Compiègne, THÉÂTRE IMPÉRIAL, LES AILES DU DÉSIR (2023)- Othman Louati, IOCO Kritik,
LES AILES DU DÉSIR - Oper - 7 Solo-Sänger und 13 Instrumentisten, nach einer Original-Idee von Johanny Bert, Libretto von Gwendoline Soublin nach dem Film Les Ailes du Désir - Der Himmel über Berlin - von Wim Wenders : Ergebnis eines Auftrags an den französischen Komponisten Othman Louati
Oper - 7 Solo-Sänger und 13 Instrumentisten, nach einer Original-Idee von Johanny Bert, Libretto von Gwendoline Soublin, nach dem Film Les Ailes du Désir - Der Himmel über Berlin - von Wim Wenders
von Peter Michael Peters
FLÜGEL DER SEHNSUCHT ÜBER BERLIN…
DAS LIED VOM KINDSEIN
Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, daß es ein Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.
(Auszug aus dem Gedicht von Peter Handke (*1942)
Zwischen Begierde und Sehnsucht…
Zum ersten Mal seit seiner Gründung hat sich das französische Opern-Ensemble co[opéra]tive auf das gewaltige Abenteuer eingelassen, eine Oper zu kreieren! Nach der Erkundung des Repertoires vom Barock bis zum 20. Jahrhundert handelt es sich daher diesmal um ein neues Werk, das in dieser Saison präsentiert wurde: Les Ailes du désir - Die Flügel der Sehnsucht (?) oder wenn man so will – Begierde (!) ist das Ergebnis eines Auftrags an den französischen Komponisten Othman Louati (*1988), für den es die erste Oper ist. Das Libretto stammt von der französischen Dramaturgin Gwendoline Soublin mit einer Idee des französischen Bühnenbildner Johanny Bert nach dem schon mythischen Film Der Himmel über Berlin (1987) des weltberühmten deutschen Regisseurs Wim Wenders (*1945).
Die Uraufführung entstand am 9. und 10. November 2023 auf dem Bateau Feu, Scène National de Dunkerque. Die Entstehung der Produktion wurde dem französischen Regisseur Grégory Voillemet anvertraut, der wie er selber sagte, sich von diesem einmaligen Meisterwerk unserer Film-Geschichte äußerst inspiriert hatte, um eine glaubwürdige Inszenierung anzubieten. Die Sänger und Marionetten wurden in einer Szenografie vereint, so dass auf originelle Weise die Welt von Berlin in den 1980er Jahren widergespiegelt wurde.
Es ist der junge talentierte französische Dirigent Léo Margue und das Musik-Ensemble Miroirs Étendus, mit dem der Komponist schon sehr lange eine musikalische Verbindung hat, die die Partitur im Orchestergraben aufführen wird. Auf der Bühne steht eine Besetzung von sehr großer Qualität angeführt von der französischen Sopranistin Marie-Laure Garnier, die Gewinnerin der Victoires de la Musique Classique 2021. Sie hat die Hauptrolle übernommen: Den Engel Damielle und der belgische Bariton Romain Dayez singt den Engel Cassiel.
Die Saison ist völlig dieser Produktion gewidmet, die vor drei Jahren ins Leben gerufen wurde und auch der Sachverstand der co[opéra]tive und den sechs anderen Theatern wurde außerordentlich mobilisiert: Die an diesem Abenteuer teilnahmen. Dessen Ziel es ist die Oper im ganzen Land für alle erlebbar zu machen und über die Metropolen hinaus, in denen sich schon die größten Opernhäuser befinden. Drei Nationale Bühnen und drei Opernhäuser haben sich die Aufgabe gemacht Opern zu produzieren und auch für ein breites Publikum im ganzen Land durch die Teilnahme am Netzwerk der multidisziplinären Bühnen mit Produktionen zu bereichern: Die besonders für ihre Qualität anerkannt sind! Natürlich auch dazu mit sehr hohen künstlerischen Ansprüchen sowohl in der Theater- als auch in der Musik-Kunst bekannt sind.
Zwischen November 2023 und Mai 2024 wird die Opern-Kreation 16 Mal in 8 Theatern aufgeführt. Sie wird ihre Tournee im Atelier Lyrique de Tourcoing beenden und zwar in der Stadt in der Komponist aufgewachsen ist! Es ist ein große Ehre für die co[opéra]tive dazu beizutragen, Künstlern die Schaffung neuer Werke zu ermöglichen, das Repertoire zu bereichern und die Kreation so weit wie möglich zu teilen.
Flügel der Begierde…?
Die Engel Damiel und Cassiel treten schon seit Anbeginn der Zeit als unsichtbare Beobachter der Welt auf, insbesondere in Berlin. Sie können nicht in das Leben der Menschen eingreifen und sich ihnen nicht zu erkennen geben, ihnen jedoch neuen Lebensmut einflößen. Dabei sind sie in der Lage, die Gedanken der Menschen zu hören und so auch deren der Außenwelt verborgene Sorgen mitzubekommen. Das Leben der Engel ist rein und geistig, sinnliche Empfindungen sind ihnen unzugänglich und sie können nicht mit der physischen Welt interagieren. Lediglich Kinder, die eine reine unverdorbene Seele haben, nehmen sie wahr. Während ihres Alltags hören die Engel dabei eine Vielzahl an Problemen mit, die die Menschen haben. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Ihnen lebt in der dicht besiedelten Stadt emotional isoliert und scheint von ihrem Umfeld entfremdet zu sein. Der Wunsch am Leben der Sterblichen und deren Empfindungswelt teilzuhaben, wird bei Damiel so groß, dass er dafür bereit wäre, auf seine Unsterblichkeit zu verzichten.
Zwei Personen, die dabei von beiden Protagonisten zu separaten Momenten besonders intensiv beobachtet werden, sind der sich im Film selbst spielende Peter Falk (1927-2011), der in Berlin in einem Film über den National-Sozialismus einen amerikanischen Agenten spielt und dabei versucht, die Gesichter der an der Produktion anwesenden Personen in Zeichnungen einzufangen, sowie die Trapezkünstlerin Marion, die ihre letzte Vorstellung gibt, da der Zirkus, zu dessen Besetzung sie gehört, keinen Gewinn mehr abwirft und sich die Kosten für die Show nicht mehr lohnen. Marion ist von großer Einsamkeit geplagt und scheint keine Erfüllung in ihrem Leben finden zu können. Damiel verbringt viel Zeit damit, ihren Gedanken zu lauschen und verspürt eine starke Zuneigung zu ihr, welche seinen Wunsch nach der Möglichkeit, ein menschliches Dasein zu führen, noch verstärkt, da er weder mit ihr sprechen noch sie berühren kann. In einer Nacht, die er an ihrem Bett verbringt, erscheint er ihr in einem Traum, in dem sich die beiden näherkommen.
Währenddessen kann ein von Depressionen geplagter Mann, dem Cassiel folgt und dem er durch seine Präsenz neuen Lebensmut einhauchen will, nicht vom Selbstmord abgehalten werden. Er stürzt sich vor den Augen des Engels in den Tod.
Eines Tages trifft Damiel abseits der Film-Szene an einer Imbissbude auf Falk, der ihm zu verstehen gibt, dass er ihn zwar weder hören noch sehen kann, seine Präsenz aber dennoch die ganze Zeit über fühlen konnte. Er schüttelt ihm symbolisch die Hand, zeigt sich emphatisch für seine Situation und bezeichnet sich als einen Freund. Am nächsten Tag spricht Damiel mit Cassiel und teilt ihm freudig mit, dass er in Zukunft ein irdisches Leben leben werde und wie sein erster Tag als Mensch aussehe. Cassiel hält dies zunächst für ein fantastisches Gedanken-Spiel seines Freundes und Kollegen, stellt dann jedoch fest, dass Damiel Fußabdrücke hinterlässt. Kurz darauf fällt dieser, anscheinend bewusstlos, um!
Am nächsten Tag wacht Damiel auf dem Gehsteig auf, als ihm ein Harnisch auf dem Kopf fällt. Er bemerkt, dass er blutet, zudem kann er erstmals Farbe erkennen und schmecken: Er hat sich seinem Wunsch entsprechend in einen Menschen verwandelt! Von einem zufällig anwesenden Passanten erbittet er etwas Geld für einen Kaffee – das erste Nahrungsmittel, das er jemals zu sich nimmt. Mit seinem Harnisch als Startkapital, den er für 200 Mark verkauft, um sich Kleidung zu leisten, beginnt er sein irdisches Leben in der Welt. Er sucht am Rande des Drehorts Falk auf, der ihn, obwohl er ihn nie gesehen hat, sofort erkennt! Er offenbart ihm, dass er selbst einst ein Engel war, der sich wünschte ein Mensch zu werden und dass es noch mehrere andere mit dem gleichen Los gäbe. Er gibt ihm noch etwas Geld auf seinem Weg mit.
Auf einem Konzert der Band Nick Cave and the Bad Seeds sucht Damiel die Marion auf. In einer Bar im Nebenraum treffen die beiden aufeinander. Marion erkennt ihn unmittelbar als den Mann aus ihrem Traum wieder und bittet ihn vorerst: Sie nicht zu küssen! Sie erzählt ihm zuvor Geschichte von gescheiterten Beziehungen, die zu ihrer Einsamkeit führten und dass sie in Zukunft nur noch einen Mann lieben will, der es ernst meint. Danach küssen sich die beiden!
Auch Cassiel, dem der angesehene Suizid zu schaffen macht, trifft bei der Imbissbude auf Falk, der ihm auf die gleiche Weise die Wahrnehmung seiner Präsenz offenbart und seine Freundschaft bekundet. Anders als Damiel verbleibt Cassiel jedoch als Engel auf der Erde. Ersterer erzählt dem Zuschauer im Off währenddessen, dass die innige Verbindung, die er mit Marion nun verspüre, etwas ist, das er als Engel nie hätte haben können.
ANMERKUNG: Die Handlung des Film Der Himmel über Berlin ist praktisch direkt für die Oper Les Ailes du Désir übernommen worden, außer einigen Änderungen wie zum Beispiel der Name des Engels Damiel wird in Damielle verwandelt, da in der Oper die Rolle von einem Soprano übernommen wird.
Wie erstelle ich ein lyrisches Werk, das auf einem Kultfilm basiert…?
Im Bateau Feu ermutigten wir uns gegenseitig vor der Generalprobe, der letzten Arbeits-Sitzung. „Dieses Projekt fiel mir vom Himmel“, sagt der Komponist, dem die co[opéra]tive ein Zusammen-Treffen kultureller Strukturen und auch Berts Idee anboten, die Partitur für Les Ailes du Désir zu komponieren. Ein ziemlich beeindruckendes Projekt, sagt er zwei Tage vor der Premiere: „Es ist ziemlich beängstigend (lacht), wenn wir von einer Sitcom angefangen hätten, würden wir weniger Druck haben. Ich hoffe, dass die Leute den Film schon vor langer Zeit gesehen haben und einer Bühnen-Adaption gegenüber aufgeschlossen sind. Es ist ein filmisches Objekt, bei dem die Kamera durch Berlin fliegt, wir können nicht dagegen Kämpfen, wir müssen unbedingt Abweichungen machen, um keinen Ersatz zu zeigen“.
Schon das Drehbuch von Wenders und Handke ist äußerst poetisch…!
Um eine gewisse Distanz zum Film zu wahren, sagt Louati, er habe schon ihn oft gesehen, dann aber gar nicht mehr, als er mit dem Komponieren begann. Doch schon der Stoff sei von Lyrik durchdrungen, sagt er: „Das Drehbuch von Wenders und Handke ist bereits äußerst poetisch. Allerdings mussten wir ihm ein wenig Nervosität gönnen, denn es ist ein ziemlich langsamer Film, der mit den Engeln fliegt und auch dazu in einer anderen Zeit. Deshalb mussten wir eine Dramatik finden, insbesondere am Ende um das Werk zu Beschleunigen: Wenn der Engel inkarniert wird“.
Die Regie führt Voillemet! „Es war die Partitur“ sagt er „die mir den Wunsch und den Mut gab, mich dem Projekt anzuschließend. Es ist sehr schwierig eine Oper an einen Film anzupassen und noch mehr an einen kontemplativen Film, der aus Stille und Gedanken von Wesen besteht. Wie verkörpert man Gedanken in der Oper? Vielmehr verkörpern wir Texte, wir tragen Stimmen.“ Auf der Bühne werden die Berliner durch Marionetten dargestellt und die Sopranistin Garnier spielt den Engel Damielle, der die Menschen betrachtet: „Es ist eine wunderbare Rolle! Beide sind aus stimmlicher Sicht außergewöhnlich, ihr Tonumfang umfasst fast alle Oktaven. Auch spüre ich viele Emotionen angesichts dieses Engels, der die Gedanken hört und durch den Kontakt mit Marion die Realität der Menschen vollständig erleben möchte“.
Der Zirkus und die Zweite Wiener Schule gehören zu den Farben, mit denen diese Geschichte von Gedanken und Liebe im zerrissenen Deutschland vor dem Mauerfall erzählt wird. Wir fragten Louati, ob sie das Projekt mit Wenders besprochen hätten: „Es war leider kein anderer Austausch als ein Brief, der uns die Einschränkungen für die Adaption vorgab, aber es ist schon riesig symphatisch von Wenders und Handke. Und wir waren ziemlich überrascht, denn für das Protokoll boten sie uns sogar an, eine andere Stadt als Berlin zu nehmen. Was wir für uns wirklich nicht in Frage kam, denn für uns ist diese Stadt untrennbar mit dieser legendären romantischen Geschichte verbunden. Natürlich haben wir die Charaktere weder von Nick Cave (*1957) noch von Falk geändert, obwohl wir natürlich einiges anpassen mussten. Aber wir wollten uns wirklich an das halten, was im Film erzählt wird!“
LES AILES DU DÉSIR (2023) - Aufführung im Théâtre Impérial-Opéra de Compiègne / Compiègne - 25. Januar 2024
Ein lyrischer Flug der Engel…
Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer! Am 9. November 2023 war die Premiere der Oper Les Ailes du Désir von Othman Louati! Unter der professionellen Schirmherrschaft der Co[opéra]tive liegt die künstlerische Verantwortung für die Entstehung dieses Projekt:
Die Librettistin schuf eine Opern-Dramaturgie nach dem Original-Drehbuch des Films von Wenders. Im immer noch geteilten Deutschland fliegen die beiden Engel Damiel und Cassiel über dem Himmel von Berlin, um die Gedanken der sterblichen Einwohner einzusammeln. Sie hören sie nur und haben keine Fähigkeiten zu fühlen oder zu reagieren. Ihre Emotionen sind tot und ihre Welt ist ebenso geschmacklos wie farbenlos. Aber manchmal passiert es, dass ein Engel desertiert, um Mensch zu werden. Das ist Damiels Traum, es ist sein Wunsch den Sprung zu wagen und sich der sehr schönen Trapez-Künstlerin Marion anzuschließen: Die auch durch die Luft fliegt! In dem filmischen Meisterwerk nahm die Musik bereits einen sehr wichtigen Platz ein und so war es auch für diese neue Opern-Produktion eine gewaltige Herausforderung, mit lyrischen Mitteln den Rahmen einer neuen Erzählung zu übersetzen: Die einer Live-Show entspricht!
Der Berliner Kontext ist ebenso erhalten geblieben wie auch die Epoche. Soublin hat eine Auswahl von 14 Szenen getroffen um die Handlung zu verdichten, eine Abfolge kleiner Momente, um dem Rhythmus der Film-Sequenzen treu zu bleiben. Es ist die Musik die dabei hilft, von einer Szene zur nächsten zu gelangen, sowie auch die Bewegung der Kamera dabei hilft: Wandern und Träumen zu suggerieren! Es wurden Löschungen und Änderungen vorgenommen, jedoch immer aus Gründen der dramatischen Kohärenz. Daher wurde die von Falk gespielte Figur gelöscht und durch eine andere ersetzt: Peter, der Graffiti-Künstler der Mauer als Anspielung auf Keith Haring (1958-1990) und sein 1986 geschaffenes Fresko. Und wie schon gesagt: Die Figur von Damiel ist in Damielle feminisiert worden! Die Handlung des Films bleibt ebenso spürbar wie die Anspielungen auf die Geschichte und auf die Erinnerungen: Eben auf das Leben der Berliner!
Die Szenografie ist dynamisch, abwechslungsreich und äußerst verständlich: Die großen von dem französischen Künstler Sebastiano Toma gezeichneten Leinwände erinnern wiederum an die vielen Schauplätze des Films, wie z. B. die Bibliothek, der Zirkus, die Geschichte der Shoah, die Mauer mit ihren Graffitis: Eben die Stadt Berlin! Ein Gerüst ermöglicht es den Engeln, an Höhe zu gewinnen oder dient auch als Sprungbett für die beiden Rock-Sänger aus dem Night-Club.
Die Inszenierung kontrastiert auch die Welt der Engel mit der der Menschen: Hier personifiziert durch Marionetten. Auf der Bühne koexistieren die Sänger mit den Marionetten und ihren Manipulatoren, um ihnen Stimme, Sprache und emotionelle Tiefe zu verleihen. Im Schatten verschwindet der Sänger zunächst hinter der Marionette, seine Stimme wird verstärkt um die inneren Gedanken der Berliner zu destillieren und ein Magma menschlicher Gedanken zu bilden: Die sich zusammenfügen. Sowohl poetisch als auch mechanisch flattern die Marionetten mit ihrem ergreifenden Blick wie Engel in einer Zirkus-Szene herum. Ein wohl stummes unbewegliches Gerät, das aber sicherlich in vielen Schichten und Inkarnationen vorliegt und durch künstlerische Handhabung gewaltige Energie und Emotionen freilegt und ausstrahlt!
Die Inszenierung steht in Symbiose mit der Musik, ist eng mit ihrem Pulsieren und den großen Höhepunkten der Partitur verbunden und ermöglicht es so dem Zuschauer, sich gewissermaßen mitten im Bühnen-System zu befinden. Der Komponist legt die Atmosphäre jeder Szene fest und stellt eine schrittweise Bewegung in jeder Sequenz dar: Er betont auch die Emotion, unterstreicht eine Handlung, schafft eine gewisse Ambiance und alarmiert das Publikum! Dieser echte Soundtrack offenbart eine große Vielfalt an Texten und Texturen, die zwischen dem Minimalismus des Anfangs ein wenig wie das Schwarz-Weiß des Films schwanken und sich dann aber zu einem wirklichen Lyrismus mit einer überaus farbenfrohen Orchestrierung entwickeln. Durchsetzt mit polyphoner Musik, die an György Ligetis (1923-2006) Lux Aeterna (1966) erinnert, aber auch der Zirkus-Musik nahe kommt oder auch beeinflusst von Igor Strawinsky (1882-1971) ist, auch einige Teile erinnern an traurige sehnsüchtige jüdische Folklore. Bestimmte Instrumente unterstreichen die Geschichte, wie z. B. die prägnante Oboe in der Szene des alten KZ-Überlebenden, das Spielzeug-Klavier für die Zirkus-Sequenzen oder der Einsatz von Charles Émile Lévy Waldteufels (1837-1915) Musik mit Schlag-Instrument übersetzt als der Der Teufel des Waldes (sic), der mit der Figur der Marion in Verbindung gebracht wird um seine Aufmerksamkeit abzulenken. Die Klangfarbenpalette wird durch ein elektronisches Gerät ergänzt, das vor allem in der psychedelischen Disco-Szene mit großem Erfolg eingesetzt wird. Die ganze Vielfalt dieser Partitur trägt auch dazu bei, die kosmopolitische Seite dieser Stadt anzuzeigen! Das Ensemble Miroirs Étendues, bestehend aus nur 13 Musikern unter der aufmerksamen Leitung von Margue, gibt dieser anspruchsvollen Partitur viele brillante Momente wieder.
Die Sänger schlüpfen in vielfältige musikalische Kostüme: Deklamation mit lebhafter lyrischer Flug-Weise, Sprechgesang unter Ausnutzung eines erweiterten Ambitus mit geteilten Intervallen, die den Fall des Engels ankündigen, Parlando, Glissando, polyphonische Sätze, einige Techniken aus der zeitgenössischen Musik wie z. B. Singen und gleichzeitig auch Blasen… Aber immer in Verbindung mit dem Text und der Identität der Figur!
Der Engel Damielle wird von Garnier interpretiert, die auf ihre Stimme abgestimmte Rolle verwandelt sich von einem Engel - der auf die Unsterblichkeit verzichtet - in einen Menschen, der mit seinen Emotionen die Erfahrung der Sinne entdeckt. Die Engel werden im Allgemeinen mit kristallklarer, heller Stimme wahrgenommen. Im Gegenteil, die Stimme der Sopranistin ist voll und voluminös, sehr warm: Was der Inkarnation auch Glaubwürdigkeit verleiht. Ihr Gesang ist abwechslungsreich, außergewöhnlich in den Extremen des Spektrums von der lyrischen Stimme bis zum Sprechgesang, immer mit Leichtigkeit, wobei sie darauf achtet, jedes Wort zu färben, ihren Gesang mit einem kontrollierten Vibrato und einer Phrasierung zu modulieren: Die sowohl nachdenklich als auch natürlich ist! Auf diese Weise drückt sie die verschiedenen Facetten derselben Rolle aus, wiederum aufrichtig angesichts der Entdeckung der Welt der Menschen und gewinnt nach und nach vertrauen in ihre neue Inkarnation bis sie ihr sinnliches Verlangen nach Marion voll und ganz verspürt.
An ihrer Seite wird Dayez der Engel Cassiel anvertraut. Seine warme Bariton-Stimme ist moduliert, homogen, gut projiziert und fügt sich gut in die Stimme von Garnier ein. Allein gelassen, sagt er mit durchdringender Stimme das Unglück voraus, das der Menschheit widerfahren wird: Einstürzende Städte, brennende Wälder, gewaltige Klima-Wechsel und viele unbekannte Krankheiten…
Die französische Mezzo-Sopranistin Camille Merckx setzt eine tiefe klangvolle Stimme ein, um die Akrobatin Marion zu interpretieren. Überwältigt von der Schließung des Zirkus, findet sie dennoch eine gewisse Zuversicht in der Zukunft. Mit dem Koffer in der Hand wandert sie durch Berlin, bis sie Damielle trifft. Der Komponist schrieb die Rolle für sie und betonte ihr tiefes Altregister, ihre Leichtigkeit im Umgang mit den Wechseln von Kopfstimme und Bruststimme sowie die Beherrschung wichtiger Stimmbereiche. Ihre Stimme harmoniert im letzten Duett perfekt mit der von Garnier.
Der französische Tenor Benoît Rameau spielt zwei gegensätzliche Charaktere: Den Nie-Geliebten und Peter, den Graffiti-Künstler. Er entfaltet lange Sätze im oberen Bereich seines Tonumfangs, seine gemischte Stimme wird feinfühlig eingesetzt, um den depressiven, missverstandenen Liebhaber auszudrücken, der am Ende Selbstmord begehen wird. Im Gegenteil, der rhythmische, lebendige Schreibstil, der mit der Figur des Peter verbunden ist, unterstreicht seine artikulierte belebende Phrasierung sowie seinen angemessenen körperlichen Einsatz.
Mit seiner eindringlichen Stimme porträtiert der französische Bariton Ronan Nédélec den alten KZ-Überlebenden. Der ernsthafte, dem Parlando nahestehenden Stil ermöglicht es dem Sänger dank eines verständlichen Textes, der die Vornehmheit seines Bass-Bariton-Timbres und einer Genauigkeit des Ausdrucks ohne Pathos oder anderer großer Effekte die Erinnerungen an traumatische Kriege, Konzentrationslager usw. hervorzurufen: Somit auch sehr starke Emotionen zu vermitteln und auch schöne Erinnerung aus dem Berlin der Vorkriegszeit zu behalten!
Die französische Mezzo-Sopranistin Mathilde Ortscheidt spielt mit ihrem samtigen Timbre und einem opulenten Bass, gut projiziert und artikuliert, zunächst die Mutter, dann die Zirkus-Direktorin. Ihre unbestreitbaren Qualitäten als Schauspielerin ermöglichen es ihr, in der Disco-Sequenz die Rolle einer der beiden Rock-Sängerin zu übernehmen. An ihrer Seite die japanische Sopranistin Shigeko Hata ist ebenso überzeugend und verwirklicht somit ihren Traum einmal ein wirklicher „Rockstar“ zu sein. Ihre leuchtende bewegliche Stimme mit prägnanter Phrasierung eignet sich für die anderen ihr anvertrauten Rollen: Die Bettlerin und besonders das Kind!
Nach einem Chor, der wohl die Liebe zu den Lebenden feiern sollte, erklingt Vogelgezwitscher unter dem Blick eines Marionetten-Engels, der an den von Bruno Ganz (1941-2019) in der ersten Sequenz von Wenders Jahrhundert-Film erinnert. Das Publikum war überglücklich und applaudierte herzlich der gesamten Besetzung: Die bereit ist auf eigene Faust weiter von Stadt zu Stadt zu fliegen!
Die co[opéra]tive ist ein…
Produktions-Kollektiv, das kulturelle Strukturen zusammenbringt und sich neben der Arbeit großer Opern-Institutionen dafür einsetzt: Die Oper wieder mehr zum Leben zu erwecken und im ganzen Land zu verbreiten. Das Théâtre Imperial – Opéra de Compiègne, Gründer der co[opéra]tive mit den Nationalen Szenen von Besançon, Dunkerque und Quimper und mit der Opéra de Rennes, I‘Atelier Lyrique de Tourcoing haben ihre Stärke und ihr künstlerisches Können gebündelt um gemeinsam in einem originellen Entscheidungs-Ansatz neue Ideen zu entwickeln.
Information: Die nächsten Termine für die Opern-Produktion Les Ailes du Désir sind in Nantes – 06, 07/Mai 2024, Rennes – 14, 15, 17, 18/Mai /2024 und Tourcoing – 24/Mai/2024.