Essen, Aalto-Theater, DIE HOCHZEIT DES FIGARO - Wolfgang A. Mozart, IOCO Kritik, 18.05.2023
DIE HOCHZEIT DES FIGARO - Wolfgang A. Mozart
- Zurück zur Natur - ein Kampf zwischen Lust und Liebe -
von Hanns Butterhof
Die Tendenz von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Die Hochzeit des Figaro aus dem Jahr 1786 wird in Essens Aalto-Theater schon zur Ouvertüre deutlich. Da klettert ein bocksbeiniger Satyr mit spitzen Ohren und Hörnern auf dem Kopf aus dem Orchestergraben auf die Bühne und entert ein betriebsames, herrschaftliches Haus. Dort wird er mit Lust für Irrungen und Wirrungen sorgen und sich schließlich als der natürliche Herr allen Lebens erweisen.
Regisseur Floris Visser hat die Handlung aus dem feudalen Spanien Ende des 18. Jahrhunderts ins konstitutionelle England des frühen 20. Jahrhunderts verlegt. Das gibt Anlass zu unaufdringlich modernen Kostümen, die zum adeligen Ambiente der hohen herrschaftlichen Räume (Ausstattung: Gideon Davey) passen. Vor allem wird so alles beschauliche Rokoko vermieden und das Bühnengeschehen mit dem Publikum so verbunden, dass es sich darin aktuell gemeint fühlen kann.
Visser inszeniert Figaros Hochzeit als urmenschlichen Widerstreit von Natur und Kultur, triebhaftem Luststreben und kulturstiftendem Lustverzicht. Der spielt sich in allen Lebensphasen ab, dessen Extreme der jugendliche Page Cherubino (Miriam Albano), der in alle Frauen verliebt ist, und der alte, nur noch intrigante und verstohlen übergriffige Priester Basilio (Uwe Eikötter) sind.
Im unendlich weiten Feld von Zwischenformen sind der Diener Figaro (Baurzhan Anderzhanov) und seine Braut Susanna (Markéta Klaudová) in einer nahezu idealen Lage. Ihre Hochzeit ist angesagt, so dass sie spontan ihrer Lust aufeinander unterm Leintuch nachkommen können, fast ohne gegen die sozialen Normen zu verstoßen. Aber bei Susanna fängt schon das Menscheln an. Sie ist nicht unempfänglich den heftigen, auch machtgestützten Avancen des Grafen Almaviva (Tobias Greenhalgh) gegenüber, dessen leidenschaftlichem Begehren sie nur mit äußerster Anstrengung widersteht. Dann aber gibt sie dem ungekünstelten Liebreiz Cherubinos nach wie auch die Gräfin (Jessica Muirhead); Cherubinos Appell an die beiden Frauen, ihm zu sagen, was die Liebe ist, führt zu seiner Initiation als Mann, die Kostümprobe im Mädchenkleid zur Ménage à trois. Die zuvor ergreifend geäußerte Trauer der Gräfin über die verlorene Liebe ihres Gatten befreit sie eher zu ihrem Lustverlangen, als dass es sie hemmte.
Der Graf will nur seine Lust ausleben, lässt sich aber immer wieder durch massive Konfrontation mit den sozialen Normen einhegen. Erst singt ihm der Chor der von Figaro zusammengetrommelten Bediensteten das Hohelied seiner Menschlichkeit vor, schließlich wird er durch die Intrige Figaros, Susannas und der Gräfin genötigt, unter Entschuldigungen in die Bahnen ehelicher Ehrhaftigkeit zurückzukehren.
Visser hat als Allegorien der beiden menschlichen Trieb- und Zugkräfte Natur und Kultur, Triebhaftigkeit und kulturschaffendem Lustverzicht die Figuren des Satyrs (James Michael Atkins) und eines kleinwüchsigen Cupido (Mick Morris Mehnert) mit Engelsflügeln erfunden, die alle Figuren in ihre jeweilige Richtung stoßen oder ziehen. Ihre Konkurrenz tragen sie auch vielgestaltig unter sich aus, prügeln sich putzig und liefern sich eine lustige Kissenschlacht. Als der Satyr Cupido von allen Seiten bespringt, ist das wie ein Hinweis darauf, dass selbst die Liebe der Lust bedarf. Hier schon zeigt sich das naturhafte Prinzip aktiv und überlegen, und der Schluss macht es unübersehbar: Wenn da Cupido mit einem Pfeil im Rücken tot über einer Bettkante hängt, dann ist nicht nur das Beziehungsgefüge zwischen Figaro und Susanna, der Gräfin und dem Grafen zerbrochen, die Liebe zerrüttet, dann hat auch die Natur über die Kultur gesiegt.
Diese Aussage passt zu der geschilderten Welt dieser Hochzeit des Figaro. In ihr ist Gewalt überall gegenwärtig, in den hierarchischen Beziehungen wie im Militärdienst, wofür die häufig so harmlos daherkommende Abordnung Cherubinos in britischer Uniform mit Gasmaske und niederdrückendem Marschgepäck drastisch den Blick öffnet. Selbst in der Resignation Basilios ist sie noch spürbar, die Visser als Blindheit der Kirche gegenüber den eigenen Verfehlungen zeichnet. In dieser Welt regiert letztlich die Natur, eine menschliche Synthese mit der Kultur ist nicht absehbar.
Es ist dem Publikum aufgegeben, sich zu fragen, ob diese Diagnose stimmt, ob es nicht nur um Authentizität der Gefühle, sondern auch um ihren Inhalt gehen sollte. Andernfalls bedeutet das „Zurück zur Natur“ nichts anderes als die Herrschaft des Dschungel-Gesetzes. Genau das legt der letzte Akt nahe, als aus dem kleinen Ansatz, eine Wand im Zimmer Figaros grün zu streichen, ein alle Wände überziehendes Dschungelgrün geworden ist.
Diese Frage entwickelt die Regie von Floris Visser so eindringlich und spannend, dass sich mancher „tatort“ dahinter verstecken kann. Auf der prächtigen, in ständiger Bewegung gehaltenen Drehbühne wird ausnehmend schön gesungen, und es agiert ein tolles Ensemble, das bis in die Nebenrollen ausgewogen besetzt ist. Die Frauen kommen der Utopie einer Versöhnung von Lust und Liebe nahe, Jessica Muirhead mit unangestrengt frei fließendem lyrischem Sopran als Gräfin in ihrer Not wie auch in ihrem Kampf um Liebe, wie Markéta Klaudová mit lyrischem Sopran als Susanna in ihrer Selbstbehauptung. Mit jugendlichem Sopran hat Miriam Albano als Cherubino bis dahin noch einen so weiten Weg vor sich, wie ihn Mezzosopranistin Bettina Ranch als Marcellina letztlich hinter sich hat.
Wenn Bariton Tobias Greenhalgh ein überzeugender Graf von fast liebenswerter Leidenschaftlichkeit ist, so zeichnet Bassbariton Baurzhan Anderzhanov Figaro als sympathisch beweglichen Charakter, aus dem unterdrückte Aggressivität aber auch schnell hervorbricht. Als Basilio beeindruckt Tenor Uwe Eikötter wie der von Patrick Jaskolka einstudierte wohltönende Chor.
Tomáš Netopil leitet bei seiner letzten Premiere am Aalto-Theater die Essener Philharmoniker gefühlvoll und sängerfreundlich durch die Partitur. Sorgfältig arbeitet er die vielen psychologischen Zwischentöne heraus, die allem Gesang noch ihre eigene Bedeutung geben. Sein Dirigat ist wesentlich für den großen Spannungsbogen über fast vier Stunden mitverantwortlich.
Das Premierenpublikum spendete allen an der äußerst gelungenen, italienisch gesungenen, deutsch übertitelten Aufführung stehend lang anhaltenden Beifall.