Düsseldorf, Deutsche Oper am Rhein, Hänsel und Gretel - Lost in the Forest, IOCO Kritik, 20.11.2016

Düsseldorf, Deutsche Oper am Rhein,  Hänsel und Gretel - Lost in the Forest, IOCO Kritik, 20.11.2016
Deutsche Oper am Rhein / Oper am Rhein fuer alle Opernhaus © Hans Joerg Michel - www.foto-drama.de
Deutsche Oper am Rhein / Opernhaus © Hans Joerg Michel - www.foto-drama.de

HÄNSEL UND GRETEL  -  LOST IN THE FOREST

Engelbert Humperdincks drei Märchenbilder als doppeltes Spiel

Erbauung zur Genüge beschert dieses Märchenspiel in drei Bildern dem deutschen Gemüt, das just um Advent und Weihnachten herum besonders zur Gefühlsseligkeit neigt. Selbst wenn es zunächst ob des erbarmungswürdigen Daseins eines Besen bindenden Ehepaars schier zu  verzagen droht, sodann mit dessen in den finsteren Wald verbannten Kinderlein zu leiden hat und schließlich das grausliche Ende einer Hexe verkraften muss, so schieben sich zwischen all das Elend genügend Erscheinungen, die das Vertrauen in den Sieg des Guten sanktionieren.

Sofern der Wald sich dunkel und drohend zeigt, so verbreiten die Bäume doch mitunter rauschend und raunend Zuversicht. Um das verlassene Geschwisterpaar kümmern sich neben vierzehn Engelein das Sand- und das Taumänchen. Hänsel ist bereits Manns genug, um trotz eigener Angst die Schwester trösten zu können. Beide zusammen machen der Hexe sachgemäß den Garaus, indem sie die Kannibalin in den Backofen ihrer zum Zuckerbäckerhäuschen maskierten Hexenküche befördern. Die Eltern treffen pünktlich ein, auf dass die Familie gemeinsam mit den entzauberten Lebkuchenkindern die erlösende Tat zu feiern und dem Himmel zu danken vermag. Lieto Fine oder Glückliches Ende, und der Vorhang senkt sich.

Da das kindlich-jugendliche Gemüt heutzutage mittels der Computerspiele lebensnahe Nachrichten von Bösewichtinnen und Bösewichten bereits früher empfängt als unsereins vormals die lebensfremderen mittels Hexen und Wölfen, welche Mädchen verspeisen, bietet die Deutsche Oper am Rhein die Geschichte von Hänsel und Gretel sowohl in der der traditionellen Form, wie sie diese zudem  für die jüngere Generation aktualisiert und aus dem zeitlosen Märchenland in die moderne Großstadt verlagert hat. So eingerichtet, erhält sie unter dem Titel:

           LOST IN THE FOREST

Ein Mitmachprojekt der Jungen Oper am Rhein

zu anderem Zeitpunkt ihren eigenen Auftritt auf der Bühne des Düsseldorfer Opernhauses.

Deutsche Oper am Rhein / Lost in the Forest © Susanne Diesner
Deutsche Oper am Rhein / Lost in the Forest © Susanne Diesner

Ende des Neunzehnten Jahrhunderts gab die Schriftstellerin Adelheit Wette dem Märchen eine von mancher Gemeinheit gereinigte und mithin harmlosere Fassung, die gleichwohl ihren Bruder Engelbert Humperdinck zur Vertonung anregte. Die blässliche Vorlage gedieh durch die Blutzufuhr der Musik zu einem schaurigschönen Theaterstück.

Jeweils der Szene gemäß gebärdet sie sich hitzig und leidenschaftlich, sie findet aber auch die nötigen zauberischen, unheimlichen und bisweilen rührseligen Töne. Sie untermalt die erste Begegnung der kindlichen Unschuld mit der Schlechtigkeit der Welt, verweist indessen zugleich auf die Protektion irdischer Schwäche durch des Himmels Stärke. So kommt es zu diesem Kinderstubenweihefestspiel, wie Humperdinck seine drei Märchenbilder ironisiert haben soll. Zu Recht dürfen sie eine Oper genannt werden, eine, welche zu Herzen gehen will und geht. Ihre sentimentale Absicht machte sie zu einem unvergänglichen allzeit hörens- und sehenswerten Welthit. Da dessen Uraufführung 1893 in die Epoche von Kaiser Wilhelm II fällt, lautet die stille Botschaft zudem, dass Vertrauen in die Obrigkeit und die Treue zu ihr sich letztlich auszahlt und nicht bloß mit Pralinen und Pfefferkuchen belohnt wird.

Deutsche Oper am Rhein / Lost in the Forest © Susanne Diesner
Deutsche Oper am Rhein / Lost in the Forest © Susanne Diesner

Lost in the Forest: Anna Mareike Vohn, Spiritus Rector der Jungen Oper am Rhein, hat den Märchenstoff in eine Alltagsstory umgewandelt und David Graham Humperdincks Musik dafür eingerichtet. Das jetzt zeitnahe Bühnenwerkchen freilich entbehrt aller Hinweise auf jeden himmlischen oder irdischen Beistand. Die Kinder tanzen dem vom Beruf okkupierten Elternpaar auf dem Sofa und der Nase herum, bis das angesäuert sie an die Luft setzt und diese sich in die Stadt verdrücken. Recht abenteuerlustig vagabundieren sie dort herum, um endlich von einem mit Zaun samt Betretenverbotenschild eingezäunten Baugelände angelockt zu werden. Auf dem lösen sich aus der Düsternis der Hochhausfassaden diejenigen seltsamen Figuren, die auch in der Originaloper herumgeistern: Sandmännchen, Taumännchen, Knusperhexe und Lebkuchenkinder. Ob Traum, ob Wirklichkeit, ob Verzauberung oder Entzauberung, das Ganze endet in einem Wimmelbild, in dem die Hänselundgretelkinder mit den Märchenfiguren singend um ein Karussell walzen, auf dem Supermarkteinkaufwagen herumrollern, die Knusperhexe im Netz einfangen wird, worin kurzum alle miteinander eine Menge Allotria treiben. Von: "Verloren im Großstadtdschungel" weiß auch die Musik nichts mehr, die Jugend im Orchestergraben (U 16 Orchester der Tonhalle Düsseldorf) fiedelt und bläst dazu mit Herzenslust. Das ist letztlich ein verhextes und vergnügliches Singspiel, welches ebenfalls überwiegend Jugendliche (Kinderchor am Rhein) furios auf die Bühne bringen. Bravissimo!

Hänsel und Gretel

"Ein Kinderstubenweihefestspiel"

„Schont mir Prospekte nicht und nicht Maschinen”, lautet die Forderung des Theaterdirektors in Goethes  Faust. Die Rheinoper hält sich daran und liefert von Kind bis Greis allen das allerrealistischste Illusionstheater mit ihrer seit der Premiere 1969 öfters aufgefrischten Inszenierung (Andreas Meyer-Hanno) von Engelbert Humperdincks Oper. Eingangs im Vorspiel hat die bestens aufgelegte Orchestermaschine der Düsseldorfer Symphoniker unter Lukas Beikirchner ungestüm wie gedämpft auf Jubel und Jammer der zwei Menschlein eingestimmt.

Deutsche Oper am Rhein / Hänsel und Gretel - Besenbinder und Frau © Hans Joerg Michel
Deutsche Oper am Rhein / Hänsel und Gretel - Besenbinder und Frau © Hans Joerg Michel

Im ersten Bild steht ein bläulicher Sonnenmond über der Waldeslichtung mit der Holzkate einer dicht an der Armutsgrenze siedelnden Besenbinderfamilie. Obschon deren Einrichtung die allerkärglichste ist, so zählt immerhin ein Kruzifix neben der Eingangstür dazu. Sind die verspielten Geschwister (Maria Kataeva und Sibylla Duffe) von der Mutter (Romana Noack) in den Wald strafversetzt und die dortigen Gefahren durch Hexenhand vom Vater (Anooshah Golesorkhi) beschworen worden, erinnert die Musik unüberhörbar daran, dass ihr Komponist einst in Richard Wagners Kanzlei dessen Partituren kopierte. Der Hexenritt leitet über ins zweite Bild. Unbehaust im tiefen Wald, umringt von scheinbar drohenden düsteren Bäumen und spärlich beleuchtet vom verblassenden Sonnenmond, schlafen Hänsel und Gretel nach melodiösem, ihre Schutzengel zitierendem Nachtgebet auf dem steinigen Boden ein. Zuvor hat eine dem Rumpelstilzchen verwandte Zwergengestalt, gleich einem Erdgeist dem Bühnenboden entstiegen, als Sandmännchen (Maria Boika) seine Pflicht erledigt und die Kinderaugen zufallen lassen. Prompt haben die besungenen vierzehn Cherubine ihren Auftritt. Neuerlich an Wagner gemahnend, schreiten sie gravitätisch wie Gralsritterinnen im weiß wallenden Gewand aus dem Wald, umkreisen das schlummernde Paar und legen sich wie ein Schutzschild zu ihnen auf die Erde. Zumindest im Traum behütet, verstreicht die Nacht der beiden.

Deutache Oper am Rhein / Hänsel und Gretel - Ensemble © Hans Joerg Michel
Deutache Oper am Rhein / Hänsel und Gretel - Ensemble © Hans Joerg Michel

Sobald im dritten Bild morgens bei einer jetzt aufstrahlenden Mondsonne das Taumännchen, ein graziöses Figürchen (Dimitra Kotidou) im silbernen Raumanzug, als Weckmännchen die zwei munter gemacht hat und sie sich den Sand aus den Augen gewischt haben, besitzen sie den klaren Blick für das jählings hinter ihnen erscheinende Knusperhaus. Das sieht mit Lebkuchenfassade und Zuckergussdach in der Tat so lecker aus, dass man aus dem Sessel direkt auf die Bühne springen möchte, um wie die zwei Waldgänger an dessen Schokoladenseite herumzuknabbern. Allein mit dem Auftauchen der potthässlichen, an dem Abend authentisch weiblichen Sopranhexe (Morenike Fadyomi) - und keinem Tenor in einer Rockrolle - unterdrückt man sofort derartiges Verlangen.

Deutache Oper am Rhein / Hänsel und Gretel - Ensemble © Hans Joerg Michel
Deutache Oper am Rhein / Hänsel und Gretel - Ensemble © Hans Joerg Michel

Indessen draußen auf Düsseldorfs Rathausplatz die Narrenherrschaft (11.11.) ausgerufen wird, in den USA ist das wohl schon drei Tage zuvor der Fall gewesen, bündeln die Darsteller alle Muskel- wie Stimmkräfte und laufen im dramatischen, infernalischen wie theatralischen Finale zur Hochform auf. Zunächst treibt die barbarische Knusperhausbesitzerin ihr infames Spiel mit Hänsel und Gretel: der Junge wird in einen hoch hängenden Vogelkäfig gesperrt, das Mädchen zur Statue verhext. Darauf besteigt die Alte ihren Besen zu einem diabolisch vergnügten Ritt rund um ihre Immobilie. Bruder und Schwester jedoch haben die ersten Lektionen von des Lebens Widrigkeiten hinter sich und behalten klaren Kopf, sodass die leichtsinnig agierende Hexe das ihnen zugedachte groteske Ende selbst findet, wenn sie von Gretel in die gewaltig qualmende Öffnung des Backofens eingelocht wird.

Sowie aus den vielen verwunschenen Lebkuchen wieder Kinder geworden und auch die Eltern herbeigeeilt sind, stimmen nach überstandenen Hexennöten, Entzauberung und geglückter Familienzusammenführung alle ein Te Deum an, worüber die bläuliche Mondsonne ihr gleißendes Licht ausgießt. Halleluja!   Durch das Rund der Deutschen Oper am Rhein zu Düsseldorf rauscht nun der wohlverdiente Beifall. IOCO / Albrecht Schneider / 20.11.2016

Opernhaus Düsseldorf - Hänsel und Gretel, weitere Termine: 20.11.2016, 2.12.2016, 6.12.2016, 18.12.2016, 22.12.2016, 06.01.2017, 15.1.2016

Theater Duisburg - Lost in the Forest, Premiere  25.11.2016 weitere Termine 27.11.2016, 30.11.2016

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