Berlin, Festival Schloss Rheinsberg, Der Freischütz - Carl Maria von Weber, IOCO Kritik, 08.08.2018
Der Freischütz - Carl Maria von Weber
Festival Kammeroper Schloss Rheinsberg - Freischütz in historischem Heckentheater
Von Kerstin Schweiger
„Ein Walzer kam. – Die Geigen – es musste eine starkbesetzte Kapelle sein – zogen süß dahin, sie sangen das Thema, ein einfaches, liebliches, in langen Bogenstrichen. Verstummten. Aber nun nahmen es alle Instrumente auf, forte, und es war, wie wenn zarte Heimlichkeiten ans Licht gezogen würden“, Kurt Tucholsky: Rheinsberg - ein Bilderbuch für Verliebte, 1912
Der rettungslos in das märkische Städtchen Rheinsberg verliebte Schriftsteller Kurt Tucholsky stand literarisch Pate für den Begriff von einem Sehnsuchtsort Rheinsberg, wie er heute auf moderne Weise die künstlerische Vision des ersten Schlossherren und Kunstförderers Friedrich II. fortleben lässt. Das Sommerfestival Kammeroper Schloss Rheinsberg besticht durch die Idee einer Verbindung eines internationalen Gesangswettbewerbs zur Förderung junger Opernsänger aus der ganzen Welt mit einem Festival. Für die Wettbewerbssieger vergibt die Kammeroper kein Preisgeld, sondern die ausgeschriebenen Partien in den Rheinsberger Opernaufführungen. Insgesamt 33 Aufführungen und Konzerte stehen 2018 auf dem Spielplan der 28. Festivalsaison, 20 junge Sängerinnen und Sänger aus 12 Nationen – alle Partien sind doppelt besetzt – bilden das Ensemble.
Als literarisch-musikalisches Traumschiff am Grienericksee haben die Preußenprinzen Heinrich und Friedrich Schloss Rheinsberg gut anderthalb Jahrhunderte vor Tucholsky als Ort der Künste etabliert. Friedrich der Große (1712-1786) habe hier die "glücklichste Zeit" seines Lebens verbracht, betonte der Preußenkönig in späteren Jahren. Friedrich holte Maler, Dichter und Philosophen nach Rheinsberg und legte so den Grundstein für den ideellen Musenhof, der dort bis heute fortlebt.
DER FREISCHÜTZ: Uraufführung 18.6.1821 Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin, Premiere Festival Kammeroper Schloss Rheinsberg 3.8.2018
Wie Friedrich es begann, ist Rheinsberg nun in 28 Sommerspielzeiten zu einem Arbeits- und Begegnungsort internationaler Künstler und Mentoren mit einem verliebten Publikum aus ganz Deutschland geworden. Möglich wurde dies durch einen einzigartigen Kulturverbund, durch eine künstlerische Aneignung des ostdeutschen Komponisten Siegfried Matthus. Matthus gründete 1990 das Festival Kammeroper Schloss Rheinsberg, das von Beginn an auf zwei künstlerischen Gleisen fuhr. Die Förderung junger Opernsänger und Musiker mit Aufführungen und Konzerten am historischen Ort der Künste. Schloss und See standen als natürliche Kulissen zur Verfügung. Auch die Landesmusikakademie im Schloss Rheinsberg ist Teil des heutigen Kulturquartiers. Es folgte 2004 das Schlosstheater als dritte Sparte der Musikkultur. Dort finden im Sommer Inszenierungen der Kammeroper statt, übers Jahr folgen Konzerte der Kurse, die in der Musikakademie stattfinden, und Gastspiele. Das Theater ist nur von außen historisch. Der Innenraum ist modern und sehr variabel zu bestuhlen und zu nutzen.
Der Wettbewerb für das Opernfestival findet jährlich im Februar statt. Über 10.000 junge Sänger nahmen bisher an den Wettbewerben teil. 82 Inszenierungen begeisterten rund 400.000 Zuschauer. In Rheinsberg beginnen Sängerkarrieren. In den Opernhäusern von Athen bis Zürich trifft man „Rheinsberger Sänger“. Darunter sind Annette Dasch, Olga Peretyatko, Nadine Weissmann und Aris Argiris. Das Festival wurde zur künstlerischen Familientradition, seit 2014 ist Frank Matthus, Sohn des Komponisten, künstlerischer Direktor. Das Amt gibt er ab Herbst 2018 an Georg Quander weiter, Nachwende-Intendant an der Staatsoper und der Linden in Berlin, an Friedrichs ehemaligem Berliner Musenhof. Als neuer künstlerischer Direktor soll er die Musikakademie und die Kammeroper Schloss Rheinsberg leiten.
Die Handlung: Ort und Zeit der Handlung Böhmen, kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges. Die Dorfbewohner feiern ein Schützenfest. Bei dieser Gelegenheit verspotten sie den Jägerburschen Max, der lange nicht getroffen hat. Max möchte Agathe heiraten, die Tochter des Erbförsters Kuno. Deshalb muss er am folgenden Tag während der fürstlichen Jagd den entscheidenden Probeschuss ablegen, wie es Tradition ist. Trifft er nicht, kann er auch nicht Agathe heiraten und die Försterei erben. Max ist in Sorge, wie er am nächsten Tag den Probeschuss bestehen kann.
Der Jägerbursche Kaspar will sich an Max rächen, da er eigentlich Agathe heiraten wollte, sie ihn jedoch zugunsten von Max abwies. Kaspar leiht Max sein Gewehr und ermuntert ihn, sein Ziel mittels schwarzer Magie zu erreichen und sogenannte „Freikugeln“ zu gießen, die immer träfen.
Beide verabreden sich dazu um Mitternacht in der Wolfsschlucht. Für Kaspar ist dies überlebenswichtig. Er hat seine Seele Samiel (dem Teufel) verschrieben, im Tausch für die alles treffenden Freikugeln. Wenn er Samiel bis Mitternacht ein anderes Menschenopfer bringt, so ist er selbst gerettet.
Im Haus des Erbförsters Kuno ist Agathes Kusine Ännchen damit beschäftigt, Agathe, die dunkle Vorahnungen und Angst um Max hat, aufzumuntern. Als Max endlich kommt, bringt er wieder keine adäquate Jagdbeute mit. Max erfindet vor Agathe Ausreden, um die Verabredung mit Kasper in der Wolfsschlucht einhalten zu können.
Vor Mitternacht bereitet Kaspar in der verrufenen Wolfsschlucht alles für das Gießen der Freikugeln vor. Noch bevor Max erscheint, beschwört er Samiel, den schwarzen Jäger, und bietet Max, Agathe und Kuno als Opfer an. Samiel soll die siebte Kugel verwünschen, so dass sie Agathe trifft.
Samiel kann aber nur über Max Macht erlangen, wenn dieser mit Kaspar die Freikugeln gießt, die Samiels Zauber unterliegen. Max erscheint und das Kugelgießen wird vom Erscheinen wilder Tiere, Geistern der Nacht, Gewitter und Sturm begleitet. Als Kaspar die letzte Kugel gießt, erscheint Samiel und greift nach Max.
Kaspar und Max haben die sieben Freikugeln aufgeteilt. Max bereitet sich mit Übungsschüssen auf den Probeschuss vor und verbraucht fast alle Kugeln. Kaspar achtet darauf, dass die siebte, die von Samiel manipulierte, in Max’ Gewehr steckt
Agathe und Ännchen warten auf Max‘ Rückkehr. Zum Probeschuss erscheinen der Landesfürst und sein Gefolge. Fürst Ottokar fordert Max auf, den Probeschuss abzulegen und eine Taube vom Baum zu schießen. Max schießt, in diesem Augenblick betreten Agathe und die Brautjungfern das Gelände. Agathe fällt, scheinbar getroffen, zu Boden doch der Eremit kann mit seinem Erscheinen die siebte verfluchte Freikugel umlenken: Kaspar wird tödlich getroffen. Max gesteht das Gießen der Freikugeln in der Wolfsschlucht. Der Eremit tritt für Max ein, Max solle nach einem Jahr der Bewährung Agathe heiraten dürfen, wird jedoch vorübergehend (?) in die Irrenanstalt gebracht und Agathe verbleibt zunächst in der Obhut des Fürsten.
Musikalisch ist die Aufführung ein (Sommernachts)Traum
Die junge Kammerphilharmonie Berlin musiziert unter Leitung von Simon Krecic. Der slowenische Dirigent ist seit Dezember 2013 künstlerischer Leiter des Slowenischen Nationaltheaters Maribor. Krecic reisst die jungen Musiker zu Höchstleistungen hin. Mit flotten Tempi arbeitet er bereits in der Ouvertüre die von Weber angelegten zwei musikalischen Welten der Düsternis und der realen Welt feinsinnig heraus. Er hält die Spannung über den gesamten Abend mit präzisen Einsätzen, einer fordernden wie zarten Dynamik. Den Sängern bietet er eine sichere zügige Hand, lässt ihnen Raum für Nuancierungen und hält die Ensembles straff zusammen. Er lenkt das gesamte junge Ensemble auf wunderbar leichte Weise durch den Abend.
Dabei ist die notwendige Tontechnik zwiespältig, weil in dem offenen Raum unverzichtbar, insbesondere jedoch in der Verstärkung hoher Stimmen gelangt sie teilweise an Grenzen. Tenor Johannes Grau singt in der Premiere die Partie des Max. Sein Tenor hat ein angenehmes Timbre und Strahlkraft mit klaren Höhen, die ausgezeichnete Diktion wird seiner Rolleninterpretation als Intellektuellem im Jägerkorsett gerecht.
Johannes Schwarz gestaltet mit kernigem Bass und markigen Phrasen seinen gesangs- und Dialogpart in der relativ kleinen Rolle des Höllenpartners Kaspar. Jerica Steklasa ist ein patentes Ännchen mit leichtem, flexiblem, sehr höhensicheren Sopran. Strahinja Djokic gestaltet als Doppelrolle den Eremiten und Samiel mit profundem Bass. Mit angenehmen Stimmen klingen Chorsolisten, Brautjungfern, Kuno, Ottokar und Kilian mühelos über das Orchester.
Der größte gesangliche Gewinn des Abends ist jedoch Mima Millo als Agathe. Die junge israelische Sopranistin wird mit ihrem dunkel timbrierten hochlyrischen Sopran allen Klangfarben von Webers musikalischer Vorstellungskraft gerecht. Mit traumsicherer Höhe gelingt ihr der Wechsel zwischen atemberaubendem elegischen Pianissimo und frischer Dynamik mühelos.
Inszenierung und Setting
Regisseur Bruno Berger-Gorski orientiert sich in seiner Interpretation an der Vorlage zum Libretto, dem ersten Band des Gespensterbuches von August Apel und Friedrich Laun, einer Sammlung von Geister- und Spukgeschichten von 1810. Darin findet sich auch die Sage von der „Jägersbraut“, die - anders als in Webers Oper - nicht zum Happy End führt. Dort strandet der Jägerbursche Max, der eigentlich ein Schreiber ist und mit der Teufelskugel seine Braut erschießt, schließlich im Irrenhaus. Die Szenen der Oper spiegeln seine Erinnerungen und Alpträume wider.
In der szenischen Umsetzung erklärt der Regisseur die Szenenfolge zu einem permanenten Albtraum und das Protagonistenpaar Max und Agathe von Beginn an für verrückt oder zumindest psychisch labil. Max ist ein introvertierter Denker, Agathe scheint schwermütig-depressiv. Früh erscheint medizinisches Personal auf der Szene (Krankenschwestern mit Rotkreuzkoffern folgen den Akteuren auf jedem szenischen Pfand). Dazu erfindet die Regie für Jäger und Jungfern eine Vielzahl von Gelegenheiten und Requisiten, mit denen sie den immerwährenden Albtraum mit modernen Requisiten ins Heute versetzt. Da erscheint ein makabres Orchester aus Skeletten und Totenköpfen, das auf Knocheninstrumenten spielt, Sado-Maso-Gestalten in Leder scheinen dem Kit Kat Club entstiegen und bieten den Chorsolisten Gelegenheiten für eine groteske Lasziv-Choreografie, die stets das Anrüchige sucht (und platt nicht findet). Ännchen, die Spielmacherin, gönnt sich bei so viel Düsternis schon mal eine flotte Shisha-Pfeife. Das medizinische Personal trägt mit dem Gauland-Zitat „Wir werden sie jagen“ das Grauen auch auf dem Rücken der Kostüme. Nach Bildzitaten von Bismarck bis Helmut Kohl tritt in der Wolfschluchtszene Agathe sogar als Angela Merkel mit Perücke und Hand-Raute auf. Max endet hier konsequenterweise in der Zwangsjacke, die passive Agathe wird vorerst der Obhut oder Willkür eines militärischen Herrschers mit eindeutigen Absichten überlassen.
Regisseur Bruno Berger-Gorski bezieht sich so jedoch auf den nach der Uraufführung 1821 geprägten Begriff einer deutschen Nationaloper in einem schwer nachvollziehbaren szenischen Sinne. Selbst wenn die Regie mit dem Bezug zu heutiger Stimmung und Politik hier möglicherweise vergleichbare Befindlichkeiten erkennen wollte, ist das so nicht zu Ende oder zu kurz gedacht.
Auch das von Christoph Rasche konzipierte Bühnenbild fällt angesichts der natürlich gegebenen Möglichkeiten mit großen alten Bäumen im akkurat gestutzten Heckentheater doch recht karg aus. Ein mit Jagdtrophäen behängter Rahmen auf einer Schräge, ein Glaskubus am rechten Rand. Das Lichtdesign kommt erst mit fortschreitender Dunkelheit im zweiten Teil zum Tragen, auch hier herrscht außer in der quietschbunten Wolfschlucht eher Zurückhaltung.
Das Kostümbild nach Knut Hetzer setzt Sigrid Herfurth um. Im Stilmix dominieren moderne Accessoires auf historischen Kostümen. Chorsolisten und Statisten treten als Rotkreuzschwester oder Pflegepersonal, Ledergestalten auf, Militaria (ein eisernes Kreuz auf Kaspers Brust, der Fürst in Uniform) sind ebenfalls Teil des Kostümkonzepts. Agathe trägt Strickjacke und Morgenmantel zum Brautkleid.
Der Ansatz einer musikalisierten Depression liegt gespiegelt in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte nicht ganz fern. Als Ort und Zeit ist im Libretto zum Freischütz Böhmen um 1640 angeführt. Direkt nach dem 30jährigen Krieg verfielen ganze Völker in verwüsteten, leergefegten Landstrichen in eine den verheerenden Folgen des Kriegstobens geschuldete Depression. Auch zur Entstehungszeit der Oper war die mit napoleonischen Eroberungswillen in weiten Teilen Europas einhergegangene Depression noch nicht lange überwunden. Erst der Sieg über Napoleon 1812 gab einem identistätstifenden Streben der deutschen Einzelstaaten nach Verbundenheit nach langer Depression in Fremdherrschaft Aufschwung. Weber landete mit seinem romantischen Sagenstoff und einer musikalischen Zeichnung, die den vorherrschenden Mustern der italienischen Oper einen neuen Opernbegriff entgegensetzte. Mit Volksliedhaften Chören und gesprochenen Dialogen zwischen den Arien und Ensemblenummern präsentierte eine einen neuen Ansatz. Der Skeptiker Heinrich Heine erkannte diese neue Qualität an: „Haben Sie noch nicht Maria von Weber’s ‚Freischütz‘ gehört? Nein? Unglücklicher Mann! Aber haben Sie nicht wenigstens aus dieser Oper ‚das Lied der Brautjungfern‘ oder ‚den Jungfernkranz‘ gehört? Nein? Glücklicher Mann!“
Und schnell wurde der Begriff von einer deutschen Nationaloper laut, zielführend in Richtung eines verbundenen deutschen Staates - Oper als politisches Instrument. In einer Besprechung aus der Uraufführungszeit heißt es: „… wer kein Vaterland hat, erfinde sich eins! Die Deutschen haben es versucht auf allerlei Weise, … und seit dem Freischützen tun sie es auch mit der Musik. Sie wollen einen Hut haben, unter den man alle deutschen Köpfe bringe. Man mag es den Armen hingehen lassen, dass sie sich mit solchen Vaterlandssurrogaten gütlich tun.“ (Ludwig Börne, 1822)
Nicht umsonst fand die Berliner Uraufführung am Jahrestag der Schlacht von Waterloo (1815), der Niederlage Frankreichs durch englisch-preußische Allianz, dem 18. Juni 1821 statt.
In Rheinsberg kann aber das ambitionierteste Regiekonzept die Theatermagie des Ortes nicht übertreffen. Regie führt hier allein die Natur. Die grünen Hecken des Theaters, die die natürliche Bühneneingrenzung bilden und akkurat gestutzt Auftritte und Abgänge steuern, sind ein historisches Naturwunder, gestaltet 1758 von Baron von Reisewitz. Punktgenau setzen vom See aus vorüberziehende Nachtvögel ihre Rufe während der Ouvertüre ab. Die hohen Bäume um das Heckentheater bewegen im leichten Abendwind ihre Kronen während der Wolfschluchtszene vor schwarzem Himmel. Selbst das Nachtfalterballett im Licht der Scheinwerfertürme scheint einer geheimen Choreografie zu folgen.
„Und sie gingen durch den dämmerigen Park, in dem die Baumgruppen erdunkelten, sich schwärzlich auseinanderschoben… Der Himmel war am Nachmittag schimmernd klar gewesen – noch spannte er sich wie ein ungeheurer Bogen von Osten nach Westen, aber nun hatte er eine dunkle Färbung angenommen, er war fast schwarz, und weiße Wolkenflecken zogen rasch unter ihm dahin“, Kurt Tucholsky, Rheinsberg, ein Bilderbuch für Verliebte, 1912
Premiere: 3. August 2018, 19.30 Uhr Heckentheater Rheinsberg Weitere Vorstellungen: 10., 11., 12. August 2018
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