Düsseldorf, Deutsche Oper am Rhein, Orpheus in der Unterwelt - Jacques Offenbach, IOCO Kritik, 23.03.2022
Orpheus in der Unterwelt - Jacques Offenbach
Was für ein Theater !
von Albrecht Schneider
Barrie Koskys Inszenierung von Jacques Offenbachs Glanzstück Orpheus in der Unterwelt anlässlich der Salzburger Festspiele 2019 ist nach einem Aufenthalt in Berlins Komischer Oper jetzt in Düsseldorf eingekehrt. Die Deutsche Oper am Rhein bietet ein Fest für Augen und Ohren, das mit den Ovationen des hiesigen Publikums sein Ende findet. In dem gelungen melodischen, wirbelnden, pittoresken Gaudium geht leider unter, dass dieses Kleinbühnenstück 1858 im Paris des Zweiten Kaiserreichs Napoleons III Furore machte als eine giftige Parodie einer hedonistischen Gesellschaft und einer ihr ähnlich leichtlebigen Obrigkeit. Alle beide sahen allerdings keinen Grund, der eigenen Persiflage nicht enthusiastisch zu applaudieren, und der blieb auch in den folgenden hunderten von Aufführungen nicht aus. Sechs Jahre später bereicherte der Komponist das Stück um zwei weitere Akte mit neuen Couplets, Ballettmusiken und allerlei Ausstattungsbombast, womit dem Operchen das Gift abgezapft wurde und es sich solchermaßen zu einer Revue wandelte. Die bescherte dem damals klammen Offenbach für viele Wochen ein volles Haus, was seinem Portemonnaie recht gut bekam.
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Dem hiesigen vollbesetzten Opernhaus wird ein Verschnitt beider Fassungen vorgestellt, der eben kaum von Bissigkeit und Witz der ersteren von 1858 zehrt, dafür desto mehr von Glanz und Gloria und Geist der von 1874 gesättigt ist.
Gleich ihren älteren Vorgängern setzten auch Komponisten des 19. Jahrhunderts öfters mythologische Stoffe in Musik. Der tiefernste Gesamtkunstwerkmeister Wagner verlegte sein Casting nach Walhall, indessen der rheinisch-gallische Spottvogel Offenbach– nicht frei von melancholischen Schüben – sein Personal schon mal im Olymp engagierte.
Orpheus entstammte diesem noblen Haus, war doch die Muse Kalliope seine Mama und sein Opa der Göttervater Zeus, der freilich bei Offenbach unter seinem lateinischen Namen Jupiter registriert ist genauso wie jene seiner Entourage mit Pluto, Juno, Venus, Cupido und weiterer überirdischer Prominenz.
Betrachtet man die Reihe männlicher Jahrhundertsänger, eine Kategorie, worunter zumeist Tenöre fallen, so beginnt sie, – selbstredend subjektiv beurteilt – mit Pavarotti, führt über Caruso, Rubini zu Farinelli und schließt in mythologischer Vorzeit mit dem Sänger Orpheus. Welches dessen Stimmlage war, ist nicht überliefert, freilich einen Kastratensopran dürfte er sicherlich nicht besessen haben; immerhin muss sein Vortrag derart hinreißend gewesen sein, um dem Höllenhund Zerberus das Maul halten und dem Gesangskünstler einen eigentlich unstatthaften Besuch in der Unterwelt erlauben zu lassen. Würde er in heutiger Zeit auftreten, wäre im allseitige Publikumsgunst gewiss, und die Zahl seiner Follower in den sozialen Netzwerken aller Qualitäten erreichte gewiss ebenso gigantische Dimensionen wie die seiner auf den Medien aller Qualitäten dokumentierten Performances.
Der offenbachsche Orpheus indessen agiert nicht mehr wie ein Weltstar, sondern als ein provinzieller geckenhafter Violinprofessor, dessen Spiel seiner amusischen Gattin Eurydike gehörig auf den Keks geht. Überhaupt hat sich das Ehepaar von Herzen satt, ist die Gute doch mächtig scharf auf ihren Nachbarn, den Honighändler Aristäos, eine Maskerade des nicht minder geilen Unterweltfürsten Pluto, während der fidelnde und fidele Gatte ein Auge auf eine hübsche Nymphe geworfen hat. Gegenseitig versichern sich die beiden Partner höchst kantabel ihrer tiefreichenden Abneigung. Angesichts einer derart desolaten Paarbeziehung genießt Eurydike geradezu den von ihrem zukünftigen Galan Pluto initiierten tödlichen Schlangenbiss und begibt sich unter dessen Führung zwangsläufig und mit Vergnügen hinab in den Orkus. Der überglückliche Witwer hingegen würde nun am liebsten sofort der neuen Favoritin ein Forte fideln, woran er aber durch die Öffentliche Meinung gehindert wird, die ihn seiner Reputation als Künstler und Bürger wegen ermahnt, die verloren gegangene Gattin schleunigst zurückzuerobern und diesbezüglich bei Jupiter vorzusprechen. Orpheus fügt sich maulend ins Unvermeidliche.
Mit diesem ersten Bild ist der Satire der Weg bereitet, drei weitere folgen. Der Olymp, wo Orpheus zu nämlichem Zweck aufkreuzt, entpuppt sich als eine Versammlung gelangweilter, verlotterter Schlafmützen, die erst mit der Nachricht von der Dame Entführung durch Pluto etwas munterer gerät. Dessen Auftauchen und stures Leugnen bringt noch ein bisschen mehr Leben in die pomadige Gesellschaft, sodass Jupiter beschließt, samt dem ganzen Götterclan in die Unterwelt zu reisen, um vor Ort persönlich der Affäre auf den Grund zu gehen.
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Diese von der Erde durch den Himmel zur Hölle (Unterwelt) sich bewegende, wenig dramatische Geschichte wird mittels Gesang, Tanz, Mimik und Geschwätz farbig und komisch zur Schau gestellt, deren süffige, rhythmische Musik allen Beteiligten beileibe nicht bloß metaphorisch Beine macht. Und daran ändert sich auch nichts mit dem dritten und vierten Bild, obschon die Handlung nunmehr monologisch, dialogisch und musikalisch konzentriert auf ein halbwegs glückliches Ende hinstrebt.
Regisseur Barrie Kosky bedient sich eines Kunstgriffes, worüber sich mäkeln, der sich andererseits nicht minder als halbwegs genial preisen lässt. Die gesprochenen Passagen wären für die zahlreichen nicht unbedingt des Deutschen mächtigen und obendrein oft wechselnden Sängerinnen und Sänger recht heikel geworden. Mithin übertrug Kosky dem Televisions- und Bühnenakteur Max Hopp, einem Sprachkünstler sondergleichen, den Part eines allzeit präsenten Sprachrohrs aller weiblichen und männlichen Stimmen, von hysterischen Spitzentönen bis zum Beiseite Gemurmel, und obendrein eines Produzenten allerlei sonstiger profaner Geräusche. Zudem treibt der als Nostalgiker, Breakdancer und als singender Höllenlakai John Styx in bester Manier sein Wesen und Unwesen.
Auch in des Pluto infernalischer Behausung zanken sich Jupiter und der Höllenfürst nach wie vor, da ersterer zu Recht irgendwo hier die Anwesenheit der inzwischen von ihrem Schwarm verlassenen, in ihrem Boudoir weggesperrten, vom Milieu angeödeten Eurydike vermutet, letzterer sie aber hartnäckig verleugnet. Schließlich verwandelt sich der oberste Dienstherr der Olympier auf seines Sohnes Cupidos Empfehlung hin in eine Fliege, die durchs Schlüsselloch hindurch der Dame auf den Leib zu rücken vermag. Was ihr durchaus behagt.
Das Pärchen verabredet ein Wiedersehen auf der von Pluto zu Ehren des hohen Besuchs veranstalteten Party, indessen der, umtanzt von einem saukomischen Fliegenballett, des ominösen Insekts habhaft zu werden versucht. Eingeläutet vom Unterweltschor versammelt sich die gesamte Bagage aus Himmel und Hölle zu einer teuflischen Sause, und die Szene wird zum Bacchanal, als Eurydike einen Hymnus auf den Gott des Weins intoniert: „J’ai vu le dieu Bacchus“. Die Götter tanzen Menuett, gemeinsam mit ihrem Personal walzen und schmettern sie den Höllengalopp, eine die ganze Bühne ausfüllende kunterbunte klangvolle Bewegungsorgie, die wahrscheinlich genauso durch die Köpfe des Publikums wirbelt. Der Konflikt der beiden Souveräne mündet in die jähe Einsicht, dass das Objekt ihrer Begierden, Eurydike, eigentlich als seine rechtmäßige Ehefrau zu Orpheus gehört. Der ist inzwischen mit der Öffentlichen Meinung dazugestoßen, um gezwungenermaßen die Ungeliebte heimzuholen. Daran ist keinem gelegen, also wird die Misere mit Rückbesinnung auf die Originalgeschichte entschärft, indem er mit ihr ihm Schlepptau davonziehen soll, dabei keinesfalls zurückblickend, da ihm anderenfalls die Dame neuerlich abhanden kommt. Das misslingt, weil der listige Jupiter plötzlich blitzt und donnert, worauf der Violinist erschreckt den Kopf wendet. Die Gattin ist perdu, und als Kompromiss zwischen den zwei göttlichen Lüstlingen wird sie zur Bacchantin erhoben. Ende.
Die aus der Vorzeit in die Jetztzeit travestierte Sage hat Jacques Offenbach als Spottgedicht auf die damalige Bourgeoisie samt ihrem Regiment komponiert. Wie oben angedeutet, ist aus der Opéra-bouffon unter den Händen des Regisseurs ein im besten Sinne des Wortes schmissiges, charmantes Spektakel aus Musik, Tanz und Gestik geworden. Dass deren ursprüngliche sardonische Tendenz untergeht in dem Höllengalopp, der nicht allein in der Unterwelt tobt, sondern in dem das ganze Gesamtkunstwerk an Auge und Ohr vorbeirauscht, sei eingeräumt. Gleichwohl verwundert der Mangel ein bisschen, sofern die Erinnerung an Barrie Kosky in Bayreuth noch wach ist, wo er das Hintergründige in Richard Wagners Meistersinger wie das Untergründige in dessen Wesen so bildmächtig in Szene zu setzen verstand.
Zuletzt, freilich nicht als Letztes, soll und muss das gesamte tönende, tanzende und statische Personal aufgeführt und gerühmt werden. Keine und keiner daraus fällt irgendwie ab. Der Sopran der Eurydike (Elena Sancho Pereg) zwitschert, gurrt, säuselt und tönt auch hymnisch in prästabilierter Harmonie mit ihrer sehr weiblich hektischen wie lockenden Körpersprache. Möchte man in ihr eine nach Selbstbestimmung strebende Frau erkennen, so erscheint die Ausbruchsabsicht aus einer miesen Ehe als durchaus vernünftig, die Berufswahl einer Bacchantin hingegen als bloß gering emanzipatorisch. Der Gatte (Andrés Sulbarán) singt einen leicht mausgrauen Orpheus, dessen Tenor sich vortrefflich neben der nach Höherem gierenden Gattin behauptet, der hier als irdischsterblicher und gering geschätzter Mann und Instrumentalist alsbald hinter der Riege unsterblicher Götter verschwindet. Selbst die Öffentliche Meinung (Susan Maclean), die sich anfangs als eine Galimathias verzapfende Instanz der Rechtschaffenheit präsentiert und hernach ein demgemäßes Benehmen der ganzen lasziven göttlichen Kamarilla nahezulegen versucht, weiß trotz ihres gouvernantenhaften Habitus’ gelegentlich mit wohllautenden Tönen und anmutigen Drehungen aufzuwarten. Die Bosse von Olymp (Peter Bording) und Orkus (Florian Simson) können in einem mal tiefer mal höher gestimmten Belcanto ihren Betrieb führen und Frauen anmachen, wie nicht minder Cupido (Romana Noack), Venus (Heidi Elisabeth Meier), Juno (Katarzyna Kuncio) jeweils die Prosodie der offenbachschen Couplets beherrschen und delikat singen, säuseln und seufzen. Das gilt ebenso für die Kolleginnen, Kollegen und einen agilen Chor in Hochform (Ltg. Patrick Francis Chestnut), die vereint mit den tanzend wirbelnden Teufelinnen und Teufeln, barbusigen(!) Bacchantinnen und Bacchanten auf allen Schauplätzen ein fantastisches, farbiges, klangsattes Chaos veranstalten. (Choreograph: Otto Pichler – Bühne: Rufus Didwiszus – Kostüme: Victoria Behr)
Den Dirigierstab, der es letztlich zusammenhält, führt Chef d’orchestre Adrien Perruchon. Den Ohrenschmaus, um einen verstaubten Begriff zu verwenden, den Maître Offenbach angerichtet hat, serviert der Dirigent mal germanisch heftig mal französisch charmant, allein in der Rasanz des Bühnengeschehen mögen die raffinierteren Farbgebungen oder die vielfachen rhythmischen Feinheiten des Orchesters schon einmal überhört werden. (Düsseldorfer Symphoniker). Nach dem letzten Akkord jedenfalls jubelte das Halbrund des Opernhauses ausnahmslos allen zu und erhob sich. Bravissimo.
Zum Schluss seien zwei Anmerkungen und ein Hinweis erlaubt: Als Marginalie gefallen hat der zerknautschte Zylinder des schluffigen Olympiers Mars (Torben Jürgens), weil der den Seufzer entlockte: Würde dieser Kriegsgott doch nur als komisch harmlose Figur im Kopf eines derzeitigen Potentaten spuken und dort nicht als zähnefletschende, schwertschwingende Schreckgestalt handeln.
Während des andauernden Beifallssturms zeigte sich das Ensemble auch mit einem, der leidenden Ukrainischen Bevölkerung gewidmetem regenbogenfarbenen Breitband und der Aufschrift PEACE
Wer sich mit dem Orpheus-Mythos eingehender befassen will, dem sei das bei IOCO erschienende 4-teilige Essay ORPHEUS - Mythos oder Wahrheit von Peter Michael Peters, link HIER! empfohlen!
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