Brno - Tschechien, Mahan-Theater, DER SCHARLATAN - Pavel Haas, IOCO
Brünn- DER SCHARLATAN: Nach dem Bedřich Smetana (1824-1884)-Opern-Zyklus Ostrava 2024 stellt die dramaturgische Reihe des Terezin-Opern-Zyklus des NMST zum Jahr der tschechischen Musik 2024 ein fast unbekanntes Werk vor.....
8.11.2024 - MAHAN-THEATER / BRNO - Tschechien / 9. INTERNATIONALES FESTIVAL JANÁČEK BRNO 2024 -
Pavel Haas: ŠARLATÁN / DER SCHARLATAN, Op. 14 (1937), Oper in drei Akten und sieben Szenen. Libretto vom Kompositeur nach dem deutschsprachigen Roman Doktor Eisenbarth von Joseph Winckler, der auf dem Leben des reisenden Chirurgen Johann Andreas Eisenbarth basiert.
von Peter Michael Peters
VOR DEM HINTERGRUND EINER BRUTALEN MÖRDER-DIKTATUR…
AMARANTA:
Nenne mich
Nur „Amaranta“,
das ist mein Name.
Ich werde auf dich warten!
PUSTRPALK:
Freiheit werde ich dir geben,
nachdem ich mit der Arbeit fertig bin.
Ich komme wieder zu dir!
Wir sehen uns wieder schöne Dame.
Ich werde auf den Knien auf dich warten. (2. Akt / Szene 3 / Amaranta/Pustrpalk)
Ein Meisterschüler von Janáček…
Nach dem Bedřich Smetana (1824-1884)-Opern-Zyklus Ostrava 2024 stellt die dramaturgische Reihe des Terezin-Opern-Zyklus des NMST zum Jahr der tschechischen Musik 2024 ein fast unbekanntes Werk vor. Das Ziel ist es, Werke von Komponisten auf die Bühne zu bringen, die ein wichtiger Teil unserer Kulturgeschichte waren, deren menschliche und künstlerische Stimmen jedoch vom Nazi-Regime gewaltsam zum Schweigen gebracht wurden. Nach den Opern von Hans Krása (1899-1944) und Victor Ullmann (1898-1944) ist Pavel Haas (1899-1944), ein gebürtiger Brünner Komponist, der dritte der das Trio ergänzt.
Der ältere Bruder des berühmten Schauspielers Hugo Haas (1901-1968) und einer der vielversprechendsten Schüler von Leos Janáček (1854-1928) komponierte seine Oper Der Scharlatan zwischen 1934 und 1937. Es ist die einzige vollende Oper des Komponisten und ein unbestreitbares Zeugnis seines großen musikalischen Talents.
Für die Handlung seines Librettos ließ sich Haas von einem Roman des deutschen Schriftstellers Joseph Winkler (1881-1966) inspirieren, der die Abenteuer einer realen historischen Figur, des deutschen Wanderarztes Johann Andreas Eisenbarth (1663-1727), erzählt. Als Jude musste er seine Inspiration jedoch vor dem deutschen Autor verbergen. Im Original können wir daher lesen, dass er vom tschechischen anonymen Drama Der Salbenverkäufer aus dem 14. Jahrhundert inspiriert wurde. Auch der Name der Hauptfigur des Librettos, Doktor Pustrpalk stammt aus diesem alten Drama.
Die Handlung folgt dem Leben eines reisenden Quacksalber im 17. Und 18. Jahrhundert. Spüren wir also das emotionelle Leben mitten auf einem Stadtmarkt in der Barockzeit, erleben wir die Mischung aus Quacksalberei, Betrug und echter Heilung, die großen Erfolge und auch die bitteren Stürze, den Humor und die Freude der Menschen im Gegensatz zu ihrer tristen Einsamkeit. Groteske und Tragödie wechseln sich in ständiger Bühnenhandlung vor unseren Augen ab!
Das Mährisch-Schlesische National-Theater Ostrava war mit der Oper Der Scharlatan von Pavel Haas am 8. November 2024 zu Gast beim 9TH INTERNATIONAL OPERA AND MUSIC FESTIVAL JANÁČEK BRNO 2024.
Die schwierige Genese einer Oper unter der aufkommenden antisemitischen Nazi-Doktrin…
Haas wurde schon in seiner Jugend von dem Wunsch getrieben, ein Opernwerk zu komponieren, begann jedoch erst Ende der 1920er Jahre ernsthafter über die Komposition eines Opernwerks nachzudenken, als er bereits eine erfolgreiche Reihe von Kammer- und Orchesterkompositionen sowie Liedern hinter sich hatte. Die Auswahl der Themen, die Haas in den Jahren 1927-1929 anzogen, deckt ein breites Spektrum an Genres ab. Die reuige Venus (1918) des Schriftstellers Stanislav Lom (1883-1967) war ein tiefgründiges ideologisches Drama auf der Grundlage biblischen Materials, Der Gesetzlose (1920) von Karel Čapek (1890-1938) stellte eine vitalistische Liebeskomödie dar und schließlich Der Dibbouk (1917) des osteuropäischen Dramatikers Shloyme Zanzi Anski (1863-1920) mit seinem gewaltigen dramatischen Werk aus der populären Welt der Ostjuden. Die Verhandlungen mit Lom und Čapek endeten im Fiasko und Haas wurde auch noch vom italienischen Komponisten Lodovico Rocco (1895-1986) für die Vertonung des Drama Der Dibbouk geschlagen. Auch Haas‘ Versuch, 1932 eine Zusammenarbeit mit Vítězslav Nezval (1900-1958) endete ebenfalls mit einem Misserfolg.
Offenbar gelangte in die Hände von Haas der Roman des deutschen Schriftstellers Winkler über das Leben des reisenden Barock-Arztes Eisenbarth in den Sommermonaten 1933. Winklers Buch beeindruckte den Komponisten so sehr, dass er beschloss, daraus ein Opernwerk zu machen. Das dramatische Potenzial einiger Passagen des Buches reizte ihn zweifellos, doch auch persönliche Beweggründe spielten eine sehr große Rolle bei seiner Entscheidung. Das Thema des Romans hing in erheblichem Masse mit seiner eigenen Lebens-Situation zusammen, da er von der medizinischen Umgebung war, die mit der Krankheit seiner Mutter einherging und auch eine romantische Beziehung mit der Ärztin Dr. Soňa Jakobsonová (1901-1974).
Der Roman über Eisenbarth erschien erstmals im Jahre 1929 von Winckler. Der Schriftsteller zählte zu den erfolgreichsten konservativen Autoren der damaligen deutschen Literatur, deren Werke von regionalen Motiven geprägt waren, die vor allem aus seiner Heimat Westfalen und dem Rheinland stammten. Die Chronik in Romanform über Eisenbarth fällt in dieses Gebiet. Nach seiner Veröffentlichung erzielte es nicht nur großen Erfolg bei den Lesern, sondern wurde auch von der deutschen Literaturkritik, darunter auch der von Schriftstellern wie Thomas Mann (1875-1955) mit begeisterten Worten aufgenommen. Der echte Eisenbarth, dessen Leben das Thema von Winklers Buch inspirierte, stammte aus Oberviechtach in der Oberpfalz. Den Beruf des Chirurgen erbte er von seinem Vater. Die Heiler und Chirurgen der damaligen Zeit stammten größtenteils aus der Friseurzunft, sodass ihr Beruf als einer der größten Berufe der Zeit anerkannt wurde. Da diese Chirurgen an ihrem Wohnort selten ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, wurden sie meist zu Wander-Ärzten, die von Stadt zu Stadt zogen und auf Jahrmärkten und Festen ihre Bühne aufbauten, oft begleitet von Akrobaten, Gauklern und Musikanten aller Art, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sie zu ziehen. Dies war auch bei Eisenbarth der Fall, der um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in deutschen Städten reiste und Kranke heilte. Nach und nach erlangte er Ruhm und Anerkennung, was in einem Privileg von König Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688-1740) gipfelte, der ihm für seine Verdienste den Titel Königlich-Preußischer-Hof-Augenarzt und Hofrat verlieh. Ab 1716 behandelte Eisenbarth keine Kranken mehr auf den Jahrmärkten, sondern nur noch in ausgewählten Gasthöfen und in den Häusern der adligen Gesellschaft. Sein Ruhm nahm jedoch allmählich ab und auch das Alter setzte ein. Er starb nach kurzer Krankheit während einer seiner Reisen im Gasthof Zum wilden Mann im niedersächsischen Münden. Nach seinem Tod löste Eisenbarths exzentrisches Auftreten eine Reihe von Legenden und fantastischen Geschichten über seine medizinischen Künste aus, die in den 1920er Jahren von Winckler in einem Roman umgewandelt wurden.
Haas wandte sich im Herbst 1933 mit der Bitte um eine Opernadaption an den Autor des Romans. Der Weg zur offiziellen Genehmigung von Winckler erwies sich jedoch als äußerst kompliziert. Adolf Hitler (1889-1945) war zu dieser Zeit in Deutschland bereits an der Macht, der Antisemitismus nahm zu und antijüdische Regelungen wurden rasch eingeführt. Trotz des erheblichen Risikos scheute sich Winkler nicht davor, dem Komponisten in gewissem Maße einen Gefallen zu tun und schrieb ihm, er solle sich Zeit nehmen, über das Werk nachzudenken und dass sich die politischen Verhältnisse vielleicht bald ändern würden. Vielleicht war dies nur ein Versuch, Haas zu trösten oder vielleicht war es die naive Einbildung des Autors. Auf jeden Fall blieb das NS-Regime in Deutschland fast die nächsten elf Jahre an der Macht. Im Sommer 1934 musste Winckler den Kontakt zu Haas endgültig abbrechen, da die Kommunikation mit dem jüdischen Komponisten für ihn bereits gefährlich geworden war. Haas hatte jedoch nicht die Absicht, das verlockende Thema aufzugeben und so beschloss er, nicht auf die Erlaubnis des Autors zu warten und selbst ein Opernlibretto nach dem Roman zu schreiben. Die Arbeit am Libretto nach dem Roman vollendete er selbst. Anfang Juli 1934 stellte er das Libretto fertig! Er ließ die Namen der Mitglieder der Eisenbarth-Truppe und auch die Namen der Hauptprotagonisten in seinem Text eher tschechisch klingen. Aus Doktor Eisenbarth wurde zunächst Doktor Bledovous und später Doktor Pustrpalk, dessen Name Haas aus dem mittelalterlichen tschechischen Theaterstück Der Quacksalber entnahm. Er beschloss außerdem auch alle geografischen Namen und desgleichen auch bestimmte historische Persönlichkeiten wegzulassen oder völlig anders um zu benennen.
Anschließend am 21. August 1934 begann Haas mit einer musikalischen Skizze und Ende September hatte er bereits mehr als die Hälfte der ersten Szene und einen Teil der zweiten Szene des ersten Akts vertont. Die Komposition der gesamten Oper dauerte fast drei Jahre und wurde am 24. Juni 1937 abgeschlossen. Um das Publikum vor der Uraufführung auf seine Oper aufmerksam zu machen, schrieb Haas im Jahre 1936 eine Orchester-Suite in fünf Sätzen, in die er Musik aus den ersten beiden Akten einbezog. Seine Suite aus der Tragikomischen Oper Der Scharlatan wurde von einem Rundfunkorchester unter der Leitung des Dirigenten Břetislav Bakala (1897-1958) aufgeführt. Haas hatte offenbar im Laufe des Jahres 1936 auch den Titel seiner Oper von Doktor Pustrpalk in Der Scharlatan geändert. Noch vor der Fertigstellung reichte Haas die Partitur seiner Oper beim damaligen Landes-Theater Brünn ein, das sie zur Uraufführung in der 1937/1938 annahm. Die Inszenierung von Haas‘ Der Scharlatan übernahmen führende Künstler, allen voran der Regisseur Rudolf Walter (1885-1950), der in Zusammenarbeit mit dem für das Bühnenbild verantwortlichen Bühnenbildner František Muzika (1900-1974) bestrebt war, der Oper von Haas den Charakter einer Commedia dell’ arte zu verleihen und auch die Kostüme sowie einige Hauptdarsteller der Oper eine barocke Betonung entsprechend diesem Genre zu verleihen. Die musikalische Leitung der Oper übernahm Quido Arnoldi (1896-1958), ein talentierter italienischer Dirigent, der in der Klasse von František Neumann (1874-1929) in Brno Komposition und Dirigieren studiert hatte und dann ab den 1940er Jahren als Dirigent an der Scala di Milano arbeitete. Das Landes-Theater Brünn engagierte auch seine besten Sänger in den Hauptrollen: Der Bariton Václav Bednář (1905-1987) als Doktor Pustrpalk, die Sopranistin Alexandra Čvanová (1902-1958) als die schöne Amaranta, die Sopranistin Božena Žlábková (1903-1980) als Rozina, der Tenor Emil Olšovský (1899-1952) als der Quacksalber Shabby (Šereda) und der ungarische Bariton Géza Fischer (1899-1963) als der Mönch Jochimus. Die Uraufführung von der Oper Der Scharlatan fand am 2. April 1938 statt. Der Name Winckler als Autor des Originalwerks wurde damals aus verständlichen Gründen geheim gehalten. Auf den Theaterplakaten wurde den Besuchern mitgeteilt, dass „das Libretto nach einem alten Thema vom Komponisten Pavel Haas geschrieben wurde“.
Haas‘ erste Oper war ein großer Erfolg bei der Kritik. Sie schrieben: „Der Scharlatan hat eine erhebliche Reife und auch eine außerordentliche Bühneneffektivität!“ Sie verglichen sie mit den damaligen Opern von Bohuslav Martinů (1890-1959), mit dem er das Bestreben teilte, „die Oper vor allem als Theater wiederzubeleben“. Fast ausnahmslos erwähnten die Rezensenten den unverkennbaren Einfluss von Haas‘ Lehrer Janáček auf die musikalische Konzeption und Kompositionstechnik des Werkes. Der Scharlatan war auch beim Publikum ein riesiger Erfolg! Bis zum Ende der Saison wurde die Oper sieben Mal aufgeführt. Im Dezember 1938 hatte Haas noch Zeit den prestigeträchtigen Preis der Bedřich-Smetana-Jubilee- Foundation für seine Oper entgegenzunehmen, doch zu diesem Zeitpunkt stand Europa unweigerlich schon vor einem militärischen Konflikt. Im Herbst kam das Münchner Abkommen zustande und Böhmen und Mähren wurden dann im März 1939 von der deutschen Wehrmacht überrannt. Der Scharlatan war die letzte der Haas-Kompositionen, die vor der Besetzung frei gehört werden konnte.
Hommage à Pavel Haas…
Der tschechische Komponist jüdischer Herkunft Haas, der durch eine bittere Schicksalswende im Konzentrationslager Auschwitz starb, ist heute einer der großen international anerkanntesten tschechoslowakischen Komponisten der Zwischenkriegszeit. Haas studierte zunächst einige Jahre privat Komposition bei Jan Kunc (1883-1976) und Vilém Petrželka (1889-1967), obwohl sein Studium in Janáčeks Meisterklasse am Konversatorium in den Jahren 1920/1922 für seine kreative Entwicklung von größerer Bedeutung war. Um ein Meisterschüler von Janáček zu sein, war jedoch ein großes Maß an Demut und Entschlossenheit erforderlich. Einerseits verkörperte Janáček den betörenden und genialen Künstler, andererseits spürten seine Schüler oft die Kraft seines flüchtigen und explosiven Temperaments. Die Einflüsse der westeuropäischen Avantgarde, insbesondere von Igor Strawinsky (1882-1971) und der Pariser Groupe des Six, begannen ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Kompositionen von Haas zu durchdringen, obwohl er auch noch eine Synergie mit dem Jazz verspürte, der seinen Weg nach Europa gefunden hatte. Mit der Ankunft der deutschen Besatzer in der Tschechoslowakei im März 1939 wurde Haas verfolgt und wie viele andere Menschen jüdischer Herkunft plötzlich vom kulturellen Leben ausgeschlossen. In seiner Suite für Oboe und Klavier, Op. 17 (1939/1941) verbarg er einen versteckten Protest gegen die Okkupanten mit Zitaten aus einem Altböhmischen Heiligen-Wenzel-Choral aus dem 12. Jahrhundert und einem Hussiten-Choral aus 15.Jahrhundert sowie in seiner monumentalen unvollendeten Symphonie (1940/1941). Im Dezember 1941 wurde Haas in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht, wo er seine letzten Jahre damit verbrachte zum kulturellen Leben der Häftlinge beizutragen. Seine Studie für Streichorchester (1943) und Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie (1944) sind als Beweis für Haas‘ unaufhörlichen künstlerischen Fleiß während seiner Inhaftierung in Theresienstadt überliefert. Er wurde am 18. Oktober 1944 in einer Gaskammer in Auschwitz ermordet…
DER SCHARLATAN Aufführung - Mahen Theater - 8. November 2024
Die letzte und einzige Opern-Schöpfung vor Auschwitz…
Die Oper Der Scharlatan gehört in die Reihe des THERESIENSTADT-OPERN-KOMPONISTEN-FESTIVAL, die von dem National Moravian-Silesian-Theatre Ostrava ins Leben gerufen wurde, um diesen ermordeten und teilweise vergessenen Komponisten die letzte gebührende Ehre zu erweisen. Parallel dazu haben auch die Prager Theater mit der Deutschen Botschaft die sehr erfolgreiche Serie MUSICA NON GRATA kreiert, indem auch die verfolgten und kaltblütigen ermordeten jüdischen Künstler geehrt werden.
Man vermutet, das weder der Zeitpunkt noch das Thema von Der Scharlatan ein Zufall waren, sondern dass sich hinter den komischen Elementen und dem volkstümlichen Kolorit tatsächlich eine Reihe grundlegender Fragen über die Natur der modernen Welt verbirgt. Der Scharlatan, wie ihn Haas darstellt, ist eine ambivalente Figur, teils Giacomo Casanova (1725-1798), teils „Lagerkommandant in Auschwitz“, ein nomadischer Arzt, der wohl die besten Kräuterheilmittel und „modernsten“ Operationsmethoden anwendet und zugleich auch ein Betrüger ist. Einerseits führt er seine Bande fröhlicher Männer an, andererseits hat er dunkle Auseinandersetzungen mit dem Priester Jochimus, die ihn schließlich in den Wahnsinn treiben. Tatsächlich ist einer der brillantesten Aspekte der Oper die streng distanzierte deklamatorische (sprich: „janáčksche“) Musiksprache des Werks. Erst ganz am Ende der Oper nimmt die Figur an den ihn umgebenden Liedern teil, die das Werk durchdringen. Tatsächlich gibt es Gründe anzunehmen, dass die Figur, wie sie Haas konzipiert hat, absichtlich einige der größten „Schauspieler“ einbezieht, die je auf der Weltbühne gestanden haben. In der Eröffnungsszene tritt Don Giovanni, K. 527 (1787) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) auf, der die schöne Amaranta, die Frau eines „Professors“, verführt und seine Frau Rozina spielt eine Rolle irgendwo zwischen Donna Anna und Donna Elvira. Später wird er zu einer Art Kaiser Napoleon Bonaparte I. (1769-1821), einem Diktator in Auseinandersetzungen mit seiner Truppe und erscheint dann als Faust (1808) von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in einer Auseinandersetzung mit dem Priester zu kanalisieren. Als Jochimus nach einer Operation stirbt, von der der Scharlatan glaubt, sie sei erfolgreich verlaufen: Pustrpalk verwandelt sich kurz in Hamlet (1603) von William Shakespeare (1564-1616). Zu Beginn der Schlussszene der Oper nennen ihn seine Männer auffällig Don Quichotte (1605) von Miguel de Cervantes (1547-1616), weil er wie benommen umherirrt. Doch am Ende der Szene nimmt die Figur eine weitere unerwartete Wendung an. Der Scharlatan entfernt sich aus jeder Art dramatischer Szenerie und das Stück verwandelt sich in eine Art Balladenoper, da sich Vers um Vers – insgesamt elf oder zwölf, je nachdem, wie man zählt – mit dem Scharlatan in seiner unverhohlensten Form befassen. Es ist amüsant, aber auch grausam und sadistisch und alle seine Männer singen abwechselnd mit ihm. Machen die Balladensänger Witze? Sind sie ernsthafte Praktiker, die einfach in der Kneipe Dampf ablassen oder sind sie wirklich eine Plage für die Erde? Hier ist ein Teil des letzten Testaments des Scharlatan in einer freien Übersetzung: „Ich bin Pustrpalk, ein Arzt bin ich, ich heile mit Methoden von oben. Ich lehre die Blinden wieder gehen, die Lahmen können sehen, egal wann! Ein Junge, den ich kannte , trank bis er roh war, ich schlug ihm hart aufs Kinn. Was glauben sie, was von diesem Tag an geschah? Er konnte nicht einmal Wasser trinken! Ein Graf stopfte sich voll“ Vielleicht ist es auch das geheimnisvolles Testament des Komponisten Pavel Haas…?
Haas, dessen einzige Oper Der Scharlatan am 8. November 2024 im historischen Mahen-Theater Brno in einer Neuinszenierung des tschechischen Regisseurs Ondřej Havelka aufgeführt wurde, war einer von fünf begabten tschechischen Komponisten jüdischer Herkunft, die im Zweiten Weltkrieg umkamen. Der Tod von Haas, Gideon Klein (1919-1945), Krása, Erwin Schulhoff (1894-1942) und Ullmann durch das Nazi-Regime stellt einen grossen Verlust für die tschechische Musik dar – alle waren in der Blüte ihres Lebens. Moderne Inszenierungen von Opern von Krása und besondere von Ullmann wurden in vielen Ländern aufgeführt. Die Produktion von Hawelkas Šarlatán (Der Scharlatan) in Brno ist jedoch nach der Premiere am National Moravian-Silesian-Theatre Ostrava am 10. Oktober im Rahmen des 9. Internationalen Janáček-Festivals 2024 erst die zweite moderne Inszenierung seit der Premiere am selben Theater im Jahr 1938. Es ist auch erst die zweite tschechische Produktion in den fast 90 Jahren des Bestehens dieser tragikomischen Oper.
In einem Interview mit Moravské Slovo (Radio) im Jahr 1938 sagte Haas, das die Musik: „trotz aller modernen Ausdrucksmittel einen volkstümlichen Charakter hat. Ich habe auch versucht, den zeitgenössischen Charakter der Geschichte auszudrücken. Die raschen Veränderungen der Szenen, die kontrastierenden Farben der Szenen und die ständige Bewegung haben sicherlich den Gesamtstil der Musik beeinflusst.“
Bis zur Produktion der Wexford Opera im Jahr 1998 war die Oper 60 Jahre lang nicht mehr auf der Bühne zu sehen, obwohl im Juni 1997 in Prag eine konzertante Aufführung stattfand. Diese wurde von der Schallplattenfirma Decca aufgezeichnet und als Teil der Reihe Entartete Musik aufgezeichnet und editiert.
Haas schrieb das Libretto selbst, nachdem er eine populäre gekürzte Ausgabe der fiktiven Chronik Doktor Eisenbarth des deutschen Schriftstellers Winckler entdeckt hatte. Die Geschichte spielt während des Dreissigjährigen Krieges und beschreibt das Leben des fahrenden Quacksalbers und seines Gefolges von Schurken. Haas musste das Libretto ohne die Erlaubnis des Autors verfassen – kein Autor konnte es sich damals leisten mit einem Komponisten jüdischer Herkunft zusammenzuarbeiten. Um seine Quelle weiter zu verschleiern, änderte Haas den Namen Eisenbarth in Pustrpalk, dem Zweiten Diener aus dem Spiel Mastičkář, der ältesten tschechischen satirischen Farce des Mittelalters, die im 14. Jahrhundert in Versform verfasst wurde. Das Libretto wurde schon bei der Uraufführung 1938 als leicht problematisch angesehen und man fand allgemein den zweiten Teil der Oper viel stimmiger.
Die Musik von Der Scharlatan ist gewissermaßen von Bohuslav Martinů (1890-1959), Igor Fjodorovitch Strawinsky (1882-1971), Arthur Honegger (1892-1955) und nicht überraschend, auch von Haas‘ strengem Lehrer Janáček beeinflusst. Auch Anklänge an Jazz oder genauer gesagt, synkopierte Tanzmusik der 1920er und 1930er Jahre waren zu hören. Tatsächlich erinnert auch einige Hollywood-Filmmusik die 1950er Jahre, ja sogar Musik aus Walt Disney (1901-1966)-Filmen, vage an Teile von Haas‘ Partitur. Es gibt jedoch auch viele ergreifende lyrische Passagen in der Oper.
Die große Orchester-Besetzung umfasst Bassklarinette, Kontrafagott, vier Hörner, drei Trompeten, nicht weniger als fünf Posaunen sowie Tuba plus Harfe, Xylophon, Pauke und Schlagzeug und die verschiedenen Kombinationen erzeugen faszinierende Klangwelten.
Der Scharlatan ist eine Ensemble-Oper ohne große Arien für Solisten oder Duette und auch keine außergewöhnlichen Stimmen sind daher unbedingt erforderlich, obwohl die Partitur anspruchsvoll ist. Das NDM hat jedoch mehrere gute Solisten und von diesen gefielen uns besonders der slowakische Bass-Bariton Pavol Kubáň in der Rolle des Pustrpalk, die tschechische Sopranistin Soňa Godarská als Amaranta und tschechische Bass Martin Gurbal‘ als Jochimus. Alle Darsteller der so humorvoll betitelten Charaktere, zum Beispiel die Sauermilch und Spinnweben bis hin zu Feuerschlucker und Schlangenbeschwörer verdienen ebenfalls eine besondere Erwähnung.
Das Orchester und der Chor des National Moravian-Silesian Theatre unter dem tschechischen Dirigenten Jakob Klecker schlugen sich gut durch die musikalischen Massen. Der Chor wurde auch in vielen Massenszenen von Havelka, der in der Tschechischen Republik sehr bekannt ist, sehr gut eingesetzt. Die Elemente der Commedia dell’arte wurden geschickt eingesetzt und es gab auch beeindruckende Akrobatikeinlagen von vier jungen Mitgliedern des Ostrava-Balletts. Andere wichtige Aspekte von Havelkas Inszenierung – die räumliche Anordnung, das Schattenspiel in einer stoffbespannten Mittelloge und die gelegentlichen gefilmten Szenen im Hintergrund, ob Farbe oder Schwarzweiß, halfen alle die Geschichte zu beleuchten. In dem ansonsten passenden Bühnenbild von dem tschechischen Bühnenbildner Jakub Kopecký verstanden wir jedoch nicht den Zweck des grünen Stoffvorhangs um alle drei Seiten der Bühne. Warum?
So sehr uns einige Kostüme der tschechischen Kostümbildnerin Kateřina Štefková auch gefielen, gab es doch einige Unterschiede zwischen den Stilen. Die Kostüme einiger männlicher Charaktere basierten offensichtlich auf der beliebten Kleidungsform des 17. Jahrhunderts und kontrastierten mit anderen, die eindeutig aus einer späteren Zeit zu stammen schienen( zum Beispiel Amarantas riesiger weißer Reifrock, obwohl er im Libretto ausdrücklich erwähnt wurde). Es war nicht leicht zu erkennen, ob die Oper teilweise in eine andere spätere Epoche übertragen wurde oder nicht.
Die Aufnahme dieser Operncollage in sieben Bildern in das Programm des diesjährigen Internationalen Janáček-Festivals war ein wichtiger dramaturgischer Schritt. Trotz einiger kleinerer Probleme im Libretto zeigt die Qualität von Haas‘ Werk, wie viel mehr er zur Schatzkammer der tschechischen Musik hätte beitragen können, wenn er hätte leben und weiter schaffen können. (PMP/19.11.2024)
MAHEN Theater, Brno: Auskünfte und Karten: www.janacek-brno.cz und www.ndm.cz