Düsseldorf, Tonhalle Düsseldorf, Igor Levit - Citizen.European.Pianist, IOCO Kritik, 08.12.2018
Igor Levit - Citizen.European.Pianist.
Bach, Brahms, Busoni, Schumann, Liszt, Wagner
Von Albrecht Schneider
Soll die Kunst einzig um sich selbst kreisen, soll sie lediglich vom Parnass aufs Weltgetriebe herabblicken, ohne sich tief unten mit ihm gemein zu machen? Oder ist sie als dessen Kind auch zur Kommunikation, welcher Art immer, mit ihm angehalten?
Tut sie das und erhebt gelegentlich ihre Stimme, öffnen sich dafür die Ohren der Öffentlichkeit proportional zum Grad der Prominenz derjenigen, die laut wurden. Ansehen und Erfolg der Künstler/Innen jeder Gattung suggerieren dem Publikum aus ihnen spräche tiefere Einsicht in das Wesen von Mensch und Ding, in die Kunst ohnehin, obendrein auch in die Res publica. Andererseits schließen sich Künstlertum und allgemeine wie spezielle Borniertheit nicht unbedingt aus.
Nun sind die Musenkinder ob ihres Status keineswegs zur Einmischung in die aktuellen gesellschaftsrelevanten Diskurse aufgerufen oder gar verpflichtet. Somit bleibt eben die Mehrzahl stumm, manche wären besser stumm geblieben, während manche dann ihren Auftritt haben und sich hören lassen, sobald Frau und Mann ob ihres Andersseins, ihrer Fremdheit, ihres Denkens verachtet, verletzt und verfolgt werden und der Verteidigung bedürfen.
Igor Levit, der Pianist von Weltruf, ist nicht einzig an seinem Instrument ein Phänomen. Nicht minder ausdrucksvoll äußert sich mit ihm ein Citoyen, der nicht im Schutze des aufgeklappten Flügels sein Handwerk betreibt, sondern einer, der das Podium zum Podest macht und von dem herab Staat und Bürger wider predigende und handelnde Verfassungsverächter vernehmbar verteidigt.
Er eröffnete sein Solokonzert in der Düsseldorfer Tonhalle mit der Chaconne aus der Partita für Violine Solo, BWV 1004. Unter deren Klaviertranskriptionen wurde von ihm nicht jene bekanntere und pompösere von Ferruccio Busoni gewählt, sondern die des Johannes Brahms. Ausschließlich für die linke Hand gesetzt, geriet deshalb das Stück nicht zur bloßen Fingerübung, sondern Levit feierte dessen Versponnenheit und Wehmut und Grandezza, aber genauso dessen Spiellust und barocken Glanz, den es gerade durch die Umsetzung auf das moderne Tasteninstrument zusätzlich gewinnt. Nur anfangs mochte die rechte Hand arbeitslos auf dem Klavierschemelrand liegen bleiben, nach einer Weile bewegte sie sich hin zur Klaviatur, als wolle sie mit vorsichtigem Schwingen die Kollegin ermutigen. Ein Beistand, den diese nicht benötigte. Als Solistin forderte sie kraftvoll und eindrücklich dem Steinway den kunstvollen Tanz in seiner klanglichen Verschiedenheit und mit dem hämmernden Ostinatobass ab. Am Ende sorgt man sich ganz nüchtern um den Zustand der linkshändigen Finger des Pianisten.
Die ersten Tastenversuche des dreijährigen Igor verliefen unter Anleitung seiner Mutter, eine Klavierpädagogin und Korrepetitorin, noch daheim in Nischni Nowgorod. Mit neun Jahren, 1995, emigrierte der Bub mit seiner russisch - jüdischen Familie nach Hannover, an deren Hochschule für Musik, Theater und Medien, ausgenommen das Jahr am Mozarteum Salzburg, der Jüngling studierte bis zum Konzertexamen 2010. Das gipfelte in einer fulminanten Darbietung von Beethovens Diabellivariationen-.
Igor Levit sieht sich um nichts in der Welt als einen reisenden, für das profane politische Geschäft blinden Virtuosen, vielmehr als einen Künstler, der die Rechte der Stücke gleichermaßen vertreten will und wird wie die derjenigen Menschen, denen man sie allenthalben vorenthält. Sein Ton, der klingende wie der gesprochene, ist der eines in der Gesellschaft engagierten und darum mit ihr diskutierenden Individuums.
Als nächstes auf dem Programm stand neuerlich der Leipziger Kantor. Aus einigen seiner Choralvorspiele und Choralpartiten hat Ferruccio Busoni seine Fantasie nach J. S. Bach gestaltet. Das ist eine in sich gekehrte, nahezu medidative Musik, die der Komponist kurz nach dem Tode des Vaters niederschrieb. Leid färbt das Stück. Die Choräle sind eingebettet in zerfließende sanfte, auch den barocken Gestus aufgreifende und mitunter posaunenhafte Klänge, aber die trauernde Fantasie löst sich zum Schluss auf in leise, schier kraftlose dunkle Akkorde. Levit lässt den lauten wie leisen Klagen ihren Lauf.
An die drei großen B, Bach, Brahms und Busoni schlossen sich die Variationen Es–Dur über ein eigenes Thema von Robert Schumann an. Sie tragen den von wem immer angehefteten Namen Geistervariationen, da der bereits sehr kranke, von Dämonen und Geistern sich verfolgt wähnende Komponist behauptete, Engelsstimmen hätten ihm das Thema eingegeben. Wie der mit der Schumannfamilie eng verbundene Johannes Brahms bekundete, sei dies dessen letzter musikalischer Gedanke vor dem definitiven Zusammenbruch gewesen. Brahms hat ihn später in seinen Klaviervariationen op. 23 verwandt.
Die Eröffnung, also die Vorstellung dieser musikalischen >Eingebung< umfasst 28 Takte, von denen die letzten zwölf bereits als Variante der ersten sechzehn daherkommen und zudem wiederholt werden. Das Ganze hat nichts Himmlisches an sich es, es ist schlicht poetisch, fast volksliedhaft, und in dem Wissen um die Entstehungsgeschichte mag es sogar resignativ, wie eine Verabschiedung der Musik wirken. Auch in den folgenden fünf Variationen, von denen einige dem gemessenen Tempo der Ursprungsmelodie ein lebhafteres vorziehen, verharrt die wehmütige Stimmung. Der Pianist beließ dem Stück seinen Charakter, keine Milderung, keine Betonung, er spielte es so intensiv, als würde es den eigenen Gemütszustand spiegeln.
Bereits früh hat Igor Levit öffentlich zu konzertieren begonnen und damals wie später Preise und Ehrungen zuhauf eingeheimst. Als sogenannter >Starpianist< konnte er folglich bloß von einem >Kritikerpabst< wie Joachim Kaiser die höheren Weihen erhalten. Die Salbung bestand in dessen Äußerung (so die Legende), seit er (K.) ihn (L.) die Diabellivariationen habe spielen hören, habe für ihn beinahe ein neues Leben angefangen. Eine Art Kanonisierung für einen Künstler, der sich freilich im Tempelinneren der Kunst niemals mit dem Nachdenken über ihr ästhetisches Wesen begnügt, sondern der die Musik auf eine Weise zum Klingen bringt, die seine Wahrnehmung des profanen Draußen reflektiert.
Am 25. Januar 1878, mitten in der Komposition des Parsifal, meinte Richard Wagner lachend zu Ehefrau Cosima, die das in ihrem Tagebuch überliefert (Zitat): „Ich werde nun bald meine Monsieurs mit dem Radetzkymarsch ablatschen lassen.“ Gemeint ist mit der, von der Gattin wahrscheinlich kaum goutierten plebejischen Bemerkung, der Marsch der Gralsritter gegen Ende des ersten Aktes. Franz Liszt hat sich seiner bemächtigt, und daraus ist mehr geworden als eine seiner zahlreichen Paraphrasen der Glanznummern aus populären Opern der Zeitgenossen. Dessen Feierlicher Marsch zum Heiligen Gral aus Parsifal leitete den zweiten Teil von Igor Levits Soloabend ein.
Mit getragenen, balsamisch einlullenden und vehement aufbrausendem Klängen inszenierte er gleichsam akustisch, und für diejenigen Zuhörer, die sich der Szene erinnern, womöglich sogar bildlich, das von Glockenschlägen grundierte Schreiten der Männergesellschaft, die umstehenden klagenden, die in Mitleid oder Ehrfurcht erstarrten Protagonisten sowie die engelsgleiche Stimme aus der Höhe. Das ist schon grandioses Konzertieren, mit dem, und hierhin scheint der obschon reichlich fadenscheinige Begriff zu passen, ein pianistisches Tongemälde entworfen wurde. Igor Levit, eine grazile Erscheinung in dunkelgrauem Shirt und gleichfarbiger Hose, verbeugt sich flüchtig, begibt sich an den Flügel, setzt sich auf den Hocker, ein kurzer Moment der Konzentration und er beginnt zu spielen. Sofern nicht nach dem ersten Takt ein Gegenstand im Publikum scheppernd zu Boden fällt. Er bricht jäh ab, und vor dem zweiten Einsatz geht sein kurzer mahnender Blick in nämliche Richtung.
Mit Franz Liszts Fantasie und Fuge über den Choral: Ad nos, ad salutarem undam hat der Mann am Flügel, salopp gesprochen, alle Hände voll zu tun. Das originale, für Orgel geschriebene und eine halbe Stunde dauernde Werk hat wiederum Ferruccio Busoni frei für das Klavier eingerichtet. Zugrunde liegt ihm der gleichnamige Choral der Wiedertäufer aus Giacomo Meyerbeers heute selten aufgeführter, seinerzeit indessen gefeierter Oper: Der Prophet. Dem Opus sind alle Temperamente wie Seelenlagen einverleibt, bei ihm muss der Pianist sich einen Weg bahnen durch das Konvolut der Töne aller Stärken und Farben, er wandert gewissermaßen vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Allerdings auch wieder zurück, nachdem er und der Flügel auf das Extremste gefordert wurden. Die Wanderung verlangt, neben einem gewissen Virtuosentum in Lisztscher wie Busonischer Manier, die spirituelle Fähigkeit zur Wahrnehmung und Wiedergabe der komplexen Textur einer solchen spätromantischen Komposition, damit trotz allen gelegentlichen Überschwangs und >Getöses< deren musikalischer Kosmos für das Publikum durchhörbar und somit verständlich gerät. Der Beherrscher aller Tasten – und eben sein Instrument! – beide bewältigten an dem Abend solche herkulische Aufgabe kongenial.
Am Ende applaudierte das Publikum enthusiastisch, es war vernehmbar angetan von Igor Levits Präsentation eines Programms, das sich abhob von dem gängigen anderer Star- und Jahrhundertpianisten. Graduierungen dieser Art sind heutzutage das unabwendbare Schicksal eines großen Künstlers, dessen intelligentes Erfassen wie dementsprechend emphatische Darbietung der Partituren ein Düsseldorfer Publikum jederzeit wahrnahm und würdigte: es entließ ihn nach der Wiedergabe zweier Kinderszenen aus Robert Schumanns op.15. Sie klangen, als ob die Musik erschöpft ausatme.
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