Bordeaux, Opéra National de Bordeaux, DIALOGUES DES CARMÉLITES - Francis Poulenc, IOCO Kritik, 07.06.2023

Bordeaux, Opéra National de Bordeaux, DIALOGUES DES CARMÉLITES - Francis Poulenc, IOCO Kritik, 07.06.2023
Opéra National des Bordeaux © Wikimedia Commons
Opéra National des Bordeaux © Wikimedia Commons

DIALOGUES DES CARMÉLITES (1957) - Francis Poulenc

Libretto nach dem Drama von Georges Bernanos, inspiriert nach einer Nouvelle von Gertrud von Le Fort, bearbeitet von Raymond L. Bruckberger und Philippe Agostini

von Peter Michael Peters

  • DER TRIUMPH DES MENSCHLICHES GEISTES…
  • BLANCHE:
  • Vous me croyez retenue
  • Ici par la peur!
  • LE CHEVALIER:
  • Ou la peur de la peur.
  • Cette peur n’est pas plus honorable,
  • Après tout, qu’une autre peur.
  • Il faut savoir risquer la peur comme
  • On risque la mort, le vrai courage
  • Est dans ce risque.  (Auszug : 2. Akt / 3. Bild)

Die Begegnung eines Textes mit der Musik…

Die Geschichte von dem Dialogues des Carmélites von Georges Bernanos (1888-1948) ist wohl einzigartig. Es scheint, dass die Geschichte dazu prädestiniert war, die Karmeliter von Compiègne zu verherrlichen, trotz der vielen Avatare, denen dieser Text unterwegs begegnet war.

Als Ausgangspunkt für Bernanos diente eine Novelle der deutschen Schriftstellerin Gertrude von Le Fort (1876-1971). In dieser Geschichte Die Letzte am Schafott (1931) ist die Figur der Blanche de la Force völlig erfunden: Ebenso wie das Drama der Angst, das sie verkörpert! 1947 erstellten Raymond Léopold Bruckberger (1907-1998) und Philippe Agostini (1910-2001) ein Drehbuch nach der Nouvelle von Le Fort und fügten die Figur des Chevaliers hinzu. Nach ihrer Fertigstellung galten die Dialoge als nicht sehr filmisch und blieben in den Kisten von Bernanos… Nach seinem Tod veröffentlichte Albert Béguin (1901-1957), testamentarischer und geistlicher Vollstrecker des großen Schriftstellers, diese Dialoge und brachte sie dann mit Hilfe von Marcelle Tassencourt (1914-2001) auf die Bühne des Théâtre Hébertot Paris. Hier beginnt das außergewöhnliche Schicksal dieser Dialogues des Carmélites, die ursprünglich für die Leinwand geschrieben wurden, die die Leinwand ablehnte und die ihr Publikum – ein religiöses, begeistertes, enthusiastisches und dazu auch noch internationales Publikum –  das durch das Theaterstück eben alles das fanden, für das die Dialogues des Carmélites nicht gedacht waren. Diese Film-Dialoge haben mehr zum Ruhm von Bernanos beigetragen als alle seine anderen fiktiven Werke. Es liegt daran, dass sie für die breite Öffentlichkeit viel zugänglicher waren. Auf Grund ihres primären Verwendungszwecks nehmen sie im Schaffen des Autors einen völlig gesonderten Platz ein. Nicht nach spirituellem Inhalt, sondern nach Form. Auch wenn es ursprünglich eine Geschichte von Le Fort war, ist  nichts mehr im Sinne von Bernanos als das Thema der Angst und noch mehr das – zentrale und wesentliche – der Gemeinschaft  der Heiligen, übersetzt mit diesen Worten „Wir sterben nicht jeder für sich selbst, sondern füreinander oder sogar füreinander statt einander.“

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Diese erhaben einfachen Worte geben den genauen Ton für den Geist der Dialogues des Carmélites und den Stil an, in dem sie geschrieben sind. Stil – es sollte betont werden – ungewöhnlich für Bernanos. In seinen Romanen und Broschüren verwendet er gerne eine farbenfrohe, beredte, oratorische und lyrische Sprache. Immer getragen von einem Atemzug von großartiger Erhabenheit, manchmal weiß er nicht, wie er Verwirrung oder Rhetorik vermeiden kann. In den Dialogues des Carmélites nichts dergleichen! Der klare und präzise Satz von scharfer Festigkeit verdankt seine Schönheit der einzigen Tugend der nacktesten Entblößung des Wortes und des Satzes.

Auf den ersten Blick mag das Projekt, Bernanos‘ Text zu vertonen, wie ein unmögliches Unterfangen, wenn nicht chimärisch, so doch zumindest sehr gewagt und äußerst riskant sein.

Vor allem die menschliche Stimme…

Erstens wegen der großen Persönlichkeit von Bernanos – und wir wissen auch, dass die besten Opernlibrettos in der Vergangenheit mittelmäßigen Autoren zu verdanken waren. Warum also werden wir sagen, ist es nötig dieser Prosa, die keiner Begleitung bedarf: Musik hinzuzufügen? Und wie könnte ein so strenges Thema wie die der Gnadenübertragung, der Gemeinschaft der Heiligen als Vorwand für eine Oper dienen? Wie kann man sich eine Oper vorstellen, deren Handlung keinen Raum für menschliche Leidenschaften lässt, in deren Mittelpunkt nicht eine Liebeshandlung steht? Aber ein Musiker von der Rasse wie Francis Poulenc (1899-1963), der den Sinn für Theater und auch  religiösen Geist mitbringt, muss in den Dialogen nicht nur ein gutes Libretto gesehen haben – mehr oder weniger zufriedenstellend wie in den meisten Fällen – aber jedoch ein unerwartetes Libretto: Von außergewöhnlicher einmaliger literarischer Qualität, großer dramatischer Dichtheit und viel   nachgewiesener religiöser Wirksamkeit. Ein Text, der sich zwar der Musik widersetzt, der Musik aber auch durch seine präzise Nacktheit ermöglicht, sie zu verlängern, sie in den Bereich der Klänge zu übersetzen, sie mit neuen Resonanzen zu bereichern, ohne sie zu schwächen oder zu verraten.

Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Thomas Bettinger (le Chevalier de la Force), Frédéric Caton (le Marquis de la Force) © Eric Bouloumie
Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Thomas Bettinger (le Chevalier de la Force), Frédéric Caton (le Marquis de la Force) © Eric Bouloumie

Der Musiker ist dem Text von Bernanos mir äußerster Treue gefolgt. Die wesentlichen Kürzungen, die er vorgenommen hat, sind geringfügig und detailliert. Das Werk bleibt so, wie der Autor es konzipiert hat.

Drei Akte mit jeweils vier Szenen, verbunden durch kurze Zwischenspiele. Die vom Musiker gewählte Form widerspricht den Mitteln des Akademismus und zeugt von einer Kunst ohne Formeln. Auch seine Konzeption ist weit entfernt von der klassischen Nummern-Oper und vom Wagnerschen oder Post-Wagnerschen Drama. Auch kein à priori prägte die Entstehung dieser Oper! Wieder einmal folgte Poulenc nur seinem Instinkt – und dem Text von Bernanos. Er ist es und er allein, der die Struktur  des musikalischen Werks bestimmt!

Der Gesangssatz zeichnet sich durch eine Flexibilität und Freiheit aus, für die es in der Geschichte der Oper nur wenige Beispiele gibt. „Gehen wir zurück zu den Quellen, um aus ihnen neue Kraft zu schöpfen“, sagte Giuseppe Verdi (1813-1901). Poulenc ging zurück zu den Quellen, die hier Claudio Monteverdi (1567-1643) genannt werden. Dieser schrieb: „Beim Rezitativstil spricht man, während man singt. Der lyrische Stil besteht darin, dass man beim Sprechen singt.“ Rezitativstil und lyrischer Stil verbinden sich mit ständiger Glückseligkeit in Dialogues des Carmélites und folgen dabei den kleinsten Wendungen und der tiefen Bedeutung des Textes. Von einem Ende bis zum anderen besteht eine starke und enge Übereinstimmung zwischen dem Impuls der Prosodie, der Melodien-Linien, die sie zum Ausdruck bringt und der Seele jeder einzelnen Figur. Lebendigkeit, Genauigkeit des Ausdrucks, Vielfalt und vor allem Natürlichkeit, eine souveräne Natürlichkeit, die alle Konventionen außer Kraft setzt, das sind die charakteristischen Merkmale des musikalischen Diskurses von Poulenc. Vom Rezitativ bis zum Arioso nutzt er alle Möglichkeiten der menschlichen Stimme, ohne dass es jemals einen Bruch verursacht. Im Kern bleibt das Werk eine entschieden und überaus vokale Oper! Es ist die Stimme, die das Sagen hat: Ihr allein sind die melodischen Themen anvertraut – niemals dem Orchester. Die Wahl der Stimmen – großer Stimmen – ist logisch und für jede der verschiedenen Rollen klar festgelegt: Die Altistin, die die Priorin singt, ist dieselbe, die Amneris in Aida (1871) von Verdi singt und die Sopranistin, die die Zweite Priorin verkörpert, singt auch Desdemona aus Othello (1887) von Verdi. Die junge Schwester Constance, leichte Sopranistin, könnte ihr Kostüm gegen die Soubretten von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) austauschen, usw…

Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Anne-Catherine Gillet (Blanche de la Force), Mireille Delunsch (Madame de Croissy) © Eric Bouloumie
Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Anne-Catherine Gillet (Blanche de la Force), Mireille Delunsch (Madame de Croissy) © Eric Bouloumie

Das Orchester, sehr zahlreich, wird „nach kleinen Stücken“ eingesetzt, entsprechend der richtigen Instrumental-Farbe. Die Orchestrierung mit einer großen Vielfalt an Instrumenten-Kombinationen ist auf den Stimmumfang abgestimmt. Durchsichtig, es erstickt niemals das Wort von Bernanos, das so bedeutungsvoll ist. Immer diskret, aber es ist weder ausradiert noch neutral! Auf den Reichtum der melodischen Erfindung, auf die sinnliche Flexibilität der Modulationen von Poulencs Musik reagiert das Orchester mit einer enormen Wollust der Farb-Nuancen: Und dass Aufgrund  der vielen Varianten der Blasinstrumente. Diese spielen eine vorherrschende Rolle in den reinen Orchesterpartien, in den Zwischenspielen, die nie symphonischen Charakter haben, außer im letzten und längsten – eine Art von Marsch mit äußerst schrillen und rauen Effekten. Sie sind von unterschiedlicher Orchesterfarbe und stellen jeweils eine Grundvoraussetzung für das Szenenbild dar, dem sie vorangehen, deren Atmosphäre und Geist sie musikalisch andeuten.

Figuren der Angst und der Gnade…

Dieses Gleichgewicht zwischen Gesang und Orchester ist bezeichnend für den Geist, in dem Poulenc seine Oper konzipierte und schrieb: Geist der Diskretion, Zurückhaltung, Demut gegenüber Bernanos‘ Text – Geist der Treue! Und ganz natürlich profitieren die Dialogues des Carmélites auf rein musikalischer Ebene davon! Die Dialogues des Carmélites von Bernanos sind eine innere Tragödie: Die Französische Revolution ist nur eine Kulisse! Sie überschreitet nicht die Mauern des Karmels und beeinträchtigt nicht die Seelen der Nonnen. Es wäre eine schwerwiegende Fehlinterpretation, sich vorzustellen, dass es eines Musikers mit epischen Atem bedurfte, um ein solches Thema zu behandeln: Eine sehr große Fehlinterpretation, über die man sich aber nicht sehr wundern sollte, wenn  deutsche Kritiker während der Aufführung von Dialogues des Carmélites in Köln einen Mangel an „expressionistischer“ Musik äußerst streng kritisierten. Angesichts dieser Kritik, die offenbar die Novelle von Le Fort mit dem Werk des französischen Schriftstellers verwechselt hat (wenn die Verwechslung entschuldbar ist, so ist sie nicht weniger bedauerlich?), denkt man darüber nach, was Claude Debussy (1862-1918) über den Einfluss (seiner Meinung nach sehr schädlich?) von Christoph Willibald von Gluck (1714-1787) über die französische Musik geschrieben hat: „Wir hatten jedoch eine reine französische Tradition in der Arbeit von Jean-Philippe Rameau (1683-1764), bestehend aus feiner leichter und charmanter Zärtlichkeit, aus strenger Deklamation in der Geschichte, ohne diese Affektiertheit der deutschen Tiefe, noch die Notwendigkeit, sie zu unterstreichen und zu prägen in atemloser Erklärung, was zu sagen scheint: „Ihr seid eine Ansammlung besonderer Idioten, die nichts verstehen, wenn ihr nicht von vornherein dazu gezwungen werdet, Blasen als Laternen zu nehmen!“ Ja, die feine und bezaubernde Zärtlichkeit, sie erhellt die ganze Rolle der kleinen Schwester Constance, die richtigen Akzente, eine rigorose Deklamation, die Abwesenheit von Affektiertheit in der Tiefe, das sind die wesentlichen Tugenden des französischen Musikers, der es wagte die Dialogues des Carmélites von Bernanos zu einer Oper zu machen. Alles Tugenden, die Poulenc mit beständiger Freude vorgelebt hat, seit er anfing Musik zu  sprechen – als er bereits Musiker war und die musikalische Rechtsschreibung noch nicht ganz beherrschte. Diese diskreten und seltenen Tugenden, die keinen Lärm machen, bedeuten aber nicht das Fehlen von Lyrik und Kraft. In dieser Hinsicht ist im ersten Akt nichts überzeugender als die zweite Szene ( erste Zusammenkunft  von Blanche de la Force und der Ersten Priorin) und insbesondere die vierte Szene: Hier im schweren und grausamen Tod der Ersten Priorin, zeigt Poulenc mit dem mit nüchternsten Mitteln und ohne den Ton einer fast unerträglichen Kraft und musikalischer Gewalt anzuheben. Es ist eine der sehr großen Momente in dieser Oper!

Weitere Höhepunkte: Das Ave Maria a capella des 2. Akts, zweite Szene von fast ekstatischer luftiger Reinheit und natürlich die letzte Szene: Der Aufstieg zum Schafott!

Die Karmelitinnen singen im Chor das Salve Regina, während die Menge wie im Filigran, mit Vokalen oder mit geschlossenem Mund singt: Eine Melodie, die keinerlei Bezug zum religiösen Gesang hat! Das Salve Regina nimmt jedes Mal mehr ab, während die Köpfe fallen ( hier ist die grausame Guillotinen-Axt in einem ungleichen Rhythmus nicht zu überhören). Als Blanche die Menge durchbrechend, sich ihren Gefährten anschließt, singt sie nicht mehr Salve Regina, sondern die letzten vier Verse des Veni Creator. Der dramatische Effekt ist frappierend!

Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Marie-Andrée Bouchard-Lesieur (Mère Marie de l'Incarnation), Lila Dufy (Sœur Constance de Saint-Denis), Patrizia Ciofi (Madame Lidoine), Gaëlle Flores (Mère Jeanne de l'Enfant Jésus) © Eric Bouloumie
Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Marie-Andrée Bouchard-Lesieur (Mère Marie de l'Incarnation), Lila Dufy (Sœur Constance de Saint-Denis), Patrizia Ciofi (Madame Lidoine), Gaëlle Flores (Mère Jeanne de l'Enfant Jésus) © Eric Bouloumie

Der letzte Weg zur Perfektion..

Abgesehen von den Seiten, auf denen Poulenc mühelos Größe erreicht, gibt es andere, auf denen die Schönheit des musikalischen Ausdrucks nicht weniger beeindruckend ist. So die Szene vor dem Vorhang im 2. Akt zwischen Schwester Constance und Schwester Blanche, die gerade Blumen auf das Grab der Ersten Priorin gelegt hat. Diese Szene, die für das Verständnis des Werks von entscheidender Bedeutung ist und in der sich die beiden Karmeliterinnen über die tiefe Bedeutung des Todes wundern, ist musikalisch mit einer Einfachheit, Transparenz und Poesie von wahrhaft herzzerreißender Zartheit geschrieben: Dem Komponisten gelang es auf wundersame Weise, diesen Dialog zwischen Himmel und Erde zum Klingen zu bringen! So auch die lange Rede, die Mme. Lidoine, die Zweite Priorin, anlässlich ihres Amtsantritt an ihre Nonnen hält: Sie entfaltet sich mit der nötigen Vertrautheit gewissermaßen wie eine „Girlande aus Wildblumen!“ Es ist ein langes musikalisches Geschwätz, linear, sich in sich selbst schließend wie eine Schleife, einer Erfindung und eines musikalischen Unrealismus, die die Seele erfreuen. So das Duett zwischen Blanche und dem Chevalier, ihrem Bruder, der versucht sie aus dem Karmel zurückzuholen: Ein Duett mit einer Lyrik, die an zwei Liebende erinnern würde, wenn es sich nicht um einen Bruder und einer Schwester handeln würde. Uns schließlich die grandiose Szene der Conciergerie, in der die Zweite Priorin ihre Töchter zum Märtyrertum ermahnt. In diesem Moment erhebt sich Mm. Lidoines Stimme, intensiv und ergreifend, in einer Stimmkurve eines einzigen Flusses von einer wirklich bewundernswerten Breite und Schönheit.

Sollten wir noch immer nicht mit diesen Beispielen an die Größe des Werks glauben – dann sollte man wohl die gesamte Partitur lesen und dann sollte es zitiert werden -, dass Poulenc mit dem Schreiben von den Dialogues des Carmélites seine gesamte Verführungskraft aufgegeben hat, die  schon immer seiner Musik anhaftete. In der Cronique Clarendon der Tageszeitung Le Figaro hat Bernard Gavoty (1908-1981) zu Recht darauf hingewiesen: „Diese Musik verwendet eine harmonische Sprache von solch üppigem Reichtum, dass man beim ersten Hören das Übermaß ihre Verführung befürchtet haben könnte. Wie konnte der Musiker mit seinen fleischigen Akkorden das Mysterium  in  seiner ganzen Nacktheit übersetzen?“ Aber Poulenc hat so gut seinen Schreibstift verwendet, dass er ihn immer zurückhielt, wenn man schon glaubte, es wäre alles verloren. Es ist diese vorbildliche Zurückhaltung, die dem Werk seine Noblesse und Geschlossenheit verleiht.

Auf rein musikalischer Ebene ist diese Einheit auf die ständige Verwendung zweier Themen zurückzuführen. Es ist nicht, sagen wir mal ein Leitmotiv: Das von Blanche entlehnt aus dem Agnus Dei der Messe in G-Dur a cappella (1937) und das der Ersten Priorin, ein Thema der Zerstörung, entlehnt aus dem Konzert für Orgel in G-Dur (1938). Aber die wahre Einheit von Poulencs Oper entsteht aus der anhaltenden Emotion, die sie vom Anfang bis zum Ende belebt. Nichts ist schwieriger als Emotion in der Musik zu definieren: Es ist ein Begriff, der – ganz gleich für welche Analysen er sich auch eignet – Gefahr läuft, im Bereich der reinen Affektivität der Gefühle zu bleiben. Allerdings sind die Gefühle nichts in Musik, wenn sie nicht zu Musik werden: Ein geschlossenes Klang-System! Nicht schwer zu erklären, wenn es sich um ein reines Musikwerk handelt – eine Symphonie, eine Sonate, ein Quartett – aber das Problem ist viel komplizierter, wenn es sich um ein Werk handelt, bei dem die Worte ihren wichtigen Teil dazu haben – und zwar einen nicht zu unübersehbaren Teil. Nehmen wir an, dass im Dialogues des Carmélites die Emotion aus einer möglichst intimen Übereinstimmung zwischen dem Geist des Textes von Bernanos und dem der Musik von Poulenc entsteht.

Wenn er schreibt: „Die Übereinstimmung dieses überaus zärtlichen und liebevollen Ariel mit dem dunklen, dogmatischen und brennenden Bernanos ist ein Paradoxon und auch ein Wunder“, irrt sich Robert Kemp (1879-1959). Hier gibt es weder Paradox noch Wunder, sondern nur  eine einfache Begegnung! Begegnung eines Textes und seines Musikers: Die des Theaterstück von Maurice Maeterlinck (1862-1949)  und Debussy, oder des Dramas von Georg Büchner (1813-1837) und Alban Berg (1885-1935). Aus solchen Begegnungen entstehen große Werke und nicht aus theoretischen Spekulationen! Hören wir uns Berg an: „Selbst im Traum kam ich nie auf die Idee, Wozzeck zu einem revolutionären Werk zu machen. Zugegebenermaßen hatte ich bei der Entscheidung eine Oper zu schreiben, den Wunsch, gut zu komponieren, um den spirituellen Inhalt von Büchners unsterblichen Drama durch Klänge auszudrücken, um seine poetische Sprache in eine musikalische Sprache umzusetzen. Aber ansonsten hatte ich keine andere Absicht, sei es in kompositorischer Absicht als auch dem Theater gegenüber ihm vollkommen entsprechendes neues Werk zu geben. Meine Musik im ständigen Bewusstsein ihrer Unterordnung unter die Handlung zu gestalten, alles hineinbringen, was zur Verwirklichung des Dramas auf der Opernbühne nötig war.“ Aber wenn Wozzeck (1925) durch die Einführung alter und neuer musikalischer Formen in der Oper, von denen man normalerweise nur in der reinen Musik Gebrauch macht, revolutionär wirken könnte, wird die Oper von Poulenc dazu in der Lage sein heute aus einem Grund revolutionär zu erscheinen, der nichts Technisches hat: Ebenso wie der Geist sind die Dialogues des Carmélites mit dem Herzen des Musikers geschrieben. In der Musik dieser Zeit ist es ein Novum von großer Kühnheit! Zugegebenermaßen brauchte es die Mittel einer Meisterschaft, die für das Herz gesichert war, ohne den Geist zu kompromittieren und das Werk nicht in ein sentimentales und fades Pathos zu stürzen. Damit auch die absoluten Vorrechte der Musik, ihr autonomes Leben, das durch nichts Außer-musikalischem behindert und beschädigt werden darf. Es ist dieses souveräne Gleichgewicht, das den Dialogues des Carmélites ihr harmonisches Gesicht verleiht, es ist es, das dieses bewundernswerte Werk ermöglicht – dass man sich nicht scheuen sollte, es in die Linie von Pelléas et Mélisande (1902) und Wozzeck zu stellen – um die ganze Emotionskraft auszudrücken, die darin reichlich vorhanden ist. Ohne dass jemals die extreme Reinheit der musikalischen Linie darunter leidet.

Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Sébastien Droy (l'Aumônier du Couvent), Damen-Chor © Eric Bouloumie
Opéra National de Bordeaux / DIALOGUES DES CARMÉLITES hier Sébastien Droy (l'Aumônier du Couvent), Damen-Chor © Eric Bouloumie

DIALOGUES DES CARMÉLITES - Wiederaufnahme 2. Juni 2023 - Opéra National de Bordeaux

Ein Zeuge des Unsichtbaren…

Es ist interessant festzustellen, wie sehr sich in einer Oper wie der Dialogues des Carmélites der optionale Höhepunkt je nach der Interpretation von einer zur anderen verschiebt. Die letzte Szene, der Aufstieg auf das Schafott der Nonnen, ist nicht immer die ergreifendste.

Vor einigen Jahren an der Opéra de Tours in der gleichen Inszenierung hinterließ eine französische Mezzo-Sopranisten einen gewaltigen Eindruck in der Rolle der Madame de Croissy. An der Opéra National de Bordeaux wiederholte die französische Sopranistin Mireille Delunsch das Kunststück nicht einmal annähernd! Vielleicht weil wir viel – zu viel – von ihrer Priorin erwartet haben und jetzt sehr enttäuscht sind, dass eine Künstlerin ihres Formats in einer Rolle, die mehr Nüchternheit zu erfordern scheint, als unerwartete große expressionistische Effekte zu entfalten. Die einfach dazu neigen, das Werk emotionell zu sabotieren! Außerdem hat eine Sopranistin ohne jegliche stimmliche Tiefen, dazu am Ende ihrer Kariere nichts in einer Rolle zu suchen, die vom Komponisten ausdrücklich mit einer Mezzo-Sopranistin – ja sogar mit einer Altistin – besetzt wurde. Aber hier wird die alternde kranke Priorin als ein schrilles keifendes und hysterisches Etwas gezeichnet! Dieses Etwas hätte vielleicht seinen Platz bei Richard Strauss (1864-1949) … bei Elektra (1909) … bei Klytämnestra! Vielleicht?

Dazu auch die szenischen Mittel, die für sie sehr hinderlich sind, indem sie ihre linkischen Gesten so gut wie möglich in die Figur der ergreifenden Madame de Croissy hineinzuversetzen versucht. Während ihres ersten Gesprächs mit der jungen Blanche de la Force wurde sie von einem Teppich aus brennenden Kerzen hinter die Bühne geschickt. Später dann in der Sterbe-Szene muss Madame de Croissy sich auf einem Tisch herumquälen, der mit einem weißen Laken bedeckt ist, der aber auch als Bett dient und dessen Höhe die eventuellen fließenden Bewegungen sehr stark behindert.

Diese Option ist nicht einzige, die uns in Mireille Delunschs erster großer Inszenierung fraglich erscheint. Die Entscheidung, die einzelnen Szenen ohne die geringste „tote“ Zeit zu verketten, beeinträchtigt sowohl die Lesbarkeit als auch die Atmung des Werkes. Die Darstellung der Hinrichtung von Blanche auf der leeren verlassenen Bühne wie in einem Traum (vermutlich der von Schwester Constance), widerspricht dem Libretto, das die junge Karmeliterin „aus der Menge hervortreten“ soll. Diese Fehlinterpretation ist einer der Gründe, warum die Schluss-Szene unsensibler als üblich ist. Wir würden sagen, sie ist einfach nicht existente… sie ist einfach langweilig… das nicht-mehr-atmen-können  bei jedem „Rhumpf“ des Feilbeils ist ohne jegliches Herzklopfen und erzeugt auch keinerlei Angst. Die Szenenbilder und auch die Kostüme des französischen Bühnenbildner Rudy Sabounghi sind angenehm im Sinne des Konservativen Stils „déjà vu“! Der französische Lichtbildner Dominique Borrini hat eine äusserst dunkle dramatische und auch gewissermaßen eine fast klerikale Licht-Vision: Auf jeden Fall hat er uns etwas was zu sagen!

Die gesamte Sänger-Besetzung zeichnet sich durch die ausgezeichnete französische Diktion aus, eine Qualität, die für dieses Werk besonders wichtig ist. Die belgische Sopranistin Anne-Catherine Gillet verkörpert Blanche de la Force mit großer musikalischer und dramatischer Finesse. Ihre perlmutterartige Stimme hat ein Timbre von großer Reinheit. Ihre präzise Prosodie steigert die Ausdruckskraft des Textes. Ihre natürliche joviale Offenheit passt perfekt zu diesem jungen zarten Charakter, dem sie eine starke Sensibilität verleiht. Einziges B-Moll ist leider wohl das körperlich und äußere Erscheinen der Interpretin, denn man glaubt ihr nicht einziges Mal die noch sehr junge Blanche! Aber das muss man wohl in der Oper so hinnehmen!

Die französische Mezzo-Sopranistin Marie-Andrée Bouchard-Lesieur bringt für die Mère Marie de l’Incarnation ihre warme und üppige Stimme in allen Bereichen mit und die Frühreife ihrer Rollen-Inkarnation ist einfach umwerfend. Der französische Tenor Thomas Bettinger verkörpert einen stolzen Chevalier de la Force mit seinem warmen ein wenig pigmentierten Instrument und mit den kräftigen Höhen, manchmal ein wenig zu sehr forciert. Wir meinen auch er sollte  nicht so viel mit der Kopfstimme singen! Die junge französische Sopranistin Lila Dufy als Soeur Constance de Saint-Denis hat die nötige unschuldige Fröhlichkeit. Ihre großzügige Stimme, dicker und fleischiger als die von Gillet, sorgt für einen adäquaten Kontrapunkt. Zusätzlich hat sie wohl all das, was dem Komponisten für diese Rolle vorschwebte! Die kleine naive Constance war Poulencs Lieblings-Rolle! Der französische Bariton Fréderic Caton in der Rolle des alternden Marquis de la Force mit resignierter, aber berührender Würde und mit vollmündiger und konzentrierter Stimme mit entspannten Linien. Aber eben auch vielleicht mit einer zu alten verbrauchten Stimme! Pardon!

Die italienische Sopranistin Patrizia Ciofi verleiht an Madame Lidoine eine derartige Zerbrechlichkeit, die sich aber auch stimmlich dadurch ausdrückt, dass sie aus der Mitte heraus zur Bruststimme wechseln muss, was zu ständigen Registerwechseln führt, die sie aber dennoch gewandt ausführt. Diese große Künstlerin ehemals auf allen Bühnen der Welt zu Hause, brachte für uns vielleicht die imposanteste Leistung des Abends! Danke Patrizia!

Der französische Bariton Sébastian Droy spielt einen nüchternen und wohlwollenden Aumônier du Couvent in seiner dunklen Stimme, in der manchmal sogar einige Lichtstrahlen aufleuchten. Als furchterregender Geôlier war der französische Bariton Timothée Varon zunächst etwas Diskret, aber seine Stimme gewinnt an Selbstvertrauen, während sich sein fataler Rechtsspruch entfaltet und er schöne Resonanzen offenbart. Der französische Tenor Etienne de Benazé und der französische Bariton Thierry Cartier sind die beiden Commissaires. Der 1er Commissaire ist sehr theatralisch  in der Prosodie, hat eine sehr charaktervolle Stimme, klar und trompetend. Der 2. Commissaire hat eine sehr satte und reiche Stimme und vielleicht ein sehr leichtes Vibrato. Der ukrainische Bass-Bariton Igor Mostovoi als Officier übertrug die schrecklichen Worte in einem anmutigen Lied. Der französische Bariton Simon Solas bringt dem Médecin Javelinot seine dumpfe, feste und wohlklingende Stimme mit. Als Soeur Mathilde zeigt die französische Sopranistin Amélie de Broissia ihre feine dünne aber gut projizierte Stimme, während die französische Altistin Gaëlle Flores als Mère Jeanne de l’Enfant Jésus ihre dumpfe, gut projizierte Stimme an sie verleiht.

Der Taktstock des französischen Dirigenten Emmanuel Villaume an der Spitze des Orchestre National Bordeaux Aquitaine ist lebendig und kraftvoll, er erhebt die Musik in beeindruckenden Atemzügen, erzeugt aber manchmal einen zu fetten und großzügigen Klang: Wie ein Seiltänzer ist er ständig am äussersten Ende vor dem Fall und überdeckt die Stimmen der Solisten mehrmals. Auch fällt er einige Male wirklich ab, wobei das Orchester dann die Sänger stark verschluckt! Der Choeur der Opéra National de Bordeaux unter der Leitung des spanischen Chorleiters Salvatore Caputo wirkt seinerseits  zunächst aus der Ferne bedrohlich, bevor er am Ende ergreifendes Mitgefühl zeigt.

Die Aufführungsserie der Dialogues des Carmélites wird noch bis einschließlich 11. Juni 2023 gegeben. Kartenbestellung: Opera-bordeaux. Com oder 05 56 00 85 95.  (PMP/04.06.2023)

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