Beaune, Basilique Notre-Dame, FESTIVAL INTERNATIONAL - Le Amazzoni nell’isole fortunate, IOCO Kritik, 23.07.2022

Beaune, Basilique Notre-Dame, FESTIVAL INTERNATIONAL - Le Amazzoni nell’isole fortunate, IOCO Kritik, 23.07.2022
Basilique Notre-Dame in Beaune © Peter Michael Peters
Basilique Notre-Dame in Beaune © Peter Michael Peters

FESTIVAL INTERNATIONAL D’OPÉRA BAROQUE & ROMANTIQUE

FESTIVAL INTERNATIONAL D’OPÉRA BAROQUE & ROMANTIQUE 2022, BEAUNE

LE AMAZZONI NELL´ISOLE FORTUNATO - Die Insel der Amazonen - Oper von Carlo Pallavicino (1679) Konzertante Vorstellung am 9.7.2022

von Peter Michael Peters

  • Axelle Fanyo, Sopran
  • Anara Khassenova, Sopran
  • Olivier Cesarini, Bariton
  • Marco Angioloni, Tenor
  • Éléonore Gagey, Mezzo-Sopran
  • Iryna Kyshliaruk, Sopran
  • Clara Guillon, Sopran
  • Les Talens Lyriques
  • Christophe Rousset, Cembalo & Musikalische Leitung

DIE AMAZONEN IM TRÜGERISCHEN SPIEGEL DER BAROCKEN OPER

Per la gloria…

  • Per la gloria, e per l’onore
  • È pur caro ogni martir;
  • per la Patria un cor ch’è forte
  • se rinasce in braccio a morte,
  • per la Patria io vò a morir…
  • Arie der Auralba / 2.Akt / 9. Bild (Auszug)

Ein wenig Biographie…

Carlo Pallavicino wurde etwa um 1630 in Salo, Provinz Brescia geboren und starb am 22. Januar 1688 in Dresden. Über seine Jugend und seine musikalische Ausbildung ist nicht viel bekannt. Seine erste Stelle war die des Organisten der Basilica di San’Antonio in Padua, die er im Jahre 1665 bekleidete. Im folgenden Jahr inszenierte das Teatro San Moisè in Venedig seine erste Oper Demetrio (1666), die aber erst nach seiner Abreise aus der Stadt der Dogen uraufgeführt wurde. Er wurde in Dresden in die Dienste des Kurfürsten Johann-Georg II. von Sachsen (1613-1680) als Vizemeister der Kurfüstlichen Kapelle eingestellt und im Jahre 1672 nach dem Tod von Heinrich Schütz (1585-1672), wurde er in den Rang des ersten Kapellmeisters erhoben.

Im Juni 1673 erhielt er seinen Posten als Organist in Padua zurück, er bekleidete ihn aber nur sehr kurze Zeit, denn im folgenden Jahr ging er wieder nach Venedig, wo er ab 1674 bis 1685 Chorleiter der Ospedale degli Incurabili wurde, eine musikalische Ausbildungs-Anstalt für Waisenkinder. Gleichzeitig nahm er seine Tätigkeit als Opernkomponist für die venezianischen Theater wieder auf: Ab 1678 begann er seine Zusammenarbeit mit dem neuen Teatro San Grisostomo, das von der Familie Grimani geleitet wurde und von ihm selbst mit seinem Musikdrama Il Vespasiano (1678) eingeweiht wurde. Er arbeitete sieben Jahre für diese Bühne, schrieb aber auch weiterhin religiöse Werke für die Basilica di San’Antonio in Padua.

Im darauffolgenden Jahr wurde anlässlich einer Theater-Einweihung seine Oper Le Amazzoni nell’isole fortunate (Die Insel der Amazonen) (1679) mit einem Libretto von Francesco Maria Piccioli (1659-1716) uraufgeführt: Das private Theater des Prokurators von Venedig Marco Contarini (1621-1680) auf der Piazzola sul Brenta, in dem anschließend der Komponist Domenico Freschi (1634-1710) eingestellt wurde. Noch im Jahr 1685 in Venedig erhielt der Komponist einen Besuch von Johann-Georg III. von Sachsen (1647-1691), der Sohn seines ersten Dienstherrn, der ihm die Stelle als Kurfüstlicher Kammerdiener und Kapellmeister am Dresdner Kurfürstenhof anbot. Pallavicino nahm den Posten an und reiste umgehend nach Dresden ab, wo er bis zu seinem Lebensende lebte, mit Ausnahme eines kurzen Aufenthalt in Venedig im Jahre 1687. Er starb in Dresden und sein Grab befindet sich im Kloster St. Marienstern.

  LE AMAZZONI NELL´ISOLE FORTUNATO - Konzertant - 9. Juli 2022 - Basilique Notre-Dame

Für uns endete das erste Wochenende des Festivals mit einer ausgegrabenen Rarität des Komponisten Carlo Pallavicino: Le Amazzoni nell’isole fortunate. Bei einer derartigen musikalischen Archäologie fragt man sich unweigerlich: Warum wurde das Werk seit fast 350 Jahren nicht mehr gespielt? War es nötig die Oper aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken? Warum gerade diese Oper? Denn der produktive Pallavicino komponierte mehr als 20 Opern, geschweige seine Oratorien und Messen! Also mit böser Zunge gesagt: Oper in Kilometern, wie es üblich war in dieser Zeit! Populäre Pop-Musik für das Massenpublikum maßgeschneidert! Aber vielleicht sind das auch nur Vorurteile? Auf jeden Fall sind wir neugierig! Denn der erweckende Prinz ist kein anderer als Christophe Rousset, der große anerkannte Cembalist und musikalische Leiter von Les Talens Lyriques, der mit seinen Musikern die Ausgrabung in der Schmuck-Schatulle (Rokokotheater im Neuen Palais) von Friedrich II. von Preußen (1712-1786) in Potsdam in szenischer Version auf die Bühne brachte.

Le Amazzoni nell'isole fortunate von Carlo Pallavicino - Les Talens Lyriques, Christophe Rousset youtube Les Talens Lyrique [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Starke Frauen für Venedig…

Die lyrische Kunst hat nicht immer die „Niederlage der Frau“ inszeniert, zumindest nicht vor dem 19. Jahrhundert. Die barocke venezianische Oper vervielfachte gerne die Figuren mächtiger Frauen: Denken wir nur an dieses emblematische Werk L’incoronazione di Poppea (1642) von Claudio Monteverdi (1567-1643), wie Poppea und Ottavia den Kaiser Nerone und Ottone manipulieren und das bis zu einem Mordanschlag, um somit das Schicksal Roms zu beeinflussen. In Anlehnung daran wird Agrippina (1709) von Georg Friedrich Händel (1685-1750) ebenfalls triumphal in Venedig uraufgeführt, dort sehen wir Agrippina und Poppea um die Kaiserkrone kämpfen, indem sie ihre schwachen Freier hinter spielen.

Le Amazzoni nell’isole fortunate von Pallavicino wurde 1679 kreiert und befindet sich in gleicher Zeitspanne mit diesen beiden berühmten Werken und spielt in einer langen Liste von lyrischen Dramen, die weibliche Figuren mit politischen und magischen Mächten um verherrlichte Vereinigung zu finden: Semiramide, regina di Babylon (1729) von Leonardo Vinci (1690-1730); Artemisia, regina di Halikarnassos (1657) von Francesco Cavalli (1602-1676); Tomyris, Königin der Massageten (1717) von Reinhard Keiser (1674-1739); Camille, Reine des Volques (1717) von André Campra (1660-1744), usw.

Die Amazonen erobern die venezianischen Bühnen mit donnerndem Erfolg, u.a. mit Veremonda ossia l’Amazone di Aragone (1652) von Cavalli und La Guerriera spartana (1654) von Pietro Andrea Ziani (1616-1684). Sie scheinen Pallavicino besonders fasziniert zu haben, da er ihnen neben dem Titel, der uns beschäftigt, noch zwei weitere Werke widmen wird: L’Amazone corsara, ossia Alvida (1686) und Antiope, regina delle amazoni (1689). Aber existieren die Amazonen nur in der griechischen Mythologie und in barocken Opern? Nach neuesten unmusikalischen Ausgrabungen hat man im heutigen Bulgarien und der Ukraine Gräber die Reste von jungen Frauen zwischen 13 und 30 Jahren gefunden, die an schweren Verletzungen gestorben waren. Die Grab-Beigaben waren schwere Waffen und teilweise auch wunderbarer Schmuck! Diese wilden Kriegerinnen gehörten zu dem Volk der Skythen und waren schon bekannt im klassischen Griechenland. Mythologie, Geschichte, Musik? Wahrheit oder Erfindung? Was auch immer, das gesamte Abendland und auch wir sind immer wieder fasziniert von diesen Kreaturen…

 BASILIQUE NOTRE-DAME / Christophe Rousset, Cembalo; Iryna Kyshliaruk als Florinda, Axelle Fanyo als Pulcheria © Festival de Beaune
BASILIQUE NOTRE-DAME / Christophe Rousset, Cembalo; Iryna Kyshliaruk als Florinda, Axelle Fanyo als Pulcheria © Festival de Beaune

Eine Hymne an die weibliche Stimme

Der Dirigent Christophe Rousset mit seinem verkleinerten Ensemble spielte von ersten bis zur letzten Note einfach göttlich! Die Partitur in der ersten Hälfte des Abends war wohl etwas schwach und nach der Pause blieben doch einige unbequeme Sünderstühle leer. Das barocke Feuerwerk erzündete sich aber erst jetzt! Obwohl glücklicherweise in der gesamten Oper wenige Bravour-Arien vorkamen, denn der Komponist hat mit vielen Rezitativen wunderschöne Effekte erreicht. Es war einwandfrei eine Frauenoper, denn von sieben Rollen waren vier Soprane und ein Mezzo-Sopran integriert und nur zwei armselige Männer unter den wilden kriegerischen Amazonen. Wie schon gesagt, war der zweite Teil des Werkes entschieden dramatischer in der Handlung und das auch von der musikalischen Seite. Die Langweile der barocken Kilometerware wich einem handfesten Libretto und einem phantastischen musikalischen Höhenflug. Das war Oper im besten Sinne des Wortes: Ob Barock, ob Klassisch, ob Romantisch oder Modern. Einerlei: Das war packendes Musiktheater!

BASILIQUE NOTRE-DAME / Iryna Kyshliaruk als Florinda © Festival de Beaune
BASILIQUE NOTRE-DAME / Iryna Kyshliaruk als Florinda © Festival de Beaune

Leider war das Sänger-Ensemble in der Interpretations-Qualität sehr unterschiedlich und wir wollen darauf nicht weiter eingehen. Jedoch die wohlgeschulte Stimme, dazu mit einem außergewöhnlichen kristallenen Timbre, der ukrainischen Sopranistin Iryna Kyshliaruk in der Rolle der Florinda vollbrachte wahre Wunder. Auch die kazakhstanische Sopranistin Anara Khassenova in der wichtigen Rolle der Jocasta fiel uns angenehm auf, von der Stimme und der Erscheinung: Majestätisch und Würdevoll. Extraordinäre die jugendliche satte dunkle Ausstrahlung der französischen Mezzo-Sopranistin Éléonore Gagey in den Rollen von Cillene und La Difficolta, wohl ideal in den Hosenrollen des Repertoires. Last but not least der junge italienische Bariton Olivier Cesarini als Sultan und Il Timore mit seiner samtenen Velourstimme, wohl sehr geeignet für Rollen wie Don Giovanni. Natürlich sollten diese venezianischen Opern in einer großen reichen und prunkvollen Ausstattung inszeniert werden und nicht in einer konzertanten Version, dazu in einer Kirche mit ermüdenden schmerzenden Büsserstühlen! Amen!  (PMP/19.07.2022)

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