Düsseldorf, Deutsche Oper am Rhein, Turandot von Giacomo Puccini, IOCO Kritik, 09.03.2017
"Kaltherzige Kaisertochter trifft heißblütigen Prinzen"
Und China steht im Regen
Turandot von Giacomo Puccini
Von Albrecht Schneider
Grenzte es nicht nahezu an ein Wunder, sollte es ein Regisseur fertigbringen, eine der klassischen Opern, zu deren Aktualisierung, Modernisierung, Vertiefung, Ergänzung, was auch immer es ihn gedrängt hat, das modifizierte Stück derart in Szene zu setzen, dass es für das Publikum allzeit verständlich bleibt?
Gewöhnlich studiert der Mensch daheim zunächst den Opernführer oder sogar das Libretto, ehe er sich erwartungsvoll in den Theatersessel fallen lässt. Hier mag es ihm widerfahren, dass er, sofern zuvor nicht im Programmheft geblättert wurde oder ihn nicht von sonst woher ein bisschen Information über die Intentionen der Inszenierung erreichte, er mit dem Öffnen des Vorhangs auf eine Szenarium schaut, das mit dem akquirierten Wissen nicht unbedingt harmoniert. Deswegen ringt er die nächsten Stunden um Erkenntnis, was die Figuren dort oben wohl letztlich verhandeln. Den Missmut über die Diskrepanz zwischen dem verheißenen lustigen oder tragischen Geschehen und dem realen unbegreiflichen zu dämpfen, wird somit zur Pflicht der Musik. Bestenfalls dürfte ein andauernder Verdruss dann eine Spur nachlassen, liefert am nächsten Morgen der kluge Kritiker der Zeitung Aufklärung über die tiefsinnige Exegese einer Oper, deren Aufführung am Abend zuvor unseren Besucher eben mehr verstimmt denn vergnügt hat.
Wem sich die Düsseldorfer Turandot in der Thematisierung des Regisseurs Huan-Hsiung Li ohne seine Hinweise im Programmheft oder der Verlautbarung des Pressebüros erschließen, derjenigen – demjenigen gebührt Respekt. Inwieweit dessen Konzept sich einleuchtend mit dem vom Komponisten wie Librettisten intendierten Dramma lirico verträgt, und wie überzeugend es auf die Bühne gebracht wurde, der Frage gilt es nachzugehen.
Puccinis große Opern sind die Dramen großer, liebender Frauen, die für ihre Liebe mit dem Tode büßen müssen. Die Schicksale von Manon, Tosca, Butterfly und Mimi klingen verklärt ausschließlich in der Musik, auf der Bühne endet ihr Leben ganz und gar jämmerlich. Davon nicht betroffen ist die chinesische Prinzessin Turandot. Die Gefahr, an der Liebe zu sterben, hält sich die Dame mit den eingefrorenen Gefühlen vom Leibe, indem sie den Platz in ihrem Ehebett nur demjenigen Herrn aus einem Fürstenhaus einräumen will, dem zuvor die Lösung dreier von ihr gestellter Rätsel glückt. Ein Versagen hingegen bezahlt der Freier mit Enthauptung. Wie radikal von ihr jeder Angriff auf die kaiserliche Jungfräulichkeit bislang abgewehrt wurde, bezeugen die abgehackten Köpfe der Bewerber, die aufgespießt auf Pekings Stadtmauer weitere liebestolle Interessenten von dem riskanten Quiz abschrecken sollen.
Ihr grausames Verfahren resultiert, was sie frei gesteht, aus einem barbarischen Hass auf Männer, die in grauer Vorzeit einer Ahnin sehr übel mitgespielt haben. (In der Nachdichtung des Mythos von der Prinzessin Turandot durch Friedrich Schiller, die Puccini zur Vertonung anregte, tritt sie geradezu als eine frühe Feministin auf, die ihre Verachtung des anderen Geschlechts begründet mittels der akribischen Auflistung von dessen genuinen Charakterfehlern, Lastern und Missetaten).
Das ist der Hintergrund der in China angesiedelten unerfreulichen, grauslichen Sage von der Kaisertochter mit dem vereisten Herzen. Ein Stoff wie gemacht nicht allein, um ihn in Musik zu setzen, sondern als durchaus einer Untersuchung wert von der Psychopathologie, Soziologie, Mythologie und sogar Ethnologie befunden zu werden.
Konstitutiv für die Düsseldorfer Inszenierung ist, dass sie auf einer Gemeinschaftsarbeit zwischen dem Taiwanesischen National Kaohsiung Center for Arts und der Rheinoper beruht. Der von dort stammende Regisseur möchte Turandot präsentieren als die Parabel eines archaischen wie unwirtlichen, eines großartigen und für die Welt eigentlich unergründlich bleibenden Chinas, dessen Stadt Peking im Regen nahezu zu ertrinken droht. Letzteres ist als eine Reminiszenz an Honkongs Regenschirmdemonstrationen von 2016 gedacht.
Solcherlei Vorstellungen konkretisieren sich in der Aufführung nicht so richtig, auch wenn der Chor mit Regenschirmen in der Hand auftritt, um sich als Stadtvolk mal gnadenlos mal mitleidig zu den Aktionen zu äußern. Während derer veranschaulichen die auf dem Bühnenhintergrund vorbeihuschenden zerrissenen Schatten samt den jäh vom Bühnendach herabfallenden Gazevorhängen mit den darauf projizierten verfließenden chinesischen Schriftzeichen einem unbedarften Zuschauer wohl kaum, welches Gleichnis und Psychogramm von dem Großreich der Mitte man ihm gerade vor Augen führt.
Der Handlungsverlauf von Puccinis letztem Werk bleibt davon im Wesentlichen unberührt. Somit wird der Migrant Prinz Kalaf, aus dem eigenen fremdbesetzten Land geflohen, als nächster Kandidat sein Glück bei dem widerlichen Weibsbild versuchen. Zunächst voller Abscheu vor einem solchen Monster von Frau, deren Henker gerade einen persischen Kollegen zum Schafott führt, fängt er bei einem kurzen Erscheinen Turan-dots umgehend Feuer. Ob ihrer Schönheit fast von Sinnen, will er sie unbedingt erobern. Ihn von der lebensgefährlichen Probe abzuhalten, schaffen weder sein Vater Timur (Günes Gürle) noch dessen Sklavin Liu. Letztere hat ihr Herz längst an den Prinzen verloren, und verkörpert als das seelenvolle, liebende Weib den Gegenentwurf zu der versteinerten, eisumgürtet heißt es poetisch im Textbuch, Kaisertochter. Erst recht können ihn die Hofschranzen Ping (Dmitri Vargin), Pang (Johannes Preißinger) und Pong (Luis Fernando Piedra) als vortrefflich singendes und agierendes Trio nicht daran hindern, drei Mal den Gong zu schlagen, womit er sich geräuschvoll als neuer Examinand anmeldet.
Das Ganze spielt sich ab vor der Silhouette des Kaiserpalastes, auf dessen Zinne der Chinakaiser im schwarzem Gewand und schwarzer Melone gleich einem Londoner Bankier auftaucht, und mit hölzerner Prosodie (Wolfgang Schmidt) seine Hilflosigkeit in dem anstehenden Verfahren kundtut.
Obwohl der Prinz das Examen mit Bravour durchläuft, verweigert Turandot ihm die Gewinnmitnahme. Noch will ihr tiefgefrorenes Herz für ihn nicht schmelzen. Der Prüfling in seiner Großmut gewährt ihr nunmehr die Chance auf seinen Verzicht, sofern sie bis zum nächsten Tag seinen Namen errät. Die Dame setzt umgehend Himmel und Hölle in Bewegung, den Fremdling zu identifizieren. Zu dieser Aufgabe werden die Einwohner Pekings aufgerufen, und deswegen ist allen Schlaflosigkeit anbefohlen. Nessun dorma…..
Mit dieser Arie kommt der Augenblick der Wahrheit für den Tenore eroico Kalaf (Yonghoon Lee). Mit Tönen aus feuergehärtetem Metall hätte er eigentlich schon zuvor den Eisblock Turandot (Linda Watson) in Stücke zu sägen vermocht. Von Anfang an hält er es in dem chinesischen Milieu wohl für aussichtslos, mezzavoce, gar piano auf die ferne Geliebte, die Volksmassen, Schergen und Henkersknechte einwirken zu können. Auch seine Besänftigung der berührend liebend und herzbewegend leidend singende Sklavin Liu (Anke Krabbe) gerät mehr zu viriler Seelsorge im Forte denn zu Angst linderndem Wohllaut. Die Kaisertochter andererseits bleibt ihm vokal nichts schuldig. In blutroter Robe mit bizarrem Hutschmuck kommuniziert sie mit ihm in des Soprans höchster Stimmlage, die sich nicht feurig rot und rund, eher stahlfarben und scharf anhört, was bei weiblich-männlichen verbalen Disputen ja zumeist der Fall ist.
Kalaf schürzt selbst den Knoten und offenbart seinen Namen. Turandot nennt ihn urplötzlich: Liebe. Diese Empfindung scheint endlich in ihrem Busen aufgetaut und aufgeblüht, ihr Herz gleichsam vom Eise befreit zu sein, sonst käme es jetzt nicht zu beider Umarmung und dem erlösenden Kuss. Ein allerseits begrüßter Ausgang, den der Chor mit einem Schlusshymnus feiert.
So hat das Drama den ihm eingeschriebenen Verlauf genommen. Wenn sich darin Geschick und Sein des Großreichs China spiegeln, so dürfte trotz aufleuchtender fremder Zeichen und der hintergründigen Schattenspiele, trotz einer mal herumflatternden, mal sich windenden, mal arretierten weißgekleideten Elfenfigur, die vielleicht als Seele oder Geist Chinas agiert, dergleichen Deutungen nicht das gesamten Halbrund des Opernhauses wahrgenommen haben. Unverhüllter, fassbarer hätten sie herausgearbeitet werden müssen, damit mehr als eine konventionelle, immerhin fabelhaft orientalisch gestaltete (Jo-Shan Liang + Hsuan-Wu Lai), doch durchaus gelungene Aufführung entsteht. Den Chören (Ltg. Gerhard Michalski + Justine Wanat) indessen gebührt die Palme, sie haben sich zig Vorhänge verdient. Deren Frauen, Männer und Kinder mauern mit den Körpern in bleichem Tuch den Schauplatz gleichsam ein. Ihr drohender, aufpeitschender, bisweilen säuselnder Gesang kommentiert, das Orchester (Ltg. Wen-Pin Chien) trägt mit Wucht und Leidenschaft und grundiert, wenn verlangt, mit zarten Farben die sentimentale wie abstoßende Erzählung. Gibt sie vielleicht eine Antwort auf Nietzsches Frage: Sind Liebe und Tod nicht Geschwister?
Aufrauschender Beifall!
Turandot in der Rheinoper, Düsseldorf: Premiere 4.3.2017, weitere Vorstellungen 18.3.2017, 19.3.2017, 23.3.2017, 29.3.2017, 2.4.2017, 8.4.2017, 20.4.2017
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