BLAUBART oder der Schlüssel der Verdammnis, IOCO-Serie, Teil 1, 27.11.2020
führt IOCO-Leser ein in die Geschichte, die Geheimnisse, die Mythen um eine Phantasiefigur - in vier Folgen - hier TEIL 1
von Peter M. Peters
Blaubart und die unerfüllte Liebe
Wer ist dieser Blaubart, der seit seiner "Geburt" im Jahre 1695 unsere Erinnerungen mit Wahnvorstellungen verfolgt? Er ist ein Herr Niemand – denn er ist nur ein Mythe und auch ein wenig Herr Jedermann. Aber fangen wir am Anfang an!
Zunächst sehen wir uns den finsteren Grafen Gilles de Rais (1404-1440), Marschall von Frankreich, etwas näher an, er lebte im 15. Jahrhundert und war einer der Gefährten der Jeanne d'Arc (1412-1431). Gerüchte gingen um, das er in seinem Schloss in der Vendée kleine Knaben in sadistischer Weise schlachtete, jedoch wurde es nie gerichtlich bewiesen. Wir sehen durch dieses schnelle Porträt, dass er es verdient, eliminiert zu werden. Aber seine Erinnerung ist nicht so leicht zu löschen. Besonders seit Jules Michelet (1798-1874) es auf den schrecklichen Seiten seiner Histoire du Moyen Âge erwähnt hat, ist er weiterhin ein Gegenstand von vielen Veröffentlichungen, von denen die meisten ziemlich abscheulich sind. Manchmal erscheinen diese Geschichten in schnellen Abständen. Wir sahen zum Beispiel im Jahre 1981 die Erscheinung eines Opernlibrettos La Passion de Gilles, des belgischen Schriftstellers Pierre Mertens (1939-), gefolgt von Gilles de Rais et le déclin du Moyen Âge im Jahre 1982 von Michel Hérubel (1927-2020) und im gleichen Jahr Le Moyen Âge, Gilles de Rais von Philippe Reliquet. Eine solche Faszination verdient es, analysiert zu werden.
Aber Gilles de Rais ist nicht Blaubart, wie wir seit mehr als einem Jahrhundert wiederholen und noch weniger sein Prototyp. Darum geht es ihn zu eliminieren. Es ist schon eine gewisse Naivität, in einer historischen Person eine fiktive Figur wieder zu finden. Wer war Ariane, wer war Aschenputtel, wer war Othello, wer war Don Juan? Man könnte genauso gut fragen, welche Menschen als Prototyp für Jupiter oder dem Weihnachtsmann dienten. Blaubart ist ein Mythos!
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Eine ernste Behinderung
Ah, das regelt nicht unser Problem, denn Mythen sind oft viel interessanter als das Menschendasein. Sie sind transkulturell, unsterblich, ewig; sie bewegen sich, sie leben, sie entwickeln sich und bleiben doch immer gleich; sie sind interpretierbar bis zur unendlichen Unendlichkeit. Wenn sie manchmal eine feste Form, einen festen Text oder ein festes Bild annehmen, sollte dies nicht als kanonisch angesehen werden, da sie nur darauf warten sich in aller Eile aufzulösen und woanders Platz zunehmen.
Also so schrieb Charles Perrault (1628-1703) seinen Blaubart mit dem weiblichen Artikel voran (La Barbe-Bleue) im Jahre 1695, um ihn 1697 unter dem Namen eines Kindes zu veröffentlichen: „Es war einmal ein Mann, der schöne Häuser in der Stadt und auf dem Lande hatte, Gold- und Silbergeschirr, geschnitzte Möbel und vergoldete Karossen; aber leider hatte der unglückliche Mann einen blauen Bart...“ Wenn wir bei dieser Einführung aufhören, gibt es nicht sehr Schreckliches zu berichten. Dieser Herr (er ist kein Adliger noch Lehnsherr) ist sehr wohlhabend, mit reichen Gütern versehen und sieht auch nicht wie ein Menschenfresser aus. Aber der Unglückliche hat einen körperlichen Defekt. Wir müssen es glauben, wenn Perrault es sagt, dass diese blaue Farbe des Bartes ein ernstes Handicap war. Und warum rasierte er sich nicht?
Ah, weil es so ist. Was geschrieben steht, ist die einzige Wahrheit. Wir haben es Euch auch gerade gesagt, das die Figuren in den Romanen und Fabeln nicht wie Menschen aus Fleisch und Blut, sich ähneln. Blaubart ist nicht unser Flurnachbar; er ist ein Mythos und seine Frau auch.
Verheiratete Paare, klassische Paare sind in Märchen nicht besonders häufig. Dieser hier ist jedoch perfekt bürgerlich, mit Möbeln und Geschirr, Schwägerin und Schwager, gefüllten Vorratskellern und Schlüsselbund. Vielleicht ist es diese Erscheinung des opulenten Alltags, die den Nervenkitzel erhöht. Die Autoren von Horrorfilmen wissen, dass es notwendig ist, eine banale Dekoration mit Charakteren einzurichten. Mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann, um das fortschreitende Unwohlsein zu verstärken. Blaubart ist ein ausgezeichneter Horrorfilm.
Entschlüsselung und Vereinfachung
Es muss gesagt werden, dass wir hier von schriftlichen oder mündlichen Überlieferung sprechen und nicht von Opern. Nicht bei Béla Bartók (1881-1945) noch bei Paul Dukas (1865-1935), tötet Blaubart nicht als ein Prinz noch als ein Tyrann eine Frau oder gar sechs. Der Sire Blaubart in der opéra-bouffe von Jacques Offenbach (1819-1880) hatte zwar Mordgedanken, war aber bei ihrer Ausführung frustriert. Und es scheint auch keine Frage von tatsächlichen Morden zu geben, die im Raoul Barbe-bleue von Michel-Jean Sedaine (1719-1797) mit der Musik von André-Ernest-Modeste Grétry (1741-1813) begangen wurden, präsentiert 1789 im Théâtre des Italiens in Paris. Makabres und Musik lassen sich auf der Bühne möglicherweise nicht gut kombinieren. Die Frauen, die für tot gehalten wurden, tauchen im letzten Akt wieder auf. Sie wurden im schlimmsten Fall eingesperrt, eingeschläfert oder verkleidet. Der vom Ehemann anvertraute Schlüssel enthüllte kein blutiges Geheimnis.
Aber das war in der Fabel. Vergessen wir nicht, es ist eine Geschichte eines Ehepaares. Der Schlüssel des Ehemannes öffnet eine Tür und Blutfluten stürzen hinaus. Hier ist ein verschlüsseltes Symbol zu öffnen: Der Phallus des Mannes durchdringt die Jungfernhaut der Frau, perfekt freudien. Genauso sollte es sein in einer Geschichte zwischen einer Frau und einem Mann.
Charles Perrault wusste es wahrscheinlich 1695 nicht, aber er verfügte sicherlich über einen vernünftigen und offenen Verstand und kannte sicherlich die vielen kleinen schmutzigen Texte und die rüden volkstümlichen Geschichten, die im klassischen Jahrhundert in Unmengen zirkulierten: Geschichte des Schwanes, Geschichte von der Eselshaut, Geschichte des Spinnrocken, Geschichte des alten Wolfes, Geschichte der alten Frauen, Geschichte der Kindermädchen, Geschichte des Schlafens im Stehen oder Geschichte meiner verquasselten Gans. All diese kleinen derben Erzählungen zeigen wie populär und verbreitet sie waren. Eine der Eigenschaften des Künstlers ist, dass er selbst nicht alles weiß, was er schreibt oder gelesen hat. So finden sich das Unbewusste, Erinnerungen, Träume und Ängste in der Arbeit selbst. Und deshalb verbrauchte Les Contes de ma mère l'Oye, die als einfache Transkription populärer Geschichten präsentiert wurde, viel mehr Tinte als jedes andere Werk, das in diesen Jahren veröffentlicht wurde.
Durch die Bretagne ...
Über Blaubart ist eine der letzten passionierten Analysen in L'Histoire des contes von Catherine Velay-Vallantin erschienen. Es gibt eine ganze Reihe von parallelen Texten, die miteinander verflochten sind. Zum Beispiel identifiziert sich Blaubart in einer Version mit König Renaud, "der aus dem Krieg zurück Gekehrte" (6. Jahrhundert) und der seine Frau bei der Rückkehr tötet. Oder das Märchen von Perrault kontaminiert die bretonische Legende von der Sainte Tryphine (6. Jahrhundert). Letztere verheiratet mit Conomor (6. Jahrhundert), erfährt, dass dieser seine früheren Frauen getötet hat, sobald sie schwanger waren. Vor der Geburt ihres Kindes verliert auch sie ihren Kopf, jedoch ein örtlicher Heiliger rettet sie indem er ihr Haupt wieder an den richtigen Platz klebt... Warten Sie, wir sind noch nicht fertig mit den Ansteckungen. Der Heilige hieß Gildas de Ruis (6. Jahrhundert). Warum denken wir bei diesem Namen an Gilles de Rais?
In Pontivy (Morbihan) sind die Wände der Sainte-Tryphine Kirche heute mit farbigen Fresken aus dem 17.Jahrhundert geschmückt. Diese Fresken zeigen unter anderem die Mordszene der Sainte-Tryphine. Auch ist sie die fast exakte Kopie der Vignetten, die die Geschichte von Blaubart in der ersten Ausgabe illustriert. Die weltlichen Illustrationen der Fabeln von Perrault inspirieren die frommen Bilder!
Die Autorin der L'Histoire des Contes zitiert sogar ein bretonisches Klagelied, das 1886 von dem Pfarrer Eugène Bossard (1853-1905) gesammelt wurde und in der sich Gilles de Rais, Blaubart und ein unbekannter Bischof aus Nantes zusammen vereint in dunkle Geschäfte verwickelt haben. Es ist wahr, dass die Echtheit dieses Textes nicht absolut sicher ist, denn Bossard könnte ihn in … dem Larousse-Wörterbuch gefunden haben, das zwanzig Jahre zuvor veröffentlicht wurde. Aber was bedeutet Echtheit, wenn es um Mythen und Legenden geht? Das Wichtigste dabei ist, dass diese Annäherungen gemacht wurden. Unabhängig davon, wer es war!
Larousse widmet sich darüber hinaus – dies ist das Jahr der opéra-bouffe von Offenbach – neun unermessliche Kolonnen macht er zu einem großartigen Méli-Mélo mit der ironischen und etwas masochistischen Leichtigkeit eines Großbürgers des Second Empire. Was hat er von seinen Frauen verlangt? Nichts Außergewöhnliches: „Lassen Sie den Schlüssel nicht verrosten, denn sobald er in Blut getränkt ist, behält er hartnäckig seine Flecken.“ Aber er rechnete nicht mit so viel weiblicher Neugierde, diese sui generis Neugier, mit der wir schon unsere erste Mutter und unsere letzte Tochter verloren. Und so weiter! Pierre Larousse (1817-1875), der den sexuellen Aspekt der Geschichte vollkommen ignoriert, sagt jedoch mehr als er will, wenn er den Fall der > verbotenen Frucht < erwähnt.
Denn Blaubart – der auch Schwarzbart oder Grünbart genannt wird – erhält auch ein wenig die Rolle von Weißbart oder von Gottvater, der Eva alle Reichtümer des Paradies (alle Schlüssel des Schlüsselbundes!) genießen lässt, bis auf einen. Offensichtlich kommt es zu einer Katastrophe und die paradiesische Jungfräulichkeit verschwindet, um niemals zurückzukehren. Die Rache des Herrn und Meisters ist schrecklich. Wer Zauberlehrling werden will, muss die harte Strafe ertragen!
Maumariée – Schlecht verheiratet
Jetzt werden wir von der Genesis zum kleinen frechen Liedchen überwechseln. Die Geschichte von Blaubart wurde auch ein äußerst produktives Thema im französischen Volkslied, das der Maumariée, der "schlecht Verheirateten" gewidmet war! Dies sind Frauen, die sich beschweren: Sie wurden dazu gebracht, einen Bösewicht oder einen alten Mann, einen kranken Mann, einen buckligen Mann, einen winzigen Mann, kurzum jemanden zu heiraten, den sie überhaupt nicht mögen und der sie tyrannisiert: „Himmelkreuz! Marion, was wolltest Du am Brunnen machen?“ Wenn man sich Blaubart nennt, liegt es auf der Hand mit „Stein und Bein! Donnerwetter!“ zu fluchen. Die Frauen für ihren Teil sprachen für sich selbst im Monolog: „Ich werde Dich besser lieben, mein Mann. Ja, ich werde Dich lieber besser tot lieben als lebendig!“ Später verwandelt sich das Thema in eine Erzählung wie in dem Lied des Comte Ory, dass später eine Oper von Gioachino Rossini (1792-1868) wird und die Larousse gleichstellt mit der Geschichte vom Blaubart. Oder wie 1855 in der Romanze des Sire de Framboisy, der die untreue seiner Frau entdeckt: „Er vergiftet sie mit Grünspan und sät auf ihrem Grab Petersilie.“
Aber Blaubart‘s Frau ist nicht untreu! Perrault sagt nichts darüber, das ist wahr. Diese Szene des Mannes, der abwesend ist um unerwartet zurückzukehren, überschneidet sich mit so vielen tragikomischen Situationen bei Giovanni Boccaccio (1313-1375). Natürlich ist die Frau sicherlich unschuldig, denn trotz Verbot steckte sie den Schlüssel in das Türschloss. Symbol! Alles Symbol! PMP-20/11/20-1/4
BLAUBART oder der Schlüssel der Verdammnis, IOCO - Serie, Teil 1 -
Teil 2 - Blaubart - La Barbe-Bleue - IOCO-Serie von Peter M. Peters
folgt am 4.12.2020 - TITEL:
Freier Lauf für die Fantasie ....
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