Berlin, Staatsoper, Staatskapelle Berlin, VI. Abonnementkonzert, IOCO

25. März 2025
Hans Werner Henze: Sebastian im Traum – Eine Salzburger Nachtmusik auf eine Dichtung von Georg Trakl für Orchester
Hans Werner Henze, geboren am 1. Juli 1926, ist einer der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Ein Musikstudium muss er wegen des Krieges abbrechen, Reichsarbeitsdienst und seine Zeit als Funker in einer Panzereinheit der Wehrmacht sorgen für eine lebenslange, leidenschaftliche Ablehnung von Faschismus, Krieg und jede Form der Ungerechtigkeit. Nach Kriegsende – er war kurz in britischer Gefangenschaft - und nach einer einjährigen Tätigkeit als Korrepetitor am Bielefelder Theater wird er Kompositionsschüler von Wolfgang Fortner. Er studiert bei René Leibowitz Zwölftontechnik, verknüpft sie in seinen Kompositionen dieser Zeit aber nach dem Vorbild von Igor Strawinsky mit neoklassizistischen Stilelementen. Henze wehrt sich früh gegen Vorgaben, gegen eine Festlegung auf einen Stil, eine Technik, eine Richtung und etabliert sich schnell als einer der führenden Komponisten seiner Generation. Enttäuscht von der politischen Entwicklung in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und der Einengung durch die damals richtungweisenden Darmstädter Ferienkurse auf die serielle Musik, übersiedelt Henze nach Italien. Eine persönliche und schöpferische Partnerschaft verbindet ihn u. a. mit Hans Magnus Enzensberger und Ingeborg Bachmann. Seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Italiens und seine Sympathie für die Kubanische Revolution verhindern 1968 eine Uraufführung des Oratoriums „Das Floß der Medusa“ in Westdeutschland. Henze bezieht mit seinen Sinfonien, Opern und Oratorien immer wieder politisch Stellung, nie sind seine Kompositionen Selbstzweck. So folgt er auch einer Idee von Paul Dessau für eine deutsch-deutsche Gemeinschaftskomposition, der „Jüdischen Chronik“, die von Henze, Hartmann, Blacher, Wagner-Régeny und Dessau realisiert wird. Die Uraufführung findet nahezu zeitgleich 1966 in Köln und Leipzig statt. Seine 9. Sinfonie von 1997 ist „den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus“ gewidmet. Mit seiner Offenheit für Tradition und Gegenwart, oft in spielerisch-ironischer Auseinandersetzung, mit seinem Schaffen, das alle Spielarten der Kammermusik, zehn Sinfonien, Opern, Oratorien, Filmmusik umfasst, erreicht Henze ein breites Publikum. Eine der ersten veröffentlichten Kompositionen ist „Apollo et Hyacinthus“ (1948/1949) nach dem Gedicht „Im Park“ des expressionistisch-symbolistischen Dichters Georg Trakl (1887-1914). Im Sommer 2004 schreibt Henze: „Erst jetzt ein halbes Jahrhundert nach dem Frühwerk, bin ich auf die Kunst des großen Salzburgers zurückgekommen und habe mich mit einem Spätwerk, nämlich der Dichtung Sebastian im Traum beschäftigt. Es handelt sich um nächtliche Impressionen, gespeist aus der Salzburgischen Landschaft, um Visionen aus der Kinderwelt und dem Leichenschauhaus, um Verfall, herbstliche Träumerei, Engel und Schatten“. Der Text inspiriert Henze in den Jahren 2003/2004 zu klanglichen Bildern, einer fantasievollen und überaus farbigen Musik - mal hoch expressiv, mal fast kammermusikalisch - die die unterschiedlichen Stimmungen der Verse aufnimmt: Wahn, Trauer, Einsamkeit, Tod und Geburt, Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht nach Erlösung. Kurze dunkle, bedrohliche Abschnitte wechseln mit immer neuen, hellen, lichten Teilen. „Es gibt in der Dichtung eine leicht erkennbare Form von Reprisen, die auch aus der Musik zurück schallen, ansonsten aber hören wir immer wieder andere Gestalten, immer neue kommen und gehen….Gelegentlich kommt es zu Berührungen und Überlappungen, die haben etwas Schmerzliches, das in den General-Tenor des Stückes gehört, wo Licht und Dunkel polyphon miteinander kollidieren auf eine Art und Weise, die den Stil der ganzen Komposition charakterisiert.“ (Hans Werner Henze, 2004). Das Werk wird im Dezember 2005 in Amsterdam vom Concertgebouw-Orchester unter Marris Jansons uraufgeführt. Tragischerweise ist diese Musik auch das letzte Stück, das Henze in seinem Leben hört, eine Aufführung der Dresdner Staatskapelle. Hans Werner Henze verstirbt am 27. Oktober 2012 in Dresden.

Anton Bruckner (1824-1896). Sinfonie Nr. 6 A-Dur
Johannes Brahms: „Bei Bruckner handelt es sich um einen Schwindel, der in ein bis zwei Jahren tot und vergessen sein wird.“
Anton Bruckner: „Ein Walzer von Strauß ist mir lieber als eine Sinfonie von Brahms.“
Mit der Aufführung der 7. Sinfonie von Anton Bruckner begann im Juni 2022 die Zusammenarbeit der Berliner Staatskapelle mit Christian Thielemann. Nach der Fünften Sinfonie im November 2023 folgt heute mit der Sechsten in A-Dur ein Werk, das Bruckner besonders geliebt hat. Er bezeichnet sie selbst als seine „keckste“. Lange Zeit zu Unrecht als Schreibarbeit zweiten Ranges abgetan, bedeutet sie aus heutiger Sicht weit mehr als das: sie ist in ihrer höchsten kompositorischen Konzentration, in der Vielfalt der verwendeten kompositorischen Mittel und deren Verknüpfung ein Vorgriff auf die „Zweite Wiener Schule“, auf Anton Webern. Die Spieldauer umfasst weniger als eine Stunde, nur diese Sinfonie lässt Bruckner, sonst oft von Selbstzweifeln geplagt, ohne nachträgliche Revisionen, gelten. Ihre Stimmung ist von ruhiger und heiterer Abgeklärtheit und wird daher oft als Bruckners „Pastorale“ bezeichnet. Es fehlt das Monumentale, die leidenschaftliche Aufgewühltheit und ihre ekstatischen Entladungen. Sie wirkt wie ein Versuch, die auseinanderstrebenden Tendenzen der vorausgegangenen romantischen 4. Sinfonie und der pathetisch, architektonisch streng gehaltenen 5. Sinfonie auszugleichen. Bruckner schreibt seine „Sechste“ in der Zeit zwischen 1879 und 1881, in einer Zeit, in der sich auch die materiellen Lebensverhältnisse des Komponisten konsolidieren. Die Ernennung zum „wirklichen Mitglied der Wiener Hofkapelle“ im Februar 1878 - Bruckner ist 54 Jahre alt - bringt endlich eine gesicherte finanzielle Lebensgrundlage. Am 15. Oktober 1882 schreibt er an seinen Freund Leopold Hofmeyr: „Die Wiener Philharmoniker haben nun meine 6. Symphonie angenommen, alle übrigen Symphonien von anderen Componisten abgelehnt. Die Philharmoniker fanden an dem Werk solches Wohlgefallen, daß sie heftig applaudierten und einen Tusch machten.“ Zur öffentlichen Aufführung kommen drei Monate später nur die beiden Mittelsätze. Der Kritikerpapst Eduard Hanslick und seine Kollegen sparen nicht mit vernichtender Kritik. Bruckner gerät durch seine Sympathie für Richard Wagner, dem er seine 3. Sinfonie widmete, zwischen die Fronten des unerbittlich geführten Streits zwischen den „Wagnerianern“ und den Anhängern von Johannes Brahms. In den „Signalen für die musikalische Welt“ heißt es im Februar 1883: „Die zwei Symphoniesätze von Bruckner hatten dieselben Licht- und Schattenseiten wie alles von diesem hochgeschätzten Musiker bisher Gebotene: überraschend geniale Gedanken und glänzende Instrumentationen neben Mangel an logischer Verarbeitung und übertriebenem Ausspinnen; beim Anhören dieser Musik fühlt man sich wie von schwerem Traum umfangen, vergebens suchend, den Knäuel von leuchtenden Bildern zu entwirren.“ Hinzu kommt, dass Bruckner, seine einfache, bäuerliche Herkunft nie verleugnend, trotz zunehmender Erfolge, zeitlebens als skurriler Sonderling gilt und nie Anschluss an die Wiener Gesellsaft findet. Erst 1899, nach dem Tod Bruckners, wird die 6. Sinfonie unter Gustav Mahlers Leitung in Wien vollständig aufgeführt. Doch auch Mahler misstraut der kompositorischen Qualität des Werks und nimmt etliche Kürzungen und Retuschen in der Instrumentation vor. Nach der gedruckten Originalpartitur erklingt die Sinfonie erstmals 1935 unter dem Dirigenten Paul van Kempen.
Statt mit einem Streicher-Tremolo, wie sonst bei Bruckner üblich, beginnt der erhabene erste Satz Maestoso mit einem scharfen Rhythmus in den Violinen. Darüber entwickelt sich ein markantes Hauptthema in den tiefen Streichern, das von den Hörnern fortgesetzt wird, ein nachdenklicher Dialog, gekennzeichnet durch eine für Bruckner rhythmisch typische und auch diesen Satz beherrschende Mischung von 2 gegen 3. Dazu kommen in der Einführung ein auf-, dann wieder absteigendes, gesangliches zweites Thema und ein punktierter dritter Gedanke. Mit dem zweifachen Hereinbrechen des Hauptthemas vor der Reprise erreicht der Satz seinen glanzvollen Höhepunkt. Der zweite Satz Adagio: sehr feierlich schichtet drei Themen übereinander. Das erste beginnt in Violoncelli und Kontrabässen, dazu kommt ein Thema in den Violinen, und schließlich entwickelt Bruckner darüber noch ein drittes, eine Klagemelodie der Solo-Oboe, die vielfältig moduliert, den Satz sehr leise und wehmütig seufzend enden lässt. Das ausdrucksvolle Adagio ist das Herzstück der Sinfonie. (Die Wiener Philharmoniker führen mit diesem Satz den Trauerzug
Bruckners vom Musikverein zum Friedhof an.) Das folgende Scherzo: nicht schnell - Trio: langsam ist eine schwerelose, spukhafte Geistermusik. Im nur zweiminütigen, bewegenden Trio wechseln Pizzicati der Streicher mit fanfarenartigen Rufen der Hörner in C-Dur. Überraschend ist das Zitat des Hauptthemas der 5. Sinfonie. Der abschließende vierte Satz Finale: bewegt, doch nicht zu schnell ist eine Art große Improvisation, zu verstehen auch als ein Hinweis auf den international gefeierten Orgelvirtuosen Bruckner. Die Themen verschmelzen miteinander. Kurz vor dem Schluss erscheint noch einmal das Hauptthema des Kopfsatzes und schließt den kompositorischen Bogen vom Anfang zum Ende der Sinfonie.
Anknüpfend an die Beethovensche Tradition findet Bruckner in seinen Werken eine eigene musikalische Sprache: weiträumige Klangflächen, geprägt von den klanglichen Möglichkeiten der Register der ihm vertrauten Orgel, oft drei bis vier Themen in einem Satz, die wiederum nach allen Regeln der Kompositionskunst verarbeitet werden, ein dunkel abgetönter Orchesterklang und eine bis dahin ungehörte Harmonik kennzeichnen seine Sinfonien. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen.“ (Anton Bruckner). Lorin Maazel spricht von „Kathedralen nie gehörter Klänge“.
Bruno Walter sagt über Anton Bruckner: „Mahler in seiner Musik ist auf der Suche nach Gott, aber Bruckner hat ihn gefunden.“

Die Berliner Staatskapelle unter Christian Thielemann gestaltete einen hinreißenden Konzertabend. Beide Stücke, so unterschiedlich sie auch sind, miteinander zu kombinieren und ohne große Pause zu präsentieren, war für die Zuhörer ein Glücksfall. Thielemann, mit feinem Gefühl für den Puls der Musik, lotete die dynamische Bandbreite beider Kompositionen voll aus.
Seine inspirierende Präsenz, seine Konzentration, die sparsamen, präzisen Bewegungen übertrugen sich auf das Orchester. Auf die sensible, farbige Interpretation von „Sebastian im Traum“ mit großartigen solistischen Einzelleistungen der Holzbläser folgte eine packende Darstellung der Bruckner-Sinfonie. Thielemann denkt den Anfang vom Ende her. So erlebten wir eine Interpretation, die die Sonderstellung des Werks im sinfonischen Schaffen Bruckners deutlich macht. Das Orchester brillierte in allen Gruppen, die Streicher, mit spürbarer Freude geführt von Wolfram Brandl, fein abgestimmte Holzbläser, ein glänzendes Blech und ein kraftvoll getimte Akzente setzender Paukist!
Ein beeindruckendes Konzert wurde vom Publikum mit enthusiastischem Applaus gefeiert.