Dresden, Kulturpalast, ORGELKONZERT ZUM JAHRESWECHSEL, IOCO

Dresden, Kulturpalast, ORGELKONZERT ZUM JAHRESWECHSEL, IOCO
Kulturpalast Dresden copyright Nikolaj Lund

31. Dezember  2024

 

Olivier Latry (geb. 1962), Palastorganist dieser Saison, beschließt das musikalische Geschehen 2024 im Dresdner Kulturpalast mit seinem Konzert zum Jahreswechsel. Latry, schon mehrmals in dieser Funktion, weihte damals das für diesen Konzertsaal neu konzipierte und von der traditionsreichen Bautzener Orgelbaufirma Eule gebaute Instrument ein, eine wahre Königin der Instrumente, eine Konzertorgel, die sich bewusst von den Traditionen des mitteldeutschen Kirchenorgelbaus löst, die neben den Möglichkeiten und Klangfarben der spätromantischen deutschen Instrumente auch die der amerikanischen, englischen und französischen Orgeln einbezieht. So entstand ein einzigartiges Werk mit einer orchestralen Farbenvielfalt und allen dynamischen und technischen Raffinessen.

Die Verpflichtung von Olivier Latry ist ein Glücksfall für Dresden, zählt er doch zu den weltweit führenden Interpreten an der Orgel. Er repräsentiert eine, über die Jahrhunderte kontinuierlich gewachsene Orgeltradition in Frankreich, die neben der Interpretation gängiger Literatur vor allem die Kunst der Improvisation pflegt.

Olivier Latry copyright: Deyan Parouchev

Johann Sebastian Bach (1685-1750):

Präludium und Fuge G-Dur BWV 541

Der Konzertbeginn ist eine Ehrerbietung gegenüber dem thüringisch-sächsischen Bach, dem Fürsten aller Clavier- und Orgelspieler, wie ihn seine Zeitgenossen bewundernd nannten. Der frische, mitreißende Aufschwung des Präludiums, ein Manualsolo durch den gesamten G-Dur-Tonraum, eröffnet ein festliches Musizieren. Die anschließende vierstimmige Fuge, deren Thema Bach bereits in seiner Weimarer Kantate Ich hatte viel Bekümmernis BWV 21 (allerdings in Moll) verwendet hat, gewinnt nach ruhigem Beginn erst gegen Ende mit einem spannungsvollen, dissonanten Dominantakkord an Dramatik. Unter einem ausgehaltenen g“ erscheint das Thema noch einmal in der Subdominante, eine thematische Engführung führt die Fuge zu einem kraftvollen Abschluss.

Wachet auf, ruft uns die Stimme - Choralbearbeitung BWV 645

Die Komposition ist eine von sechs Choralbearbeitungen, deren Originaldruck 1748/1749 Johann Georg Schübler veranlasste. Der Choral hat seinen Ursprung in dem 1599 von Philipp Nicolai geschriebenen Kirchenlied. Zahlreiche Um- und Neudichtungen, entsprechend den liturgischen Anforderungen, zeigen die Beliebtheit dieses Liedes. Bach verwendet bereits in seiner 1731 uraufgeführten Kantate BWV 140 die Melodie im mittleren Teil.

Beide aufgeführten Bach-Werke stammen aus der Leipziger Zeit, der Zeit  vollkommener Meisterschaft Johann Sebastian Bachs.

Claude Balbastre (1724-1799): Noël Bourguignon

Balbastre ist ein französischer Komponist, Organist und Cembalist. Ihm gelingt nach früher musikalischer Ausbildung mit Hilfe Rameaus sehr schnell der Aufstieg in die vornehme Pariser Gesellschaft. Er wird Organist der Kathedrale Notre-Dame, Organist und Cembalist des französischen Königs und unterrichtet die Königin Marie-Antoinette. Dreimal belegt die Erzdiözese Balbastre mit einem Spielverbot wegen seines spektakulären Orgelspiels, da die begeisterten Besucher einer Messe die Kirche nicht verlassen wollen. Auch Balbastre gerät in die Wirren der Französischen Revolution, verliert seine Anstellungen an den Adelshäusern und damit einen wesentlichen Teil seiner Einnahmen, darf aber Organist der Kathedrale Notre-Dame bleiben. Jetzt spielt er Fantasien über revolutionäre Hymnen und komponiert Werke für revolutionäre Festlichkeiten.

Zu den wenigen erhalten gebliebenen Kompositionen gehört Noël Bourguignon, Teil der vier Suiten mit Bearbeitungen und Variationen über volkstümliche Weihnachtslieder.

Orgel Kulturpalast Dreden copyright Markenfotografie

Marcel Dupré (1886-1971): Variations sur un Noël op. 20

Dupré genießt als Komponist, Organist, Pädagoge und Herausgeber großes internationales Ansehen. Er ist Schüler von Charles-Marie Widor und Louis Vierne. Nachdem er bereits Stellvertreter von Widor an der Orgel von Saint-Sulpice in Paris ist, wird er 1934 der offizielle Nachfolger im Amt. Zuvor vertritt er Vierne vier Jahre als Organist an der Kathedrale Notre-Da. Er spielt mehr als zweitausend Konzerte in aller Welt. Zwei Generationen von Komponisten und Interpreten studieren bei ihm, darunter Jean Langlais, Olivier Messiaen, die Organistin Marie-Claire Alain, die als eine der Ersten die Forschungen zur Historischen Aufführungspraxis auf der Orgel anwendet und Pierre Cochereau, der spätere Organist von Notre-Dame. Das Gesamtwerk von Marcel Duprés umfasst rund einhundert Kompositionen für Klavier, Orchester, Chor, Kammermusik und Orgel, die „die Orgelliteratur mit neuen Wegen bereicherten“ (Olivier Messiaen).

Die Variations sur un Noël entstehen 1922 im Eisenbahnzug auf einer Konzertreise durch die USA. Es sind Variationen über das alte französische Weihnachtslied Noël nouvelet. Auf die Vorstellung des etwas düsteren, einfachen Themas folgen zehn Variationen, freie wechseln mit kontrapunktischen, bevor das Werk mit einer Toccata, zunächst in Moll, dann in Dur, kraftvoll endet.   

Jean Langlais (1907-1991): aus „Poèmes évangéliques“ op. 2: „La Nativité“

Der Komponist, Organist und Pädagoge Jean Langlais gilt als einer der einfallsreichsten und originellsten Musiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Seit dem zweiten Lebensjahr blind, später Meisterklassenschüler von Duprés und Dukas, wird er zu einem in aller Welt gefeierten Künstler. Seine umfangreiche Werkliste umfasst außer der Oper fast alle Gattungen und Formen: über dreihundert Orgelwerke, geistliche und weltliche Chormusik, Lieder, Kammermusik und Kompositionen für Orchester. Als Titularorganist an der Pariser Sainte Clotilde wird er besonders bewundert für seine ideenreichen Improvisationen. Er selbst sah sich nicht als Organist, sondern als Orgel spielender Musiker. 1932 schreibt Langlais seine dreiteiligen Poèmes évangéliques. Der zweite Satz La Nativité ist eine stille, stimmungsvolle Schilderung der biblischen Krippenszene, eine tonal freie Komposition.

Olivier Messiaen (1908-1992): aus „Nativité du Seigneur“:

                                                           „Les Anges“ / „Dieu parmi nous“

Nativité du Seigneur, neun Meditationen für Orgel, schreibt Messiaen 1935. Zu den bei der Uraufführung Mitwirkenden an der Orgel der Pariser La Trinité   gehört auch Jean Langlais. Messiaen, einer der vielseitigsten Künstler des Jahrhunderts, betreibt nach einem traditionellen Musikstudium, unter anderem bei Dupré, weitere intensive Studien zur außereuropäischen Musik, der Gregorianik und der Theologie. Er entwickelt eine Philosophie der Zeit, widmet sich der Zahlenmystik, löst die Taktgliederung in seinen Kompositionen auf, entwickelt Tonleiterskalen, sogenannte Modi, und entdeckt die Farb-Ton-Beziehung wieder. Intensiv beschäftigen ihn der Gesang der Vögel und weitere ornithologische Forschungen. All das fließt ein in seine Kompositionen, macht sie so faszinierend, oft rätselhaft, einzigartig. Als Professor am Pariser Konservatorium hat Messiaen starken Einfluss auf die Entwicklung der zeitgenössischen Musik. Er ist einer der Wegbereiter der seriellen Musik. Sechzig Jahre lang ist er Organist an der Pariser Trinité. Die Orgel ermöglicht ihm die Umsetzung seiner Ideen. So ist Nativité du Seigneur für Messiaen die erste Komposition, die für seine musikalische Sprache charakteristisch ist. Les Anges, die sechste Meditation, verkörpert die Engel der Weihnachtsgeschichte, die das „Ehre sei Gott in der Höhe!“ singen. Dieu parmi nous, der letzte Teil des Zyklus, huldigt der Menschwerdung, Gott, der mitten unter uns ist. Für Messiaen ist das „eigentliche Stück“ die Toccata am Ende des Satzes, mit der das Werk seinen großartigen Abschluss findet.

Olivier Latry (geb. 1962): Improvisation

Latry, seit 1985 Titularorganist an der Kathedrale Notre-Dame de Paris, ist in der Saison 2024/2025 wieder Palastorganist des Dresdner Kulturpalastes. Wer das Glück hatte, direkt oder über das Fernsehen, ihn bei der Wiedereinweihung der Kathedrale Notre Dame oder in den Jahren davor bei den Messen dortselbst an der Orgel zu erleben, kennt die überwältigende, alle Möglichkeiten des Instruments nutzende Improvisationskunst von Olivier Latry. Seine stilistische Vielseitigkeit, seine nahezu grenzenlose Virtuosität und die großartigen Improvisationen machen ihn zu einem begehrten Musikpädagogen, Solisten und künstlerischen Partner aller bedeutenden Konzerthäuser, Musiker und Dirigenten. Zahlreiche Uraufführungen, CD-Produktionen, viele Auszeichnungen, eine Professur am Conservatoire Supérieur de Paris, eine Ehrendoktorwürde der McGill University Montreal sind Zeugnis internationaler Wertschätzung. Das Thema des alten Weihnachtsliedes Es ist ein Ros´ entsprungen, später verbunden mit Beethovens Freude schöner Götterfunken, entwickelt Latry in einer überwältigenden Improvisation. Das Publikum feiert den Künstler enthusiastisch und entlässt ihn erst nach der Zugabe der Choralbearbeitung In dir ist Freude von Johann Sebastian Bach.

Es ist müßig, über das Orgelspiel Latrys zu schreiben: es ist einfach nur großartig. Mit diesem erlebnisreichen Konzert spannt er einen Bogen von Sachsen nach Frankreich, einen Bogen über mehr als zweihundert Jahre Musikgeschichte und erweist dabei den großen Vorgängern seine Referenz. Es ist ein stimmungsvoller Rückblick auf die Adventszeit und Weihnachtsfeiertage, gleichzeitig ein hoffnungsvoller Ausblick auf das Jahr 2025: „Wir haben die Pflicht zur Zuversicht“ (Giovanni di Lorenzo, DIE ZEIT, 24. Dezember 2024)).

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Dresden, Kulturpalast, SILVESTERKONZERT DER DRESDENER PHILHARMONIE, IOCO

Dresden, Kulturpalast, SILVESTERKONZERT DER DRESDENER PHILHARMONIE, IOCO

31. Dezember 2024   Unter Leitung von Sir Donald Runnicles, dem designierten Chefdirigenten der Dresdner Philharmonie, beendet das Orchester das an musikalischen Höhepunkten reiche Jahr 2024.   Edward Elgar (1857-1934): Cockaigne (In London Town)                                                 Konzertouvertüre op. 40 Elgar, Sohn eines Musikalienhändlers und Organisten, eignete sich selber sehr früh musikalische Kenntnisse an, lernte,

By Bernd Runge