Bonn, Theater Bonn, Thaïs: Farbenreiches Massenet-Fest im Bonn, IOCO Kritik, 17.05.2014
Thaïs: Große Produktion, Stürmischer Lohn
Die Spielpläne großer Musiktheater favorisieren große wie populäre Opern: Die Zauberflöte, La traviata, Carmen, Aida werden immer und überall auf der Welt inszeniert; die sängerische Auswahl ist groß, hohe Zustimmungswerte des Publikum sind garantiert. Risiken beschränken sich auf das Regiekonzept, welches Intendanten vorab prüfen und vergleichen können. Große, nicht populäre Opern zu inszenieren zeugt dagegen von Mut, hoher Kreativität und künstlerischem Gestaltungswillen. Das Theater Bonn nahm die kompositorisch großartige aber selten gespielte Oper Thaïs von Jules Massenet erst nach kontroverser Abwägung auf seinen Spielplan: Auffällig und anhaltend bejubelte das Publikum dort am 19. Mai 2014 die Thaïs Premiere. Und belohnte all jene hinter der Bühne, welche für diese Thais Produktion gekämpft haben. Doch der Reihe nach.
Jules Massenet (1842 – 1912) war um 1900 der populärste französische Komponist. Ambroise Thomas, Charles Gounod und Franz Liszt waren seine frühen Lehrmeister. Massenet zeichnete in seinen über 20 großen Opern menschliche Gefühlswelten in sinnlich melodiösen Farben; nie grell oder rau, immer sensibel harmonisch. Seine Werke Manon und Werther finden sich in vielen Theater Spielplänen; Thaïs, Don Quichote, Le Cid, und Cendrillon (Aschenputtel) nur selten. Die meisten Opern Massenets werden nicht gespielt. In der Entstehung und Komposition von Thaïs spielt Massenets Beziehung zur amerikanischen Sopranistin Sybil Sanderson eine überragende, nie geklärte Beziehung; Muse, Geliebte, Mentorin? Müßig, nach über 100 Jahren solchen Fragen nachzugehen. Sybil Sanderson sang die Thaïs in den Uraufführungen von 1894 wie der endgültigen Fassung von 1898.
Das Instrumentalstück für Solovioline Méditation aus Thaïs ist jedermann geläufig. Die Oper Thais, dem 1890 erschienenen Roman Thais von Anatole France entnommen, kennen dagegen nur wenige. Die Handlung der Oper kreist um die Antagonismen von Daseinsfreude in Form der in Alexandria lebenden ägyptischen Hetäre / Kurtisane Thaïs und dem von Askese und Buße bestimmten Ordensbruder Athanaël. Athanaël erscheint im Traum die Aufforderung, Thaïs „zu bekehren“. Athanaël bekennt sich zu dem Bekehrungauftrag, letztendlich zu einem ungewöhnlichen Preis: Während sich Thaïs nach ihrer Bekehrung im Kloster der Erlösung zuwendet (ihre letzten Worte: "Ich sehe….Gott") schwört der durch Selbstzweifel und Thais´ Tod zerstörte Gottesmann Athanaël, dass auf Erden doch die menschliche Liebe die einzige Wahrheit ist.
Regisseur Francisco Negrin bringt den Dualismus von jenseitsgewandtem Mönchsdasein wie lebensfroher Sinnlichkeit in ruhigen, geradezu hypnotisch fokussierenden Bühnenbildern (Rifail Ajdarpasic) eindrucksvoll zur Geltung. Bereits das erste Bühnenbild, Athanaël geißelt sich an einem übergroßen Kreuz begleitet von dem Chorgesang betender Mönche, erzeugt eine ergreifende, meditative Grundstimmung. Eine riesige, mit zahllosen Strahlern besetzte Sonnenscheibe begleitet die Handlung ebenso stimmungsvoll wie die lebensfrohen aber nie lasziven Kostüme (Ariane Isabell Unfried) der ägyptischen Frauen oder die spartanische, in Halbdunkel getauchte Drehbühne, welche Thais qualvolle Wanderung ins Kloster aufwühlend abbildet. Ein gelassen wandelnder Weiser (Yuhi-Rango Binama) und vier die Albträume der Protagonisten tänzerisch abbildende Schakale, runden das schlüssige wie ergreifende Regiekonzept dieser Thais-Produktion des Theater Bonn ab.
Massenets Opern sind sinnlich, emotionsgeladen. Doch zuallererst sind sie melodisch anspruchsvolle Stimmfeste. Thaïs verlangt für seinen Farbenreichtum ein lyrisches wie gut disponiertes Sängerensemble, dazu ein der sensiblen Komposition gewachsenes Orchester. Stefan Blunier führte das Bühnen-Ensemble mit sanfter Hand. Mit seinem Beethoven Orchester Bonn erzeugt Blunier sensibel differenzierend die Massenet-gewollten, spannungsgeladenen Klangräume von atemberaubender Dramatik, gelegentlich vielleicht noch etwas sehr massiv. Besondere Aufmerksamkeit erzielt natürlich die populäre leitmotivische Méditation. Soloviolinist Mikhail Ovrutsky beschreibt die Zerrissenheit der Thaïs ergreifend zart in warm flutendem Vibrato.
Nathalie Manfrino in der Partie der Thaïs ist eine starke Besetzung. Mit profunder Mittellage, ergreifendem Belcanto, optischen Reizen und starker Ausdruckskraft bannt Manfrino als goldfarbene Verführerin wie als tragische Asketin. Ihre einfühlsam vorgetragene Spiegelarie wird zum ergreifenden Ausdruck einer empfindsamen Frau, welche das Alter fürchtet. Der Aserbeidschaner Evez Abdulla überrascht von Beginn an in der Partie des Bruders Athanaël mit wohltimbrierter Stimmgewalt. Noch mehr erstaunt, wie sicher Abdulla seine erste große Partie in französischer Sprache mit gleichbleibender Intensität und Strahlkraft gestaltet. Die peinigenden Seelennöte des Athanaël angesichts des göttlichen Auftrages und seinen irdischen Wünschen bringt Abdulla auchdarstellerisch fesselnd auf die Bühne. Mirko Roschkowski füllt seine Partie als Nicias mit kräftig hellem Tenor und körperlicher Präsenz. Priit Volmer wiederum kontrastierte als alter Mönch Palémon mit gepflegtem schwarzem Bass. Auch Susanne Blattert als Äbtissin Albine und Charlotte Quadt und Stefanie Wüst als Sklavinnen harmonierten und rundeten die stimmlich wie darstellerisch gelungene Premiere einer großen aber selten gespielten Oper ab.
Dem Theater Bonn gelang mit dieser mutigen Thaïs Produktion ein großer Wurf. Ungewöhnlich, mit welcher Verve das Publikum die Thais Inszenierung, das Beethoven Orchester und Ensemble feierte. Man schien sich einig, die mitreißende Premiere einer seltenen Opern-Produktion erlebt zu haben. In dieser Spielzeit wird Thaïs noch am 1.6., 4.6., 7.6., 12.6., 20.6. und 27.6.2014 zu sehen sein. Danach wird Thaïs erst wieder in der übernächsten Spielzeit 2015/16 zu sehen sein.
IOCO / Viktor Jarosch / 27.05.2014.
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