Eutin, Eutiner Festspiele, DER FREISCHÜTZ - C. M. von Weber, IOCO
EUTINER FESTSPIELE - DER FREISCHÜTZ: 203 Jahre nach der Uraufführung vom 18. Juni 1821 präsentieren die Eutiner Festspiele 2024 – auf dem aufwändig um über 17 Millionen Euro umgebauten Areal mit Generalsanierung ....
Eutiner Festspiele 2024 - "Die Wirkung des omnipräsenten Bösen" - Der Freischütz - Premiere vom 19.7.2024
von Michael Adler
203 Jahre nach der Uraufführung vom 18. Juni 1821 präsentieren die Eutiner Festspiele 2024 – auf dem aufwändig um über 17 Millionen Euro umgebauten Areal mit Generalsanierung und Erweiterung von Tribüne, Orchestergraben, Bühne und Probengebäuden im Schlossgarten – den Freischütz von Carl Maria von Weber, 1786 - 1826, dem berühmtesten Sohn der Stadt Eutin, in ihrer 73. Spielzeit.
Die bei der Premiere restlos ausverkaufte Produktion liegt in den Händen von Regisseur Anthony Pilavachi und dem musikalischen Leiter Leslie Suganandarajah, derzeit Musikdirektor des Salzburger Landestheaters, der die brillant musizierende Kammerphilharmonie Lübeck (KaPhiL!) und den großartigen Chor der Eutiner Festspiele (Chorleitung: Sebastian Borleis) zugleich konsequent und sensibel leitet. Er entlockt erfreulicherweise der Weber’schen Partitur auch die feinsten Kleinigkeiten. Überdies hat er größtes Gespür für die Sängerinnen und Sänger, auf die er in der tatsächlich schwierigen akustischen Situation der Freiluftbühne einfühlsam eingeht.
Der Produktionsleitung darf man in diesem Zusammenhang raten, erwägen zu wollen, auch in Opernproduktionen – wie in den Musicals, die in Eutin ebenfalls auf dem Programm stehen – Mikroports einzusetzen. Wind, Regen, aber schon die Seenlandschaft alleine erschweren das Verständnis der gesprochenen Dialoge der Sängerinnen und Sänger so sehr, dass die Qualität der ansonsten hochkarätigen Produktion darunter leidet. Auch die Gesangsstimmen kämen durch einen verbesserten Einsatz der Technik eindrucksvoller zur Geltung.
Anthony Pilavachi zeigt in seiner fulminanten Inszenierung, was man sonst im Freischütz nur selten zu sehen bekommt: Er räumt Samiel (hervorragend – mit Mikroport – gesprochen und dargestellt von der deutschen Schauspielerin Nina Maria Zorn) über die gesamte Oper hinweg ständige Präsenz ein. Er erweitert seinen Text und beschränkt ihn nicht wie üblich auf die wenigen Worte in der Wolfsschlucht. Schon allein dadurch zeigt Pilavachi, dass das Böse omnipräsent auf das Gute Einfluss hat. So ermöglicht er dem Zuschauer den Zugang zu der ihn selbst ständig beschäftigenden und gerade heute überaus wichtigen Frage, ob es denn nicht auch einmal umgekehrt sein könne … Ein moderner und zugleich genialer, aber trotzdem werkgetreuer Zugang zu einer im Grunde recht biederen romantischen Oper. Diese hochintelligente Kombination erlebt man auf deutschen Bühnen wahrhaftig höchst selten!
In der Personenregie konzentriert er sich sehr auf Max und Kaspar und handelt an ihnen die furchtbaren Konsequenzen einer Leistungsgesellschaft eindrucksvoll ab.
Ausgezeichnet unterstützt wird er durch das vielschichtige, sensationelles Lichtdesign von Rolf Esser, der hauptverantwortlich für die außergewöhnliche Stimmung ist. Die Kostüme des Chores, die in einigen Bildern der Gegenwart angehören, sind deutlich unpassender, als die meisterhaften Kostüme des Chores für die Wolfsschlucht von Cordula Stummeyer. Das von Jörg Brombacher geschaffene Bühnenbild aus modernen, nichtssagenden grauen Quadern erzeugt leider nicht ausreichend Atmosphäre.
Für Atmosphäre sorgen dagegen die Solisten: Der deutsche Tenor Marius Pallesen, zufolge seiner fehlenden Haarpracht optisch nicht unbedingt der lyrische Idealtyp des Max, ist eine Art moderner Max, der hauptsächlich die depressive Seite der Rolle, das Gehetztwerden durch seine Mitmenschen darstellt. Seine höhensichere Stimme, die eigentlich dem lyrischen Typ schon entwachsen ist, entspricht weniger dem klassischen Max. Mit Sicherheit kann man sich aber von ihm sehr bald einen wunderbaren Cavaradossi oder Don Jose erwarten. Darstellerisch beschränkt er sich leider vorwiegend darauf, seine Verzweiflung recht monoton und eindimensional in den Gesten darzustellen. Die Regie will es offenbar, dass er weniger die sentimentale, romantische Seite der Rolle zeigt, sondern auf Agathe sogar cholerisch und aggressiv reagiert. Erst am Ende der Oper, als sich die beiden – ohne das vom Eremiten postulierte Probejahr zu absolvieren – einfach aus dem Staub machen, dürfen Max und Agathe zeigen, dass sie ein Liebespaar aus Fleisch und Blut sind.
Agathe – gesungen von der sehr jungen, in Hagen geborenen, vollschlanken Sopranistin Ann-Kathrin Niemczyk – bleibt etwas hölzern, stellt ihre Verliebtheit nur plakativ mit typischen Opernsängergesten, aber ohne echte Herzlichkeit und wirkliche menschliche Wärme dar. Sie liefert ihre Arien als Sopranistin und noch nicht als tatsächliche junge, zarte Braut ab. Ihre schauspielerischen Qualitäten kann sie sicherlich noch differenzierter einsetzen, sodass ihrem glockenreinen und absolut höhensicheren wie gut tragenden Sopran, der auch im Pianissimo wahrscheinlich bereits wunderbar strahlen kann, eine glanzvolle Karriere bevor steht, zumal sie in Eutin ja erst debütiert hat. Man wünscht auch ihr dafür bessere akustische Verhältnisse als im Freilufttheater.
Weit weniger höhensicher ist die als Ännchen sehr süß anzusehende Französin Océane Paredes, die auf die herrlichen Koloraturen der Rolle mitunter wenig Wert legt. Das Komödiantische, das große Vorgängerinnen wie Sona Ghazarian, Renate Holm oder Daniela Fally aus der Rolle herausholen konnten, ist diesem Ännchen bedauerlicherweise meist versagt. Im Gegenteil, es scheint da und dort, dass sie mitunter bereit sein könnte, sich sogar mit Samiel zu verbünden, was sie letztlich aber doch nicht tut. In diesem Punkt bleibt die Regie aber die Begründung für diese rätselhafte Personenregie leider schuldig.
Der österreichische dramatische Bariton Thomas Weinhappel als Kaspar scheint der geborene Singschauspieler zu sein. Bei ihm passt alles: Mit gewaltiger Stimme, der man anhört, dass sie glücklicherweise aus dem Wagnerfach kommt (er sang zuletzt Telramund), beachtlich differenzierter Mimik und Gestik und dem nötigen Mut, absolut hemmungslos seine seelischen Qualen auch offen und authentisch darzustellen, werden seine beiden Arien, die Wolfsschlucht und sein Tod zu Kulminationspunkten des Abends. Der Österreicher, dessen klares Deutsch auch in den Dialogen ausgezeichnet ist, verkörpert den Geächteten in jedem Augenblick, ist immer – auch dann, wenn er nicht singt – in der Rolle, immer präsent.
Unter den weiteren Rollen besticht vor allem der Kölner Bariton Wolfgang Rauch, der im Laufe seiner Karriere bereits alle wichtigen Partien im Fach des lyrischen bzw. des Kavalierbaritons gesungen hat. Versiert gibt er einen überaus imponierenden Ottokar mit stählerner Stimme und gestrengem Charakter. Wie Weinhappel verfügt offenbar auch Rauch unstreitig über großes darstellerisches Können.
Lukasz Konieczny – aus dem Publikum auftretend – dominiert mit seinem profunden, besonders warm strömenden Bass als exzellenter Eremit das Ende der Oper. Er verschafft dadurch der zwar kleinen, aber dramaturgisch wichtigen Rolle die ihr zustehende Bedeutung. Obwohl ihn Cordula Stummeyer lediglich in einen Anzug von der Stange gesteckt hat, bringt er das Kunststück zuwege, allein durch seine Stimme respekteinflößende Würde auszustrahlen.
Sebastian Campione als Kuno und Laurence Kalaidjian als Kilian holen aus ihren Rollen sowohl stimmlich wie darstellerisch das Allerbeste heraus.
Dem erstklassigen Chor als schauerlich, angsterregende Geister in der Wolfsschluchtszene oder als engstirnige, kleinbürgerliche Masse mit einheitlich weißgeschminkten Gesichtern, Foto oben, kommt in der diesjährigen Inszenierung die Rolle zu, sowohl Kaspar als auch Max in die psychische Enge zu treiben. Max bleibt nur mehr der Bund mit dunklen Mächten, um mittels Freikugeln Treffsicherheit beim Probeschuss beweisen zu können. Die Enge der gesellschaftlichen Gegebenheiten macht aus ihm den Freischütz – eine Produktion der Eutiner Festspiele, die man jedenfalls erleben muss!