Frankfurt a.M, Oper Frankfurt, GUERCŒUR - von Albéric Magnard, IOCO
![Frankfurt a.M, Oper Frankfurt, GUERCŒUR - von Albéric Magnard, IOCO](/content/images/size/w1200/2025/02/Frankfurt_St-dtische_B-hnen.20140423.jpg)
Verrat ist ein wiederkehrendes Thema in der Oper, was daraus folgt, bedeutet selten etwas Gutes. Die Erschütterungen zeigen sich oftmals zuerst im Privaten, schließlich auch im gesellschaftlichen Kontext, allerdings nicht sehr oft in politisch ausbuchstabierter Prognose, bei der dem Verrat im Kleinen oder Privaten, der Verrat im Großen folgt: die hehren Ideale und politischen Wohltaten eines Volkstribuns enden in Schutt und Asche.
Albéric Magnard, 1865 geboren und damit nur ein Jahr jünger als Richard Strauss, ist rechts des Rheins ein wenig bekannter französischer Komponist, dessen früher Tod, durch deutsche Soldaten verschuldet, die ihn in seinem Haus im September 1914 in Baron (Département Oise) in Brand steckten, sein Schaffen jäh beendete. 21 Kompositionen und zwei Werke ohne Opusbezeichnung umfasst sein Œuvre; dazu zählen drei Opern. Die mittlere dreiaktige Oper Guercœur (Tragédie en musique), zwischen 1897 und 1901 entstanden, fiel mit dem Komponisten den Flammen zum Opfer und musste erst rekonstruiert werden; die Uraufführung fand postum 1931 in der Opéra Garnier statt, um eine Wiederentdeckung und deutsche Erstaufführung machte sich das Theater Osnabrück 2019 verdient. Für die Frankfurter Erstaufführung, in der alle Mitwirkenden erwartungsgemäß ihre Rollendebüts geben, wurden David Hermann als Regisseur, Marie Jacquot als Dirigentin und für den Chor ebenfalls ein Französin Virginie Déjos verpflichtet. Dass in diesem Fall die muttersprachliche Kompetenz vorteilhaft war, beglaubigt zuvorderst die herausragende Leistung des Chores – wie immer mit beispielhafter Bühnenpräsenz zu erleben –, der oftmals aus dem OFF singt und dabei deutlich zu verstehen ist. Dies gilt ebenso für das Sängerensemble.
Im hellen, von Vorhängen aufgeteilten pavillonartigen Haus – das ansprechende Bühnenbild von Jo Schramm sorgt im zweiten Akt für eine spektakuläre Szene – liegt im Eröffnungsbild ein Mann regungslos auf einem Bett, das aufgeregte Treiben seiner Frau und das Notarztteam, das ihn nach vergeblichem Rettungsversuch aus dem Haus auf einer Trage hinausträgt, kontrastiert den fast friedlichen Eindruck. Dieser Mann ist jedoch nur die leblose Hülle eines anderen, Guercœur, der tote Titelheld, dessen Kleidung wie er selbst fahl und bleich – ein Schatten seiner selbst – kommentiert fassungslos die Vorgänge, kann aber von keinem anderen gesehen oder gar verstanden werden. Er leidet an der Tatsache, das Diesseits verlassen zu haben und sich unvermutet in einem Jenseits wiederzufinden, das im wahrsten Sinne des Wortes nicht seine Welt ist; seine Erdenmission – sein Volk hat er einst in die Freiheit geführt – glaubt er noch nicht beendet zu haben, und er wird alles in Bewegung setzten und die vier Gottheiten davon überzeugen, dorthin wieder zurückzukehren. Bis dahin könnte es auch nach einem Mysterienspiel oder Oratorium klingen, was musikalisch immer wieder hervorscheint, aber das Diesseits wird später mit brachialer Gewalt zuschlagen.
![](https://www.ioco.de/content/images/2025/02/5559_guercur01_gross.jpg)
Domen Križaj, der aus Slowenien stammende Bariton und seit 2020/21 Ensemblemitglied an der Oper Frankfurt, verfügt nicht nur über eine exzellente Klangfarbe, Ausdrucksstärke und Modulationsfähigkeit, sondern verleiht diesem Guercœur, der am Ende schmerzlich seinen Selbstbetrug erkennt, Statur; dieser Mann ist nirgendwo mehr zu Hause, es gibt keinen Halt mehr für ihn – schon gar nicht in der Liebe, wie er bitter bei der erneuten Begegnung mit seiner geliebten Giselle erfahren wird. Das Changieren zwischen Schattenwelt und irdischem Treiben, der endgültige erneute Tod und das sich trotzige Fügen darin, kurzum die musikalische wie darstellerische Entwicklung dieses Titelhelden beglaubigt Križaj meisterhaft.
Heurtal, sein Schüler, kann durchaus als Profiteur bezeichnet werden, der die Gunst der Stunde zu nutzen weiß. AJ Glueckert verleiht ihm präzise im Ton und Ausdruck Gestalt, ein Hauch mehr sprachlichen Feinschliffs hätte das Skrupellose dieser Figur noch stärker akzentuiert. Seinen Meister Guercœur hat er in jeder Hinsicht hinter sich gelassen, die von ihm begehrte Frau ist gleichsam auch seine Trophäe. Er hat für sie beide große Pläne, sich vom hungerleidenden Volk zum Diktator wählen zu lassen und mit ihr das (glamouröse?) Herrscherpaar zu bilden, so dass er Giselles Bedenken ungerührt beiseite Schieben kann. Diese wiederum – von Claudia Mahnke innig, ausdruckstark, mit glänzenden Timbre präsentiert und zu Recht vom Publikum gefeiert – hadert mit ihrem Wortbruch. Der Verrat an dem Mann, dem sie einst Liebe über den Tod hinaus schwor, bereitet ihr zwar Schwierigkeiten, aber sie will das neue Glück um jeden Preis, denn Heurtal steht für all ihre Sehnsüchte, die Guercœur nie verkörperte; die dahinter stehende politische Dimension dieser neuen Liaison klammert sie vollständig aus, einzig ihre momentanen Gefühle und ihr Traum vom Mutterglück zählen.
![](https://www.ioco.de/content/images/2025/02/5568_guercur10_gross.jpg)
Die vier Gottheiten Vérité, Bonté, Beauté und Souffrance sind keine Feenartigen, duldsamen Wesen, sondern Hüterinnen einer Ordnung, die ihnen ganz konkret Macht und Geschick im Jenseits verleiht. Während die ersten drei Guercœurs Bitte, in die Welt der Lebenden zurückkehren zu können, entsprechen wollen, entpuppt sich Souffrance – ihr Name ist Programm! – als Widersacherin, die diesen für seinen „weltlichen“ Hochmut unbedingt bestraft sehen will. Anna Gabler als Vérité wird ein Machtwort sprechen, ihr zur Seite stehen die bewährten Ensemblemitglieder Bianca Andrew als Bonté und Bianca Tognocchi als Beauté, während Judita Nagyovás dunkler Mezzosopran kräftig dagegenhalten wird.
Geschickt verbindet der Regisseur diese Auseinandersetzung mit der parallel stattfindenden Trauerfeier für Guercœur, die geprägt ist von den üblichen Ritualen der in diesem Fall nicht hörbaren Reden, Beileidsbekundungen und Verneigungen vor dem Grab, aber bereits Zukünftiges – Heurtal sitzt neben der trauernden Giselle – anzeigt. Während hier selbstverständlich die schwarze Trauerkleidung vorherrscht, tragen die Gottheiten bonbonfarbene Cocktailkleider (Kostüm: Sibylle Wallum) – optisch ein schöner Kontrast, aber ein trügerischer. In einer Überblendung der (schillernden) Rheintöchter und Nornen aus Der Ring des Nibelungen, die dort von jeweils drei Sängerinnen dargestellt werden, und letztgenannte schicksalsbestimmende, namenlose weibliche Wesen sind, spielen die vier Gottheiten bei Magnard eine ähnliche Rolle, und nicht nur an dieser Stelle lässt sich der Einfluss seines Vorbilds aus Bayreuth erkennen: „Magnards Verehrung für Richard Wagner findet sich an so vielen Stellen der Partitur: große Zwischenspiele, wenig Komposition für Ensemble, viel Chor und die Art, wie er ihn einsetzt (...)“, so die Dirigentin Marie Jacquot das Werk beschreibend, ebenso, dass die Leitmotivik eine wichtige Funktion einnimmt und der Komponist, wie Wagner, sein eigner Librettist war.
![](https://www.ioco.de/content/images/2025/02/5566_guercur08_gross.jpg)
Das Schlussbild des zweiten Aktes findet in einem halbrunden Plenarsaal, von weißen Latten anstelle von Wänden abgegrenzt, und der dazugehörigen Fahnensymbolik und erhabenen Ausleuchtung (Licht: Joachim Klein) statt, in dem die aufgeregte Menge über die politische Zukunft ringt. Der äußere Rahmen vergegenwärtigt die Ausrichtung: Hier wird nicht mehr Privates verhandelt, in dieser Hinsicht kann Guercœur nichts mehr ausrichten, denn weder Giselle noch Heurtal wollen ihn zurück, nur das Volk bleibt ihm als möglicher Retter seiner Wiederkehr auf die Erde. Doch auch dieses kann oder will ihn nicht erkennen, bezweifelt seine Wahrhaftigkeit und hat sich längst von ihm und seinen Idealen abgewandt; es hungert und leidet Not, ruft nach einen starken Mann, der die Lösung aller Probleme verkörpert: Heurtal wird zwar gegen Widerstand dennoch zum Diktator gewählt.
Magnard, der noch im zweiten Kaiserreich unter Napoléon III. geboren wurde, die notleidende Situation der Franzosen nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als Kind miterlebt hatte, wenngleich er nie mittellos, sondern zeitlebens finanziell abgesichert war, hat wohl unter dem Eindruck der politischen Verwerfungen – nicht nur in seinem Heimatland Frankreich – Ende des 19. Jahrhunderts eine politische Vision in sein Werk gelegt: der Glaube an ein demokratisches Gemeinwesen. Aber in seinem Stück erleidet diese Hoffnung Schiffbruch, denn die Utopien Guercœurs sind längst vergessen und die Menge wendet sich stattdessen brutal gegen ihn, es endet im buchstäblichen Einsturz aller Träume und Gewissheiten: wenn Latte für Latte einstürzt und eine Trümmerlandschaft hinterlässt. Guercœur findet ein zweites Mal den Tod.
Nur mühsam, wiederstreitend gelingt dem Titelhelden eine Versöhnung mit seinem Schicksal, schlussendlich bittet er – wenngleich verbittert und enttäuscht - die vier Gottheiten um Vergebung, insbesondere Souffrance, die ihm seinen Hochmut und seine Selbsttäuschung vor Augen führte. Es endet mit Vérités Prophezeiung einer friedvollen und freien Zukunft für alle Menschen.
Die Oper endet dort, wo sie begonnen hatte: im Pavillon. Guercœur befindet sich erneut im Schattenreich, dort begegnet er wieder den Schattenwesen: diese werden von den beiden Sängerinnen des Opernstudios Julia Stuart als Schatten eines jungen Mädchens, Cláudia Ribas als Schatten einer Frau und dem Tenor Istvan Balota als Schatten eines Poeten dargestellt. Ebenso sollten die Chorsolistinnen Eui Kyung Kim, Julia Bell, Emma Stannard und Hyemi Rusch-Jung genannt werden.
![](https://www.ioco.de/content/images/2025/02/5579_guercur21_gross.jpg)
Die französische Dirigentin Marie Jacquot ist seit dieser Spielzeit Chefdirigentin des Royal Danish Theatre Copenhagen und wird 2026/27 Chefdirigentin des WDR Sinfonieorchesters. In Frankfurt steht sie zum ersten Mal am Pult des Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchesters. Ihr Dirigat ist zupackend, die eigene musikalische Sprache Magnards, in dem das Sphärische und das Zyklenhafte wiederkehrende Elemente sind, präzise herausgearbeitet wird. Daneben spielt auch die Gewichtung des Textes – der Komponist hat den Text syllabisch vertont – für sie eine wichtige Rolle. Das gilt auch uneingeschränkt für Virginie Déjos, die als Gast die Leitung des Frankfurter Opernchors übernommen hat. Die Französin, derzeit als Chordirektorin am Theater Heidelberg engagiert und 2025 die Assistenz der Chordirektion bei den Bayreuther Festspielen übernimmt, hat sich ebenfalls als Liedbegleiterin einen Namen gemacht und weiß daher um die Bedeutung des Textes. Der Chor, wie zuvor schon erwähnt, leistet Großartiges. Nicht nur seine Leistung, sondern die aller Mitwirkenden werden mit anhaltenden großem Applaus belohnt.