei nur der kürzlich verstorbene Komponist und Dirigent Friedrich Cerha genannt – und nun den Sparzwängen zum Opfer fallen könnte.
Diese, einem Sender zugehörigen Orchester blicken oft auf eine lange künstlerische Entwicklungsgeschichte zurück, sind Bewahrer und Förderer in Einem, geben gerade mit ihren Konzertreihen jungen Musikerinnen und Musikern Gelegenheit, einem größeren Publikum bekannt zu werden. Oder auch das eigene Repertoire zu erweitern. In seiner Reihe AUFTAKT präsentierte das hr-Sinfonieorchester an zwei Abenden beides: Eine junge Geigerin, Simone Lamsma, und das Werk einer Komponistin, Dora Pejacevic, das nie zuvor im hr-Sendesaal zu hören war.
Der Hessische Rundfunk und sein Großer Sendesaal, Foto oben, in dem die AUFTAKT-Reihe des hr-Sinfonieorchesters präsentiert wird, haben einen besonderen historischen Hintergrund – der Verwendungszweck des Gebäudes war ursprünglich ein anderer. Nach den Plänen des Architekten Gerhard Weber, entstand 1949 ein Rundbau, der als Plenarsaal für den künftigen Deutschen Bundestag, dienen sollte. Frankfurt wurde, wie bekannt, nicht Bundeshauptstadt, sondern Bonn, so dass der Rohbau zum Studiogebäude umgebaut wurde, in das der Sender 1951 einziehen konnte. 1953 begann, an die Rotunde anschließend, der Bau des Großen Sendesaals, als Arbeits- und Wirkungsstätte des eigenen Orchesters; in den 1980er Jahren wurde er umgebaut und erhält die heutige Ausgestaltung, in dem maximal 840 Sitzplätze belegt werden können. Eine weitere besondere Begebenheit hat der alte Sendesaal aufzubieten: 1957 fand dort der, wie er damals noch hieß, Grand Prix Eurovision de la Chanson statt.
Der AUFTAKT-Abend beginnt mit Don Juan, op. 20, von Richard Strauss 1888 komponiert; daran schließt sich das 1. Violinkonzert g-Moll, op. 26 von Max Bruch (1865-67) an. Nach der Pause erklingt die Symphonie fis-Moll, op. 41 von Dora Pejacevic (1916-17). Alle drei sind im 19. Jahrhundert geboren, von ähnlichen musikalischen Einflüssen geprägt, die sie unterschiedlich fortführten und doch auch, was an diesem Abend erlebbar wurde, Berührungspunkte aufweisen. Das einsätzige programmatische Orchesterwerk, seine erste, wie Strauss es nannte, Tondichtung für großes Orchester, ist dramaturgisch geschickt an den Anfang gestellt worden, nicht nur weil es das kürzeste Stück des Abends ist, sondern die Werke auf das, für die meisten im Publikum, großen Finale einer unbekannten Symphonie zulaufen lässt. Dazwischen das 1. Violinkonzert g-Moll von Bruch.
Jader Bignamini, für den erkrankten Dirigenten Ivan Repušic kurzfristig eingesprungen, ist in Frankfurt kein Unbekannter: In der Spielzeit 2018/19 hatte der gebürtige Italiener La forza del destino, zuvor schon ebenfalls von Verdi Oberto (konzertant) und Il trovatore an der Oper Frankfurt dirigiert. In München, Rom, beim Verdi-Festival in Parma oder auch im Teatro La Fenice in Venedig dirigierte er verschiedene Opern; 2015 gab er sein Konzertdebut an der Mailänder Scala. Seit 2020/21 ist er Chefdirigent des Detroit Symphony Orchestra. Bignamini ist ein zupackender Mann, kaum steht er am Pult, legt er los. Flott und dynamisch, die orchestrale Pracht, auch mit großer Gestik beschwörend und den „Strauss-Tonfall“ suchend, so wie der Namensgeber dieser Tondichtung ein Suchender ist; Bignamini, der auswendig dirigiert, und dem Orchester gelingt eine stimmungsvolle Interpretation, die die Virtuosität, die Rhythmik und die lyrischen Melodien von Strauss’ Vertonung hörbar werden lassen. Mit der Vertonung des gleichnamigen, jedoch nicht vollendeten, Versdrama Nikolai Lenaus (1844), schaffte der 25-jährige Komponist 1889 seinen Durchbruch.
Bruchs Violinkonzert, sein berühmtestes Werk, das er am Ende fast hasste, da es seine anderen überstrahlte und ihn, als musikalisch schon zu Lebzeiten in der Klassik feststeckenden Komponisten verankerte, passt dennoch hervorragend als Schnittstelle zwischen Strauss und Pejacevic. Es zeigt, dass Bruch nicht nur in der Tradition verhaftet war, sondern im Violinkonzert über diese hinausgeht, auch wenn er sich „formal“ an ihr orientiert. Er folgt der dreisätzigen Form, gewichtet ihre Satzfolge – schnell, langsam, schnell – anders und verwendet, was nicht der üblichen Gestaltung entspricht, für alle drei Sätze die Sonatenform. Bruch holte sich, da er mit der Geigentechnik wenig vertraut war, einschlägigen Rat bei Joseph Joachim, der nicht nur Brahms-Freund, sondern der bedeutendste Geiger seiner Zeit war und erhebliche Verdienste um Bruchs Werk besitzt.
Die Solistin des Abends ist die junge niederländische Geigerin Simone Lamsma, die bereits mit einer Reihe namhafter Dirigenten und Orchester zusammengearbeitet hat, darunter mit Paavo Järvi im Concertgebouw Amsterdam, mit Gianandrea Noseda und dem London Symphony Orchestra, unter Antonio Pappano mit dem Orchestra dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia, mit Juraj Valcuha und dem Konzerthausorchester Berlin oder auch Simone Young und dem National Symphony Orchestra Washington.
Bignamini dirigiert erneut auswendig und dass er als Operndirigent mit „Solostimmen“ vertraut ist, zeigt sich in seiner exzellenten Begleitung von Simone Lamsma, deren Geigenspiel von Intensität und Innigkeit er mitträgt und regelrecht schweben lässt. Die Balance zwischen dem zweiten langsamen Satz und ihrem virtuosen Spiel im Finale, in dem der Einfluss Joachims und seiner ungarischen Herkunft aufscheint, gelingen Bignamini und Lamsma mit einer begeisternden und mitreißenden Leichtigkeit, die zu Recht vom Publikum gefeiert wird. Der Solistin bekunden auch die Orchestermitglieder ihre Anerkennung. Als Zugabe spielt sie auf ihrer Mlynarski-Stradivari von 1718, Leihgabe eines anonymen Mäzens, Johann Sebastians Bachs Largo aus der Sonate für Violine solo, Nr. 3 in C-Dur, BWV 1005, das wie geschaffen ist für diesen Konzertsaal, in dem ebenfalls die Konzerte der Reihe Barock+ stattfinden. Mit gebührendem Applaus wird Simone Lamsma, die sich nach der Pause unter das Publikum mischt und Platz nimmt, verabschiedet.
Das „Finale“ des Konzertabends gehört Dora Pejacevic und ihrem wichtigsten Werk, der Symphonie fis-Moll, das sie mit 30 Jahren komponierte und ihrer Mutter widmete. Wenn man so will, bildet ihre Mutter, eine ausgebildete Sängerin und Pianistin, die „heimatliche“ Verbindung zu dem oben erwähnten Joachim, der ebenfalls aus Ungarn stammte; die eigentliche Verbindungslinie gehört aber Pejacevic selbst, da sie bei dem Niederländer Henri Petri, einem Schüler Joachims, in Dresden Geige studierte, des Weiteren der Verweis auf den Bruch-Kollegen und Freund Johannes Brahms und seiner „entwickelnden Variation“, was Pejacevic in der ihr eigenen souveränen Weise ausführt. Ihre Symphonie, die eine seltener verwendete Tonart aufweist – im 18. Jahrhundert gibt es praktisch nur die Abschiedssymphonie von Joseph Haydn – benötigt einen großen Orchesterapparat und nicht nur in dieser Hinsicht ist sie näher an Strauss, dessen Opernuraufführungen von Elektra und Rosenkavalier sie wohl in Dresden miterlebte. Das viersätzige Werk beeindruckt durch seine Instrumentierung, den gekonnten Wechsel von kammermusikalischen Partien und Tutti, die – wie bei Strauss – enorme Klangwirkungen entfalten, mit Überraschungen in Rhythmik und Klangfarbe. Die Uraufführung der Symphonie im Januar 1918 – wenn auch nicht der gesamten, sondern nur der beiden mittleren Sätze – war ein großer künstlerischer Erfolg für Dora Pejacevic und zeigt, dass sie das musikalische Handwerk absolut beherrschte. Bignamini dirigiert auch ihr Werk auswendig, was zunächst überraschend klingen mag, da die „Wiederentdeckung“ Pejacevics erst so richtig in den letzten Jahren einsetzte, erklärt sich jedoch aus der Tatsache, dass er es Ende Februar mit seinem Detroit Symphony Orchestra aufführte.
Gewürdigt werden muss insbesondere die exzellente Leistung der Bläser, was das begeisterte Publikum, von dem Werk beinahe überwältigt, entsprechend würdigte. Es ist ein Verdienst des hr-Sinfonieorchesters, die Zusammenhänge dreier unterschiedlicher Werk so gekonnt aufzuzeigen, und nicht zuletzt von Jader Bignamini, der den musikalischen Bogen geschickt spannte und anschaulich machte – insbesondere bei seinem so kurzfristigen Engagement. Die Veranstaltung wurde zu einem Entdeckungs- und Erlebnisabend, was vom Publikum mit anhaltendem Applaus belohnt wurde.