Berlin, Deutsche Oper Berlin, La Sonnambula - Ein Alpentraum, IOCO Kritik, 15.02.2019
La Sonnambula im Zauberberg
- Ein Alb/p-Traum nach Vincenzo Bellini -
von Kerstin Schweiger
„Ich steh mitten auf ‚ner Alm, Heugabel in der Hand, mir ist das neu, weil ich mich gerade noch im Bett befand. Ich träume offenbar im Tiefschlaf vor mich hin, guck mich erstmal verschlafen um, wo ich wohl bin. Dunkle Tannen, grüne Wiesen und Sonnenschein. Ach, nee, bloß nicht, ich muss in den Alpen sein. Oh, Gott, ich hab ‘nen Alpentraum, es ist alles so furchtbar, ich hab ‘nen Alpentraum. Weck mich auf, weck mich auf, Weck mich auf!“
Songtext von Weber-Beckmann „Alpentraum“
Die majestätische Weite der Bergwelt ist als hermetischer literarischer Ort bekannt. Thomas Manns Zauberberg versammelt in den Schweizer Alpen 1924 eine geschlossene Gesellschaft als Zwangsgemeinschaft in erhobener Lage, in einem Sanatorium. Johanna Spyris Welterfolg Heidi von 1883 setzt Stadtleben in Frankfurt und das entlegene Landleben in den Schweizer Alpen gegeneinander und thematisiert dabei sogar Heidis Schlafwandelsymptome aus Heimweh nach den Bergen.
Knapp 50 Jahre zuvor siedelte Bellini zusammen mit seinem Librettisten Felice Romani LA SONNAMBULA in einer entlegenen Bergwelt an, in deren verschlossenen Grenzen seltsame Dinge vor sich gehen.
Worum geht es? Amina, mittellose Waise, ist verlobt, hat gar schon den Ehevertrag unterschrieben, ist aber noch nicht mit ihrem Elvino vor den Altar getreten. Aus einfachen Verhältnissen kommend, wird sie den reichsten Bauern im Dorf heiraten. Als sie nachts im Schlafzimmer des inkognito heimgekehrten Grafen Rodolfo aufwacht, zerbricht die trügerische Idylle: Amina ist sich keiner Schuld bewusst, doch Elvino löst die Verlobung auf und kehrt zu seiner verflossenen Geliebten Lisa zurück. Erst als Amina der versammelten Dorfgemeinschaft wie ein Geist erscheint, wird ihre Unschuld offenbar: die Dorfgemeinschaft realisiert, was passiert ist: Schlafwandelnd war sie nicht Herrin ihrer Sinne. Aus der Trance erwacht, findet sich Amina als Braut Elvinos wieder.
Als Bellini eine ganze Handlung um eine Schlafwandlerin herum entwarf, war der Sonnambulismus – das Schlafwandeln als pathologischer Befund jedoch noch nicht erforscht. Erst 1843 wurde eine erste medizinische Aufzeichnung zu diesem Thema veröffentlicht: „Mittheilungen über die Sonnambüle Auguste K.“ von Johann Karl Bähr in Dresden veröffentlicht. Zuvor wurde das Schlafwandeln als Geistererscheinung oder Wahnsinn gesehen. Eine psychologisch gestützte Betrachtungsweise entwickelte sich erst Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts.
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Die Geschichte wirft jedoch weitere Fragen auf: das Verhältnis zwischen Adel und Volk, eventuell sogar die überkommene Tradition eines ius primae noctis, ist der Figaro-Graf ein Verwandter im Geiste des Grafen Rodolfo, sind die die pragmatischen Frauenfiguren in LA SONNAMBULA Schwestern von Gräfin und Susanna? 1831 lag die Französische Revolution noch nicht lange zurück. In dieser Zeitenwende zogen sich die Bürger ins Private zurück. Der Eskapismus machte auch bei den erdachten Figuren und Schauplätzen in Theater und Oper nicht halt. Angesichts privater und politischer Widrigkeiten flüchteten sich auch Opernfiguren in andere Geisteszustände: Es wimmelte von Geistern, Untoten, Wahnsinnigen und Somnambulen. In Bellinis LA SONNAMBULA verunsichert ein Gespenst die Einwohner im Schweizer Bergdorf. Erst im Laufe der Handlung wird sich herausstellen, dass es die junge Amina ist, die nachts durch das Bergdorf irrt.
Vincenzo Bellini schrieb die Oper 1831, im gleichen Jahr wie auch seine berühmteste Oper NORMA. In der Aufführungstradition dieser Werke aus der Belcanto-Epoche legten Publikum und Produzenten lange einen starken Fokus auf die musikalische Seite dieser Werke, mit einer Konzentration auf die Stimme und das Können der Sängerinnen und Sänger im Interesse eine sogenannten Belcanto-Tradition, die als Schöngesangoper zu wörtlich genommen wird. Denn die Schönheit der Melodien verstellt den Blick auf Konflikte und tieferliegende Schichten der Handlung. Das Drama findet im Mikrokosmos der Vorstellungswelt der handelnden Figuren statt. Diese persönlichen Dramen in der und mit der Musik sichtbar zu machen, ist das Anliegen des Regie-Duos Jossi Wieler und Sergio Morabito.
Die dünne (Berg-)Luft, wenn es um vermeintliche Untreue, Überschreiten von Standesgrenzen und weitere Grenzgänge in einem abgelegenen streng gestrickten dörflichen Mikrokosmos und die Enge einer solchen traditierten Gemeinschaft geht, bekommen die Protagonisten in deutlich zu spüren. Wieler und Co-Regisseur Morabito legen das Unausgesprochene, das hinter dem Stück schlummernde frei, befördern das akzeptiert Unausgesprochene hinter der verschlafenen Bergdorffassade ans Tageslicht.
Sie erzählen die Geschichte mit einer fundierten dramaturgischen Begleitung durch Lars Gebhardt handfest und heutig so: Mit schlafwandlerischer Sicherheit landet die allseits geschätzte junge Frau Amina, ein Waisenkind, durch eine pathologische Besonderheit im bisher größten Fettnäpfchen ihres Lebens. Kurz vor der Hochzeit mit ihrem Traummann Elvino, dem reichsten und attraktivsten Junggesellen weit und breit, vermasselt Amina sich und ihrer ehrgeizigen Ziehmutter Teresa in einem nächtlichen Alleingang wider Willen erstmal die gute Partie. Sie schlafwandelt zielsicher in das Gästebett des regionalen Grafen, der nach langer Abwesenheit zurückkehrt und in Lisas Gasthaus Quartier genommen hat. Obwohl dort nichts passiert ist, was ihre Hochzeit mit Elvino in Frage stellen könnte, interpretiert die Dorfgemeinschaft einen Fehltritt mit dem Grafen, ein gefundenes Fressen und interessante Abwechslung für alle. Dorfbewohner.
Aminas größte Neiderin, die proletenhafte Wirtshausbesitzerin Lisa, mit Pullover und Hirn aus Mohair-Wolle, herauswachsendem Haaransatz, prekären Manieren und einem sonnigen Herzen mit Schnauze, nutzt die Gunst der Stunde und macht sich prompt mit Elvino auf den Weg zum Altar. Nicht ohne ihrem Dauer-Verehrer, dem smarten Alessio, mit einem kräftigen Tritt vor das Macho-Schienbein endgültig den Laufpass zu geben.
Alles vor den Augen der plump-schlauen Dorfgemeinschaft, die sich im Dorfgasthaus das Leben der anderen auf der Lästerzunge zergehen lässt. Grenzen verschieben sich, Strukturen, die Halt geben, brechen auf. Alles vollzieht sich vor der Augen und Ohren der größten Instanz vor Ort: der Dorfgemeinschaft, die in dumpfer Eintönigkeit stehengeblieben ist. Amina steht an der Schwelle zum Erwachsensein, ihr bisheriges Leben als Ziehtochter einer umtriebigen Mutter würde sich mit der Heirat in eine andere soziale Ebene komplett ändern. Die Gastwirtin Lisa versinkt im tristen Alltag, sie verzweifelt an der Eintönigkeit des Seins. Teresa, Aminas Ziehmutter, wittert den Karrieresprung zur reichen Schwiegermutter. Der Graf kehrt aus der Stadt zurück in die Berge, um alte Geschichten oder Beziehungen aufzuarbeiten.
Graf Rodolfo, der Amina gern wach in seinem Bett gesehen hätte, jedoch die pathologische Seite ihres Ausflugs erkennt, bleibt fair und klärt die Gemeinde über Aminas Sonnambulismus auf. Elvino springt über seinen Schatten und bekennt sich zu Amira als sie erneut schlafwandelnd im Gastraum erscheint. Amina erwacht und findet sich dort wieder, wo die Geschichte anfing. Doch an die Unbeschwertheit des Anfangs kann keiner der Protagonisten anknüpfen, das Happy End schmeckt schal, ein Alpentraum – für alle Beteiligten.
Kongenial wirkt der von Anna Viebrock entworfene Bühnenraum. Ein herunter gekommener Landgasthof. Der riesige hallenartige gewölbte Gastraum lässt an Trostlosigkeit kaum zu wünschen übrig. Schwere Holzschränke, Stromzähler, kahle Glühbirnen und vollgestopfte und nicht geleerte Briefkästen lassen ahnen, dass sich das Dorfleben komplett an diesem Ort abspielt, Fenster oder Alpenpanorama gibt es nicht. Hier wird das Äußere nach innen gekehrt.
Bellini gibt dieser Sichtweise recht. Der Komponist setzte Koloraturen und Verzierungen sparsamer ein als in seinen anderen Opern. Selbst in den Nachtwandelszenen Aminas – die durchaus als „kleine Schwestern“ der großen Wahnsinnsszenen wie z.B. in Donizettis LUCIA DI LAMMERMOOR zu verstehen sind – wird die Koloratur nie zum Selbstzweck eingesetzt: Der Komponist konzentriert sich hier ganz darauf, den Gefühlen der Protagonistin nachzuspüren.
Die Mezzosopranistin Helene Schneiderman gibt ein furioses Hausdebüt an der Deutschen Oper Berlin. Sie zeichnet eine scharfe Charakterstudie von Aminas Ziehmutter Teresa, hält die Fäden in Richtung Heirat mit Elvino gegen alle Widrigkeiten zielgerichtet in der Hand. Ihre Ziele liegen symbolisch in der Handtasche, an der sie sich fast das ganze Stück hindurch festhält. Jede Geste sitzt, sie beherrscht in präsenter Unauffälligkeit die Szene. Was Teresa und den Grafen möglicherweise früher verbunden hat, bleibt in Blicken und szenischen Andeutungen unklar.
Venera Gimadieva in der Titelpartie der Amina vereint innigen Schmelz, zartes Piano und großzügige Geläufigkeit in der an Koloraturen reichen Titelpartie. Fragil in der Darstellung, ist sie von klarer Präsenz in sich ruhend, aber nicht fatalistisch dem Geschehen ergeben.
Der mexikanische Tenor Jesús León als Elvino beherrscht alle Belcanto-Techniken. Mit elegantem hellem Tenor präsentiert er ein differenziertes Rollenverständnis des in tiefe Verwirrung fallenden Elvino, der mit einem Herz aus Gold aber wenig Standhaftigkeit gegenüber der fordernden Gemeinschaft und vor allem gegenüber Amina zeigt.
Alexandra Hutton als Gastwirtin Lisa ist der große Gegenentwurf zur fragilen zögerlichen Gestalt Aminas. Sie signalisiert einen kommenden selbstbewussten Frauentypus. Ihr heller Sopran lässt die vielen Verzierungen in den Gesangslinien der Rolle mühelos leuchten. Sie ist eine durch und durch heutige Figur, Prekariat pur, Herz mit Schnauze. Andrew Harris als ihr Liebhaber Alessio gestaltet einen Hipster mit geschmeidigem und durchsetzungsstarkem Bass.
Als Graf Rodolfo glänzt der kroatische Bass Ante Jerkunica. Er zeichnet mit Eleganz einen belesenen und differenzierenden Adligen an der Schwelle zur Bürgerlichkeit, mit Handkoffern ohne Dienerschaft reisend, Bücher im Gepäck, ein Kämpfer zwischen Verlangen und Anstand. Mit profundem, schönem Bass und müheloser Höhe, ergänzt er eine Ensembleleistung die nicht in Schöngesang zum Selbstzweck verfällt, sondern diesem ein spannendes Psychodrama selbstverständlich an die Seite stellt.
Der Chor der Deutschen Oper Berlin zeigt die Dorfgemeinschaft musikalisch wie szenisch als vielseitiges Charakterbild, Individuen, die in der Gruppe stark sind, inklusive Polizist und Person mit Handicap. In der Zeit eingefrorene Sonderlinge, die Druck auf Außenseiter wie Lisa und Amina ausüben, eine Instanz, an der kein Individuum vorbei kommt.
In Stephan Zilias, der in der Endprobenphase als Musikalischer Leiter einsprang, haben Chor und Ensemble einen einfühlsamen Begleiter, der mit moderaten Tempi Raum für ausführliche Gesangslinien bietet. Fein abgestimmt mit der Regie, gewährt er sogar Generalpausen für Schockmomente oder Umbauten.
Ein Alpentraum aus einem Guss. Wer daraus aufwacht fragt sich, wie es wohl nach dieser Nacht weitergehen wird
Besucherstimmen - Zur Premiere von La Sonnambula youtube Video der Deutschen Oper Berlin [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Die Deutsche Oper Berlin hat das Thema Belcanto begleitend in einem öffentlichen dreitägigen Symposium im Februar 2019 zu einem aktuellen Thema gemacht und in Vorträgen und Diskussionen unterschiedlicher Referenten die Gültigkeit des Belcanto—Begriffs ausgelotet.
Als Ideal einer Verschmelzung von Klangschönheit, Ausdruck und Virtuosität steht der Begriff „Belcanto“ seit Claudio Monteverdis L’ORFEO, also seit über 400 Jahren, für die Faszinationskraft, die vom Einsatz der menschlichen Stimme auf der Opernbühne ausgehen kann. Was „schön“ ist, entscheidet jede Generation aufs Neue. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Oper mit einem realistischeren Musikstil einen anderen Weg einschlug, änderte sich auch der Begriff des Belcanto zuletzt erneut gravierend.
LA SONNAMBULA von Vincenzo Bellini, Deutsche Oper Berlin, Premiere am 26.1.2019, weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit am 19. und 25. Mai 2019
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