Bremerhaven, Stadttheater, MY FAIR LADY - G.B. Shaw, IOCO
Wer im Theater Bremerhaven mit My fair Lady von George Bernard Shaw eines der unverwüstlichsten Musicals der 50er Jahre sehen möchte, darf sich auf schwungvolles Treiben auf der Bühne, teils blendende Sänger, ein phantastisches multifunktionales Bühnenbild ....
„Wäre det nich wunnerschön“ - Gedanken zur Produktion „My fair Lady“ am Stadttheater Bremerhaven – Wir besuchten die Silvestervorstellung am 31.12.2024
von Thomas Honickel
Avant-Propos: So viel darf verraten werden:
Wer im Theater Bremerhaven mit My fair Lady von George Bernard Shaw eines der unverwüstlichsten Musicals der 50er Jahre sehen möchte, darf sich auf schwungvolles Treiben auf der Bühne, teils blendende Sänger, ein phantastisches multifunktionales Bühnenbild und ein prächtig aufspielendes Orchester freuen. Eine opulente Besetzung aus allen künstlerischen Belegschaften bevölkert die Bühne, um den Zauber von Elizas Verwandlung recht in Szene zu setzen.
Ein Mythos mit zahlreichen Kunstprodukten in 2000 Jahren
Bereits im 3. Jhd. v. Chr. gab es den Mythos des Künstlers Pygmalion, Sohn des Königs von Tyros (derzeit umkämpfte Hafenstadt im Libanon) und Bruder von Dido, späterer Königin von Karthago (siehe Dido and Aeneas von Henry Purcell), der in Darstellungen der Zeit gemeinsam mit der von ihm erstellten weiblichen Statue zu sehen war. Nachchristliche Autoren aus Griechenland und Ägypten zitierten diesen Mythos gerne und umfänglich. Die genaueste Darstellung stammt indes von Ovid, der um die Jahrtausendwende vom Künstler berichtet, der sich in seine elfenbeinerne Marmorstatue verliebt. Im Kontext der Aphroditekulte der Zeit soll es sogar zur körperlichen Vereinigung mit der Statue gekommen sein, was die nachchristlichen Autoren als Indiz für die Verderbtheit der heidnischen Götterkulte trefflich ausschlachteten.
Ovids ausführliche Schilderung stammt aus seinen berühmten Metamorphosen (1 – 8 n.Chr.), deren Texte und Aphorismen ja Grundlage vieler Komponisten waren (Dittersdorf, Britten, Vaughan Williams). Im Kontext der Verwandlungssagen des klagenden Orpheus, der wegen des Verlusts seiner Eurydice der heterosexuellen Liebe abgeschworen hat, berichtet er von Pygmalion. Dieser erschafft eine Statue, welche die ideale Frau abbilden soll, behandelt diese als Menschen und verliebt sich in sie. Aus der Verbindung geht tatsächlich eine Tochter, Paphos, hervor. Bei Ovid geht es in seinen eigenen Amores sogar um eine Fiktion einer Geliebten, Corinna, die es nie gab, und mit der er dennoch alle Höhen und Tiefen vorgibt erlebt zu haben. Das Erzeugnis einer fiktiven Frau selbst, also der künstlerische Akt der Kreation, dient dabei selbst der (Selbst)Liebe, eine Art künstlerischem Narzissmus, den man bis heute auch im Kunstbegriff wahrnehmen kann. In der Psychologie wird er womanufacture genannt.
Das Mittelalter greift den Mythos als moralisierende Geschichte auf. Im Zeitalter der Klassik und des Sturm und Drang erhält die Statue bei Rousseau gar einen Namen: Galathée. So wird die nun benennbare Statue Grundlage vieler weiterer künstlerischer Folgeprodukte in Dichtung, Novelle, Schauspiel und Oper(ette): Joseph Eichendorffs Marmorbild, Gottfried Kellers Regine, Wolfgang Goethes Pygmalion, Gilbert und Sullivans Pygmalion und Galatea und sogar in E. T. A. Hoffmanns Sandmann. Werke des Musiktheaters vom Singspiel über die große Oper bis zum Musical und der Students-Opera gibt es in Hülle und Fülle: Rameaus Barockoper „Pigmalion“, Joh. Chr. Friedrich Bachs Kantate „Pygmalion“, Franz von Suppés „Die Schöne Galathée“, Donizettis „Il Pigmalione“ und „One touch of Venus“ von Kurt Weill.
Das Phänomen der zum Leben erweckten Statue trifft man so oder ähnlich auch bei Carlo Collodis Pinocchio und ähnlichen Märchenerzählungen.
Shaw und seine Folgen
George Bernhard Shaw (1856-1950) nutzte den Stoff indes völlig neu und anders als Posse, um die Londoner Gesellschaft (also vor allem die vermeintlich höhere) zu karikieren. Das Werk des Pygmalion (hier Prof. Higgins) ist ein unscheinbares, ungebildetes aber herzensgutes Blumenmädchen (Eliza), das in die Fänge des selbstverliebten und einigermaßen blasierten (um nicht mit britischem Vokabular zu sagen: snobistischen) Linguisten gerät, der sie nach seinem Willen so umformen möchte, dass sie passend wird für Ascot und Buckingham. Zugrunde liegt wie so häufig in der Literatur dieser Zeit dem Ganzen eine Wette (mit Oberst Pickering) um den erfolgreichen Ausgang des Unternehmens. (Derlei findet sich etwa bei Jules Verne In 80 Tagen um die Welt und H.G.Wells Zeitmaschine).
Das äußerst kritische Spiegelbild, das Shaw der britischen Empire-Gesellschaft vorhält, ist keineswegs überholt, sondern vielleicht gerade in unseren Zeiten von Internet, social media, aufkeimendem Neo-Narzissmus und Selbstüberhebungen von Politikern, Bossen, Stars und Funktionsträgern in Sport, Kultur und Szene hochaktuell.
Zu Lebzeiten war Pygmalion für Shaw eine der sichersten Einnahmequellen durch Tantiemen. Am Vorabend des 1. Weltkrieges am 16. Oktober 1913 im Wiener Burgtheater (sic!) uraufgeführt, erlebte dieses Werk das Licht der Welt weit ab von den britischen Inseln. Und dennoch wurde es, vor allem durch den Gebrauch von Schimpfworten, die dort exzessiv eingesetzt worden waren, zum handfesten Skandal; was dem Erfolg des Werkes jedoch keinen Abbruch tat. Es wurde landauf, landab gespielt, sehr schnell mit dem Berliner Dialekt (auch eine Wiener Fassung ist noch in Diensten).
Schon in frühen Tonfilmzeiten wurde es mit Gustaf Gründgens verfilmt (1935) und gelangte gar über den großen Teich nach Hollywood, wo eine amerikanische Version 1938 auf die Leinwand kam. Für diesen Film schuf Shaw gemeinsam mit Co-Autor Cecil Lewis das adaptierte Drehbuch und erhielt dafür einen Oscar. Bereits 1925 hatte er den Literaturnobelpreis erhalten. Bis zum Jahr 2016 war er der einzige Schriftsteller, der diese beiden Auszeichnungen auf sich vereinigen konnte. Vor acht Jahren dann war es Bob Dylan, dem das gleiche Kunststück gelang.
Allen Meriten Shaws um eine lebendige, zeitgenössische Sprache und eine nötige Kritik an gesellschaftlichen Zuständen zum Trotz darf hier jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Shaw in den 30er Jahren ein Verfechter autoritärer Staatsstrukturen wurde, der als großer Demokratieskeptiker Führer“persönlichkeiten“ wie Stalin und Mussolini verehrte. Als Kind seiner Zeit, hin und her geworfen von den Fragen nach der Zukunft Europas und der Welt bei schwindender Bedeutung des Empire konnte er ebenso den autoritären Stil mancher Despoten verstehen wie gleichermaßen den Antisemitismus anklagen und als Pazifist auftreten. Symptom solcher Merkwürdigkeiten in seiner Person war sein Verfechten der Eugenik, die man als Vorläufer der Rassenideologie der Nazis verstehen darf, vermeintlich unnützes Leben auszumerzen bzw. durch Selektion nicht zuzulassen.
Manches vom Ungeist solcher Haltung und gleichzeitiger Selbstüberhebung kommt auch in völlig entgleisenden Äußerungen des Prof. Higgins zum Ausdruck, die auch heute noch Stirnrunzeln, Gelächter oder höchst ungläubiges Staunen bewirken. Einige dieser Äußerungen liegen auch heute noch zur Zeichnung des verschrobenen Charakters von Higgins den Musicaldialogen zugrunde.
Eine Auswahl:
Pickering: „Ist es Ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass das Mädchen Gefühle hat?“
Higgins: „Oh nein, ich glaube nicht. Nicht irgendwelche Gefühle, um die wir uns kümmern müssten.“
Higgins: „Solche Menschen haben kein Recht zu leben!“
Higgins: „Das Mädchen gehört mir!“
Higgins: „Was das Mädchen braucht, ist Drill.“
Higgins: „Herzlose Rotznase!“
Higgins: „Sie gehört mir! Ich habe 5 Pfund für sie bezahlt…“
Higgins: „Du bist ein…schwesterliches Schlachtschiff!“
Alfred Doolittle: „Ich kann mir keine Moral leisten!“
Lerner, Loewe und die Folgen
Lebenslang hatte sich Shaw gegen eine Adaption seines Werkes durch die Komposition gewehrt. Nach seinem Tod 1950 waren die Texte freigegeben und wurden alsobald von Alan J. Lerner zu einem Libretto arrangiert, das dann von Frederick Loewe mit insgesamt 17 Musiknummern und einer Ouverture vertont wurde. Dabei stand die Sangbarkeit, die Eingängigkeit, das leicht Operettenhafte und eine vielseitige Komposition mit Anleihen bei den damals gängigen Stilistiken im Mittelpunkt: Jazz, Foxtrott, Ragtime, Spanisches Kolorit u.v.m.
Es bleibt bis heute ein Rätsel, warum dieser preisgekrönte Stoff eines bedeutenden Literaten arrivierte Komponisten wie Richard Rodgers, Oscar Hammerstein, Leonard Bernstein und Gian Carlo Menotti nicht anzog. Sie alle lehnten ab. Loewe nahm an und schuf damit eines der bis heute populärsten Werke des Genres mit Evergreens, die viele mitsingen können und Texten, die sich einbrannten („Nu ma´ los, Dover, sons schtreu `ck da Pfeffer in´n Arsch!“).
Ein wenig dem Musical-Genre geschuldet ist der Umstand, dass (im Gegenzug zum Shaw-Schauspiel), Eliza und Higgins sich ineinander verlieben, wobei einem Happyend der offene Schluss entgegensteht. Bei Shaw blieb Eliza stets das Experiment, an dessen erfolgreichem Ausgang sich der Sprachwissenschaftler selbstgefällig weidete. Die Liebesaspekte in My fair Lady, sowohl zwischen Eliza und Higgins, wie auch von ihr zu Freddy, der – das bleibt offen – möglicherweise ihr Liebespartner wird, sind somit deutlich näher am Pygmalion-Mythos der Antike, wie er oben beschrieben wurde.
Was wir im Stadttheater Bremerhaven sahen:
Inszenierung, Bühne, Kostüme, Gewerke
Die Bremerhavener Inszenierung (Toni Burkhardt) holt dankenswerterweise für dieses Musical-Juwel das ganz große „Besteck“ aus den diversen Theaterschubladen: großes Solistenensemble (durchsetzt mit Mitgliedern aus Schauspiel, Oper und Gästen), dazu Opernchor und Ballettensemble. Die keineswegs kleine Bühne in der Hafenstadt wird so üppig gefüllt, ohne aber „overcrowded“ zu wirken. Die Massenszenen vor St. Paul´s, in Ascot und auf dem Ball in Buckingham sind perfekt arrangiert und choreographiert (Kati Heidebrecht).
Die gesamten drei (!) Stunden kommen außerordentlich kurzweilig daher und bestechen durch fließende Abläufe, schnelle Tempowechsel, unauffällige, fast geisterhafte Umbauten und eine sehr einnehmende Lichtregie. Man nimmt das Opus ernst!
Ein echter Hingucker ist der überdimensionierte Schalltrichter eines Grammophons (Higgins` Faible für Phonographen zu Studienzwecken lässt grüßen), welches auf einer Drehbühne so montiert ist, dass es je nach Drehwinkel als Wohnung des Professors, als Gangway im Palast oder für diverse Straßenkulissen (inklusive herausziehbarer Einzelelemente) fungieren kann. Dazu gibt es an den Seiten und im Off zahlreiche bis an die Galerie reichende Bühnenwände, die von innen zu projizieren sind. So wird aus der Bühne ohne großen technischen Aufwand eine Londoner Straße vor Big Ben, das Ufer der Themse-Clochards, ein Ballsaal oder eine abendliche Szenerie à la Montmartre. Super!
Toni Burghardt führt seine Akteure geschickt und mit sicherer Hand für geschickte Pointen, wobei ihm Technik und Beleuchtung zur Hand gehen. Die Treffsicherheit der Bonmots, der Übertreibungen, der gegenseitigen Frechheiten und Beleidigungen, die individuelle Befindlichkeit bis in Nebenrollen hinein (Mrs. Higgins, Mrs. Pierce, Doolittle sen.) sind klar und überzeugend gezeichnet. Die Fähigkeit zur Ironie ist jedoch nicht jedem gleichermaßen gegeben. Und in die schönsten Schlussmomente einiger Szenen (u.a. das Ascot-Finale mit dem sattsam bekannten Gossen-Zitat sowie beim berühmten „Bravo, Eliza!“ der alten Mrs. Higgins) fällt entweder das Auditorium mit verfrühtem Lachen und Klatschen (s.u.) oder der Dirigent mit verfrühtem Einsatz. Aber das sind Petitessen!
Die Inszenierung weiß gekonnt, auch sinnstiftende Momente des Innehaltens und des Ritardierens herzustellen. Das gilt vor allem auch für die Szenen von und mit Freddy und für die Szenen der Läuterung von Higgins am Ende.
Aber natürlich ist My fair Lady in allererster Linie das gekonnte Abspulen der Hits und einer üppigen, variantenreichen Umsetzung der zahlreichen Wiederholungen, Couplets und der strophenreichen Songs. Und da punktet die Inszenierung enorm, zumal an Silvester!
Die Bühne von Wolfgang kurima Rauschning gefällt sich neben dem bereits oben erwähnten Grammophon, das multifunktional eingesetzt wird, in den drei digitalen Druckfarben Gelb, Cyan und Magenta, womit ein wenig vielleicht das Künstliche an der Geschichte, wie es manchem erscheinen mag, herausgestrichen wird. Menschen aus den Generationen ab 1990, die allerdings kaum im Saal vertreten waren, mögen die Story als aus der Zeit gefallen bezeichnen. Da sind die Popart-Elemente ein verbindendes Element in die Jetztzeit.
Dieses Farbkonzept spiegelt sich auch in den Kostümen von Susana Mendoza wider: Farbenfrohes in knalligen Tönen fürs Ballett, in Pastelltönen für die (farblose) Upperclass, Grau für die Tristesse des Prekariats, ein (kleinkarierter!) brauner Anzug für Higgins, eine Admiralsuniform oder ein eleganter Schlafrock mit rotem Innenfutter für den Stierkampf bei Pickering und natürlich leuchtendes Gelb für Eliza. Dieses Gelb wandelt sich während der gesamten Show vom blassen Blumenmädchenoutfit über elegantere Robe beim Professor bis zum hinreißenden Ballkleid. Eliza, oder besser die Protagonistin Victoria Kunze, kann´s tragen.
So sind die Charaktere blendend gezeichnet, ausgestattet und geführt. Fast ist es nicht nötig, diese mit Projektion (wie in einem Filmbeginn) an der hinteren Bühnenwand zu Beginn erscheinen zu lassen. Der Coup funktioniert aber auf anderer Ebene um so günstiger: Durch diese Auftritte mit Rollenzuschreibung wird das latent Cineastische unterstrichen. Vielleicht hofft auch die eine oder der andere im Publikum darauf, dass nun Audrey Hepburn oder Rex Harrison die Bremerhavener Stiege nach unten schreiten? Die braucht es indes nicht!
Was wir im Stadttheater Bremerhaven hörten
Sängerensemble, Ballett, Chor, Orchester
Mit Victoria Kunze hat Bremerhaven eine Eliza im Sängerensemble, die einen Vergleich mit der Filmdiva nicht zu scheuen braucht, diesen allerdings auch nie zu suchen scheint. Sie tobt, sie gurrt, sie plärrt und tirilliert, sie tanzt und trauert, sie schmachtet und scheucht dabei ihre Stimme zum b2 („Ich hätt´ getanzt heut Nacht“). Ihre Bühnenerscheinung kann sie raumfüllend in Szene setzen. Ihre sprachliche Variabilität ist stupende: Vom gossenhaften Berlinern (Ist sie etwa ein Hauptstadt-Native Speaker?) über das mühsam stotternde Lernen inklusive Verzweifeln und den situationskomischen Smalltalk auf Ascot mit lasziv gehauchten „H“s bis zum ladyhaften, fast vampgleichen Auftritt im Palast mit einem RP (Received Pronounciation), „das nur aus dem Ausland kommen kann.“
Ihre warme, zarte Stimme (verstärkt durch Ports) ist mal soubrettenhaft als Operettendiva, mal vibratolos, als sänge sie Händel, pointiert und höhensicher, dann wieder rotzfrech („abgemurkst“) als eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und dem Sams. Hinreißend die Sprachübungen mit Kieselsteinen, beseelt romantisch das Duett mit Freddy. Die Entwicklung vom abhängigen Blumenmädchen zur emanzipierten Dame mit einem Schuss Lady nimmt man ihr ab. Ein wenig „Pretty woman 2.0“. Bravissimo!
Ihr zur Seite gleich vier Männer, die in Aussehen, gesellschaftlicher Stellung, Alter und sängerischer Zeichnung nicht verschiedener sein könnten.
Higgins´ stocksteife Attitüde ist greifbar und kann zunächst überzeugen. Mit der Zeit jedoch wird die Figur immer farbloser und eher zu einer Staffage, die den Text (der allerdings auch epische Längen hat) nur runterbetet. Gegen Ende nimmt er mit seiner Figur wieder etwas mehr Fahrt auf. Dann blitzt kurz der schräge Charme eines Stromberg auf. Bisweilen ist man auch geneigt, ihn (etwa beim Besuch im Hause seiner Mutter) in Loriots Ödipussy zu verorten.
Sängerisch ist Dirk Böhling der Partie nur bedingt gewachsen. Allzu oft spricht er nur, da ihm die baritonale Tiefe der Partie fehlt. Im Gegensatz zu den Ports der Kollegen schwankte die Dynamik seines Headsets bisweilen enorm. Im Spiel war er zwar anwesend aber selten mit den nötigen Tempoanpassungen, Pausen oder Verschärfungen, die bei diesen langen Dialogen oft hilfreich sind, um die Spannung zu halten. Immerhin ist sein Xylophonsolo hervorzuheben.
An seiner Seite der Oberst Pickering (Kay Krause), der im ersten Teil weitgehend zum Stichwortgeber verdammt war, spätestens in der spanischen „Es grünt so grün“-Szene jedoch zu Hochform aufläuft. Man ist dankbar, dass Eliza in diesem Grandseigneur einen Fürsprecher, einen zugewandten Menschen der High Society hat, der ihr ein ums andere Mal zur Seite steht. Er wirkt aber nicht nur als Korrektiv gegen den verstockten und bornierten Higgins, kann vielmehr selbst durch ein humoristisches Talent punkten: Alkoholisiert, stierkämpferisch, jovial und hingebungsvoll füllt er seine Rolle. In nicht wenigen Stellen im zweiten Teil des Abends glaubt man in Diktion und Bewegung den großen Harald Juhnke zu erleben.
Einzig eine Figur sticht farblich markant aus der gesamten Hochkultur-Mischpoke hervor: Der blaugewandete Freddy (Andrew Irwin) hat seine großen sängerischen Momente erst im zweiten Teil. Da aber besticht er mit lupenreinem Gesang ohne all zu üppiges Vibrato, eine angenehm leichte Stimme mit warmer Mittellage und klarer, unforcierter Höhe, von der man gerne einmal einen Mozart, Donizetti oder Puccini hören würde.
Er spielt den um die Gunst von Eliza buhlenden Freddy mit Warmherzigkeit und einer Attitüde, die glaubhaft macht, dass er den Menschen mit seinen Gefühlen bei Eliza sucht, um ihr seine echte Liebe zu schenken. Sein „In der Straße wohnst du“ ist von dieser beschriebenen Leichtigkeit und Klarheit. Sein Spiel mit der Londoner Straßenlaterne erinnert von Ferne an das Pendant von Gene Kelly in „Singing in the rain“ (1952).
Unter den vielen weiteren Nebenfiguren ist vor allem der satte Bass von Elizas Vater Alfred (Ulrich Burdack) zu nennen, der den Alkoholiker und Schnorrer, den Diogenes der Themse oder den Bräutigam in spe mit Verve hinlegt. Beim „Bringt mich pünktlich zum Altar“ läuft er zu Hochform auf, unterstützt durch zahlreiche Mimen aus Chor, Ballett und Statisterie. Er ist ein Spielbass, der in einem Lortzing, Nicolai, Weber, Flotow oder in Strauß-Operetten gewiss optimal besetzt wäre.
Viele weitere Schauspieler bevölkern die Bühne zum Wohle der Inszenierung; unter ihnen sind Mrs. Pearce (Iris Wemme-Baranowski) und Mrs. Higgins (Isabel Zeumer) die beiden gestaltenden Perlen mit Wirkkraft und resolutem Wesen, die der teils despotisch patriarchalen Gesellschaft vor allem mit saftigen Repliken zu Leibe rücken.
Der leistungsstarke, stimmgewaltige und spielfreudige Opernchor (Einstudierung: Edward Mauritius Münch) trägt zum positiven Gesamteindruck ebenso bei wie eine athletische und sprungstarke junge Ballettcompagnie, die durch ihre Choreographin Kati Heidebrecht echten Schwung ins Geschehen bringt.
Eine für das Werk bezwingend üppige Orchesterformation des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven kann bereits in der Ouverture mitreißend und schwungvoll einen Silvesterabend mit hohem musikantischem Niveau präsentieren. Unter der Leitung von Tonio Shiga setzen die Musikerinnen und Musiker gekonnt Akzente, schaffen das passende Kolorit für die so facettenreichen Songs und bringen in allen Registern Hollywoodatmosphäre.
Teilweise indes zu üppig. Trotz Mikroports sind manche Songs dynamisch überzogen, sodass Texte nicht mehr nachvollziehbar sind. Insbesondere im Schlagwerk (Xylophon) und im Blech (Tuba) reißt es die Orchestermusik zum Teil über längere Passagen so mit, dass man die Kollegen im gut besetzten Streicherapparat kaum hören kann, von der Harfenistin ganz zu schweigen. Nach einer Sichtung des Grabens stellt man sich die Frage, warum dieser nicht 50 cm tiefer gefahren werden konnte oder die so massierend agierenden Instrumente mehr in den Hintergrund gerückt würden. Da gehen leider manche Feinheiten verloren, von berückenden Soli der Holzbläser bis zum Steppen der Ballettformation. Hier kann man unbedingt nachjustieren.
In weiten Teilen der Partitur jedoch sonnt sich die Loewesche Partitur im interpretatorischen Glück!
Ein Wort zum Auditorium
Mit Erstaunen durfte man zur Kenntnis nehmen, dass das Bremerhavener Publikum text- und melodiesicher ist; und es kann auch einen 4/4-Takt sauber mitklatschen! Da wird munter und lautstark mitsouffliert, was man aus dem Werk kennt und (im Voraus) der Nachbarin mitzuteilen hat. Alles, was irgendwie mitklatschbar ist, wird durch eifrige, lautstarke Hände flankiert. Das führt dazu, dass Teile der Songs in einer selbstversunkenen Bierzelt- oder Karnevalsstimmung untergehen, Liedanteile nur noch als Torso wahrgenommen werden können und das Wort „Nuance“ zum Fremdwort mutiert. War es dem Silvesterabend geschuldet oder ist solch Tun Usus am Bremerhavener Haus? Die Frage bleibt für den Angereisten offen.
Es gibt auch so etwas wie eine Etikette für Kulturtempel, die den Agierenden auf der Bühne die nötige Wertschätzung entgegenbringt. Vielleicht benötigen Teile des Auditoriums so einen Knigge? In Bremerhaven jedenfalls kamen nicht wenige Besucher während der Ouverture, einige sogar nach weit mehr als 30 Minuten zu spät in den Saal; beharrten aber auf ihrem gebuchten Sitzplatz, was allerhand völlig überflüssige Bewegung in den Sitzreihen zur Folge hatte. Loriot at its best!
Ein finales Wort gilt dem Programmzettel, wo es u.a. einen lesenswerten Beitrag zu den diversen Dialekten auf der Insel gibt.
Fazit
Gefühle statt Grammatik!
Grazie gegen Gewalt!
Geglückt gegen Geschafft!
Eine äußerst schwungvolle und kurzweilige Inszenierung, ein peppiges und intelligentes Bühnenbild, ein Augenschmaus an Kostümen, ein in vielen Bereichen mitreißendes Sängerensemble und ein schmissig aufspielendes Orchester. Ein Plädoyer für eines der wertvollsten und ältesten Werke des Genres, das mit solch einer Deutung auch im 21. Jahrhundert seinen Überlebenswillen unterstrichen hat. Auf nach Bremerhaven!