Erfurt, Theater Erfurt, ORESTES - Oper Felix Weingartner, IOCO Kritik, 17.06.2023
ORESTES - Oper von Felix Weingartner
- Der Atriden-Mythos - aktuell auf den Punkt gebracht -
von Hanns Butterhof
Felix Weingartners seit mehr als hundert Jahren nicht mehr gespielte Oper Orestes aus dem Jahr 1902 könnte nicht aktueller sein, und Hausherr der Oper Erfurt, Guy Montavon, bringt den Atriden-Mythos erstaunlich zwanglos auf den Punkt, dass es bei Atreus und seinen Nachfahren nicht um antike Promis, sondern um uns Menschen geht. Der auf den Atriden lastende Götterfluch, dass in jeder Generation Familienangehörige einander töten, ist die scheints unausrottbare Neigung des Menschen zu Gewalt und Krieg. In der Orestie von Aischylos (458 v.u.Z.) mündet der unablässig fließende Blutstrom in das ruhige Gewässer humaner, kommunikativ gesetzmäßiger Rechtsordnung mit der Errichtung des ordentlich bürgerlichen Gerichtshof in Athen und Besänftigung der alten Rachegöttinnen mit der Aufgabe, über den Frieden zu wachen. In Erfurt wird mit der hoffnungsfrohen Utopie gründlich aufgeräumt.
Trailer - Brett Sprague stellt die Oper Orestes voryoutube Theater Erfurt
[ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]Weingartners Oper, deren Libretto auch vom Komponisten stammt, referiert im ersten der drei Akte, „Agamemnon“, die fatale Familiengeschichte der Atriden, den 10jährigen Kampf der Griechen um Troja, ehe es mit der Heimkehr des siegreichen Königs von Argos, dem Heerführer Agamemnon (Kakhaber Shavidze) richtig losgeht. Bei sich hat der hochdekorierte Offizier als Kriegsbeute die trojanische Seherin Kassandra (Laura Nielsen). Seine Frau Klytaimnestra (Ilia Papandreou), die lange schon seinen Tod geplant hat, empfängt ihn in trügerisch unschuldiges Weiß gekleidet (Ausstattung: Hank Irwin Kittel) und posiert mit Agamemnon und ihrem gemeinsamen Kind, der kleinen Elektra, innig wie fürs Familienalbum. Kurz darauf tötet sie ihn, vorgeblich aus Rache für die Opferung ihrer älteren Tochter Iphigenie, mit der Agamemnon die Götter günstig dafür stimmen wollte, Wind für die Ausfuhr der Flotte nach Troja zu senden. Zudem will sie ihren Liebhaber Aighisthos (Siyabulela Ntlale) neben sich auf dem Thron sehen, einen mafiösen Typ im weißen Anzug und Strohhut, der keine Skrupel hat, jeden Widerstand der Bürger gegen den jähen Regierungswechsel niederzuschießen. Die Kränkung, die ihr Agamemnon durch „das Liebchen“ Kassandra zugefügt hat, kommt als aktuelles Sahnehäubchen der Rache dazu, der auch Kassandra verfällt.
Im zweiten Akt „Das Todesopfer“ kommt nach vielen Jahren Orest (Brett Sprague) zurück, der Sohn Agamemnons und Klytaimnestras, den sie aus naheliegenden Gründen als Kind an einen anderen Königshof geschickt hatte. Sie fürchtete wohl seine Reaktion, wenn er ihr ehebrecherisches Verhältnis mit Aighistos miterleben würde. Jetzt will er zudem den Mord an seinem Vater rächen. Zuerst tötet er den trunkenen Aighistos, den er mit der Falschmeldung herauslockt, er wolle Orests Tod melden. Dann ermordet er auch Klytaimnestra, die vor ihrem Tod noch die alten Rachegöttinnen, die Erinnyen, auf ihn jagt. Ihr Amt ist, nicht zu ruhen, bis jede Blutschuld gerächt ist. Gehetzt flieht er nach Delphi, um sich im Heiligtum des Gottes Apoll entsühnen zu lassen.
Spielt die bisherige Geschichte dem Mythos entsprechend ruhig in einem großen roten, bei Bedarf auch blutroten (Licht: Torsten Bante), bühnenfüllend bunkerartigen Raum ähnlich einem der phantastischen Wohnbehältnisse in Hieronymos Boschs „Garten der Lüste“, so ändern sich im dritten Akt „Die Erinnyen“ die Bühne, das Tempo und auch scheinbar die Ernsthaftigkeit der Regie. Orest ist jetzt in Delphi, einer Felsenlandschaft, die über und über mit Altkleidern bedeckt ist wie eine Dritte-Welt-Müllkippe, voll mit unserem Abfall. Dort rät ihm eine etwas in die Jahre gekommene Priesterin (Katja Bildt), in die Unterwelt hinabzusteigen, um den Weg zur Entsühnung zu finden. Er stürzt davon, als Klytaimnestras Geist auftaucht und den von Apoll in Schlaf versetzten Erinnyen deren Pflichtvergessenheit vorwirft. Daraufhin erheben sie sich wie eine Horde Pumuckels mit roten Haaren und stürmen hinter Orest her. In der Unterwelt, zu der die Bühne wie ein Aufzug hinabzufahren scheint, trifft Orest auf „alte Helden“, neben seinem Vater den in eine Partitur versunkenen Richard Wagner, Charly Chaplin und den „Blauen Engel“ Marlene Dietrich. Aber vor allem trifft er den Geist Kassandras, die ihm eine Art Laser-Schwert gegen die Erinnyen gibt sowie den Rat, sich dem Urteil Athenes zu stellen. Dann geht es wieder hinauf vor ein weißes Rednerpult mit UN-Emblem. Eine publicity-bewusste Athene (Candela Gotelli) in einem sehr eleganten weißen Kleid ruft gegen die klagenden Erinnyen zwölf Zahl Athener als Richter auf. Als sechs davon für Orests Unschuld, sechs dagegen stimmen, löst Athene das Patt triumphierend mit ihrer Stimme zugunsten Orests auf, und besänftigt die Erinnyen mit einem wichtigen Amt. Als sich alle auf sie stürzen, wohl um sich der Laser-Waffe zu bemächtigen, sieht es nicht nach Frieden aus.
Regisseur Guy Montavon hat das Geschehen der ersten beiden Akte sinnig in die Zeit nach dem Ersten, den Schluss des dritten Akts in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verlegt, Reibungen mit dem Text sind verschmerzbar. Viel größer ist der Gewinn an Aktualität, da sich sowohl mit dem „Völkerbund“ (1920 bis 1946) nach dem Ersten wie auch mit den Vereinten Nationen (ab 1945) nach dem Zweiten Weltkrieg das Versprechen von Frieden und Gewaltlosigkeit als leer erweist. Der Atriden-Fluch dauert schrecklich an.
Es gibt eine Stelle im Stück, die Hoffnung darauf macht, den Fluch zu brechen: Als Orest in der Unterwelt selbst durch die „alten Helden“ und die Freude, die sie unterhaltsam bereiten, keine Hilfe erfährt, sieht er nur im Selbstmord einen Ausweg. Da spricht ihm Kassandra zu, zwar seien seine Hände schuldig, aber nicht sein Herz. Das sei rein geblieben, weil er an die alte Pflicht zur Rache geglaubt habe. Bitte jetzt, hofft man als Zuschauer, soll Orest das Zauberwort finden – aber es bleibt aus. Er löst sich nicht von der Fremdbestimmung durch alte Ideologien und findet auch keinen neuen Bezug zu seinem Herzen, mit dem er selbst in seiner mörderischen Mutter noch den Menschen sehen könnte. So kann es einfach kein gutes Ende geben, und man bleibt tief betroffen zurück.
Die schlüssige Regie von Guy Montavon ist geeignet, an der Auffassung Zweifel zu wecken, das Verdrängen des weniger radikal-expressiven Orestes aus den Spielplänen sei durch den Erfolg von Richard Strauss' „Elektra“ herbeigeführt worden. Vielleicht war der utopische Schluss der Oper für die aufgeregten Jahre am Anfang des letzten Jahrhunderts schlicht unglaubwürdig geworden; das hat die Erfurter Aufführung überzeugend korrigiert.
Gesangsdarstellerisch ist Oreste weitestgehend großartig. Weingartner muss ein Faible für Frauenstimmen, besonders für Soprane gehabt haben. Sie setzen die wesentlichen Akzente und haben in jedem Akt mindestens eine große Arie. Laura Nielsen gibt als Kassandra mit starker Bühnenpräsenz, klarer Artikulation und intensivem stimmlichen Ausdruck ein herausragendes Opern-Debut. Mit kräftigem dramatischem Sopran ist Ilia Papandreou eine so leidenschaftliche wie intrigante Klytaimnestra, und neben ihr setzt Daniela Gerstenmeyer als Elektra mit jugendlich hellem Sopran die Glanzlichter des zweiten Aktes. Als vierte Sopranistin gefällt Candela Gotelli als aufgedrehte Athene, wie auch die beiden Mezzo-Sopranistinnen Katja Bildt als Seherin Apolls und Elsa Roux Chamoux als Amme des Orest.
Die Partien der Männer sind glanzloser. Das trifft selbst für die Titel-Figur zu; Brett Sprague gibt Orest mit kraftvollem Heldentenor, bleibt aber als Figur blass. Kakhaber Shavidze ist ein eindrucksvoller Agamemnon mit tief geerdetem Bass, als dessen psychologisches Gegenstück Siyabulela Ntlale als Aigisthos mit hellem, sehr beweglichem Bariton gut passt. Als Bote bringt Tristan Blanchet Tenorglanz in die Oper. Der von Markus Baisch einstudierte Chor gefällt mit druckvollem Ernst in den Männer- wie quirliger Aufgeregtheit in den weiblichen Partien.
Für die große Besetzung von Weingartners Orestes ist das Philharmonische Orchester Erfurt durch die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach verstärkt. Alexander Prior leitet es präzise und sängerfreundlich durch Weingartners sehr hörerfreundliche, nie die Grenzen der Tonalität überschreitende Komposition. Sie ist deutlich der spätromantischen Tradition verpflichtet, besonders ist allenthalben Wagner zu hören, es klingen nicht nur der Walkürenritt oder Siegfrieds Horn an. Doch wer meint, in Elektras Arie den ergreifenden Agamemnon-Klageruf der „Elektra“ von Strauss zu hören, irrt; der wurde erst sieben Jahre später komponiert. Bei allen Anklängen an Bekanntes hat Weingartners Orestes insgesamt einen eigenen Ton, den nach so langer Zeit wieder hörbar gemacht zu haben als ausgesprochen verdienstvoll bezeichnet und zur Übernahme für andere Häuser empfohlen werden kann.
Nach dreieinhalb musikalisch fesselnden Stunden mit durchwegs gut artikuliertem Gesang in deutsch mit deutscher Übertitelung großer Beifall des Publikums für alle Beteiligten, vornehmlich für Alexander Prior und das Orchester, für Laura Nielsen, Ilia Papandreou und den Chor.