Bayreuth, Markgräfliches Opernhaus, GLUCK FESTSPIELE 2024 - Teil I, IOCO
Bayreuth! Bei den meisten Zeitgenossen stellt sich unvermutet der Gedanke an Richard Wagners Festspielhaus ein, aber Bayreuth hat noch mehr zu bieten: das Markgräfliche Opernhaus! Und hier finden die alle zwei Jahre, so auch 2024, stattfindenden Gluck Festspiele statt.
GLUCK FESTSPIELE Teil I - Die Menschlichkeit der Mächtigen
von Ljerka Oreskovic Herrmann
Bayreuth! Bei den meisten Zeitgenossen stellt sich unvermutet der Gedanke an Richard Wagners Festspielhaus ein, aber das Städtchen hat noch mehr zu bieten. Es besitzt einen Schatz, den auch Wagner erkannte: das Markgräfliche Opernhaus! Und hier finden die alle zwei Jahre, so auch 2024, stattfindenden Gluck Festspiele statt.
In diesem Jahr 2024 stand es unter dem Motto: Die Menschlichkeit der Mächtigen. Das Libretto Pietro Metastasios La clemenza di Tito versinnbildlichte in besonderer Weise diese Fragestellung. Können Herrscher Milde überhaupt öffentlich zeigen, sollten sie sogar in besonderem Maße dazu fähig sein?! Die Textdichtung von Metastasio diente vielen Opernkomponisten als Vorlage, Michael Hofstetter, geschäftsführender Intendant der Gluck Festspiele wählte zwei aus, die gerade in ihrer Gegenüberstellung besonders reizvoll waren: natürlich Christoph Willibald Glucks Version und die von Wolfgang Amadeus Mozart.
Die Eröffnungsrede hielt Benediktinerpater Anselm Grün, in der er über die „Milde“ – nichts anderes bedeutet „clemenza“ –, Gluck und Mozart und ihre unterschiedliche Herangehensweise referierte; doch leider konnten einige im Publikum Anwesende „Milde“ nicht aufbringen – was etwas befremdlich anmutet, wenn man sich für diese Oper und ihren Inhalt interessiert –, sondern folgten einem fast kindhaften Impuls und ließen ihrem Unmut freien Lauf. Sie wollten „nur“ Musik hören, Erläuterungen dazu war ihnen offenbar überflüssiger Ballast. Pater Anselm Grüns Rede, die im ansprechenden Programmheft abgedruckt ist, endet mit der Feststellung: „Wer die Opern von Gluck und Mozart hört und erlebt, der geht anders nach Hause, mit mehr Hoffnung auf Menschlichkeit und Milde.“ Eine gültige Aussage, die der Abend ohne wenn und aber bestätigte.
Das „Dramma per musica“ war für den Eröffnungsabend nicht nur aufgrund des Namensgebers der Festspiele richtig gewählt, Hofstetters Dirigat und das versierte Barockorchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach veranschaulichten auf eindrückliche Weise, dass der Glucksche Titus keineswegs hinter dem bekannteren Mozarts zurücksteht, im Gegenteil! Wie die Musik, die einzelnen Instrumente und der Gesang das menschliche Tun trotz der „bösen Taten“ in einen glücklichen und hoffnungsweisenden Ausgang vorantreibt, ist durchaus erhebend und berührend. Die konzertante Aufführung in italienischer Sprache, klug und stimmig umgesetzt, beginnt mit einem Erzähler, der auf der linken Bühnenseite an einem Schreibtisch mit dezenter Lichtquelle sitzend, und in Zwiesprache mit dem Publikum, gleichwohl ein eingeschriebener Kommentator zu den sich anbahnenden Entwicklungen ist (anstelle der Rezitative). Der Schauspieler Thorsten Danner führt durch die Geschichte, kurzweilig und informativ. Er verknüpft nicht nur die Erzählstränge der Oper und lots auch Unkundige durch das Geschehen, die historische Figur des Titus streift er ebenso. Dieser war zwar nur kurz Kaiser – von 79 bis 82 nach Christus –, sein bleibendes Erbe, der Wiederaufbau Roms, die Verwaltungsreform, Stabilität und Wohlstand für die römische Bevölkerung wie auch die Förderung von Kunst und Kultur, wirkte noch zu Zeiten der Opernentstehung nach. Ein aufgeklärter Herrscher galt vielen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts als modern und notwendig.
Wir schreiben das Jahr 1752, Gluck ist in Neapel eingetroffen, um seinem Auftrag nachzukommen, das Libretto Arsace des Dichters Antonio Salvi zu vertonen. Doch Gluck entschied sich für Metastasios La clemenza di Tito. Wohl auch deshalb, weil ihm dieses Werk durch Johann Adolf Hasses Komposition vertraut war, zudem bot die Handlung – die Uraufführung war für den 4. November 1752 im Teatro San Carlo geplant – eine Gelegenheit, mit möglichst viel Prunk auch szenisch Eindruck zu hinterlassen. Das Datum war nicht zufällig gewählt, es war der Namenstag von Karl VII., König von Neapel, der später als Karl III. in Spanien den Thron besteigen sollte.
Das Libretto verhandelt selbstredend keine Verwaltungsvorgänge, sondern Sehnsüchte, verletzte Gefühle, auch Eitelkeiten, Rachegelüste – Verstrickungen, die die Probleme potenzieren. Auslöser ist Vitellia, Titus wird ihr, wie auch den anderen am Ende vergeben. Die Menschlichkeit obsiegt, Glucks Musik unterstreicht dieses Gefühl mit jedem Ton. Und es ist ein Fest der Stimmen – auch in dieser Hinsicht wusste der Komponist sehr genau, was sein Publikum hören wollte und bekommen sollte. Schließlich war der Musikreisende Gluck, geschult unter anderem in der Operntruppe des Impresario Pietro Mingotti, dessen Ehefrau Regina nicht nur Gluck-Partien, sondern auch die Händels sang und in London als gefeierte Diva bejubelt wurde, ein Meister der Oper. Die Uraufführung wurde zum Erfolg, der dauerhaft Glucks Ruhm begründen sollte.
Das Markgräfliche Opernhaus bietet für diese Oper den perfekten Rahmen, denn die barocke Bühne selbst ist ein einzigartiges und großartiges Bühnenbild. Rechts und links bietet es Auf- und Abgänge, trägt zur Steigerung der Dramatik bei. Hinzu kommen schöne Licht- und Schattenspiele, bei der jede Figur eine eigene farbliche Einrahmung erhält. Geschickt sind die Auftritte gewählt, als einziger wird der Herrscher einen Platz auf der Bühne erhalten – gleichwohl der Thron-Sessel am Ende leer bleiben wird. Eine Andeutung auf die kurze Regierungszeit des historischen Titus? Oder könnte ein anderer seine Stelle einnehmen, doch wird er ähnlich milde handeln? Oder beginnt der Reigen erneut? Die Aufführung belässt es dabei, es ist ein stimmungsvolles Abschlussbild für einen guten Ausgang der Handlung. Historisch gesehen stand der leere Thron oftmals als Platzhalter für den abwesenden Machthaber. (Oder hier, so ganz nebenbei vielleicht, für die Erbauerin, Markgräfin Wilhelmine, der dieses Kleinod zu verdanken ist.)
Vitellia ist die Tochter des Vorgängers von Titus und ihr steht quasi naturgemäß der Platz neben dem Kaiser zu. Dieser hat sich aber anders entschieden, er beabsichtigt Berenice aus Judäa zu heiraten, ohne den Widerstand der Bevölkerung bedacht zu haben. Vitellia stachelt Sesto, der sie begehrt und alles für sie zu tun bereit ist, zum Mord an Titus an und dadurch zwischen Liebe und Ehrgefühl hin- und hergerissen wird. Am Ende entscheidet er sich für die Tat, ohne allerdings zum Mörder zu werden. Glucks Musik beschädigt keine Figur, selbst der vermeintliche „Täter“ ist in seiner Qual menschlich und ja, auch liebenswürdig. Was kein Wunder nimmt, hatte der Komponist sie für Gaetano Majorano Cafarelli, der „Virtuoso della Real Capella“, einen vom Publikum verehrten Kastraten geschrieben.
In dieser Aufführung singt – üblicherweise eine Hosenrolle – zum ersten Mal überhaupt wieder ein Mann die Partie: Bruno de Sá. Der aus Brasilien stammende Countertenor ist exklusiver Künstler von Erato / Warner Classics. Seine jugendliche Ausstrahlung, mit seiner anfänglich (gespielten?) Nervosität und einer wunderbaren Höhe, gibt der Figur die nötige Ambivalenz. Berührend seine und die der Oper berühmteste Arie: „Se mai senti spirarti sul volto.“ Diese markiert seinen Abschied von der Geliebten, die ihn in die missliche Lage erst gestürzt hat. Denn Vitellia, von der österreichischen Koloratursopranistin Vanessa Waldhart gegeben, ist eine starke Frau, die nicht nur weiß, wie sie ihren Sesto um den Finger wickelt; ihr ausdruckstarker Sopran verleiht der (eigentlich gemeinen) Figur stimmlichen Glanz und ebenso die nötige Portion an Dramatik. Auch die anderen Mitwirkenden fügen sich – das Ensemble ist jung – hervorragend ein. Dazu gehören die britische Sopranistin Robyn Allegra Parton als Servilia, zurückhaltender, introvertierter, ihr Leiden speist sich daraus, dass über sie hinweg entschieden wird, und sie nicht die treibende Kraft ist, was auch ihrem eher lyrischen Sopran entspricht. Hannah-Theres Weigl, die bei den diesjährigen Gluck Festspielen debütiert und ab September 2024 dem Opernstudio der Wiener Staatsoper angehören wird, gibt Publio, den Präfekten der Prätorianer und eine Art „Geheimdienstchef“, schön und ausdrucksstark. Und Gluck überrascht durchaus. Dass er ausgerechnet den Staat verkörpernden Publio, der sich bei Titus für Strafen ausspricht, von einer Frau und nicht von einer tiefen Männerstimme singen lässt, ist äußerst modern. Als Annio, Freund von Sesto und seiner Schwester Servilia, ist Mezzospranistin Maria Hegele zu hören; anrührend klingt ihr Flehen:„Pietà signor di lui“. Der Tenor Aco Biščević in der Titelpartie gibt den wohlmeinenden und am Ende vergebende Herrscher, der auch szenisch seine Partie ausfüllt; als einziger darf er agieren und auf dem Thron Platz nehmen.
Dass Glucks Oper nicht nur zauberhafte Arien enthält, sondern neben der Mozartschen Version Bestand hat, zeigt sich bei der Figur der Vitellia, die er nicht als rachesüchtige Furie vorführt. Er verleiht ihr fast die schönsten Melodien. Begleitet von der Solovioline – Hofstetter hat den Klang bewusst reduziert, um dadurch eine größere Wirkung zu entfalten – wird Vitellias Innenleben als allzu menschliche Regung und ihr Leiden an den eigenen Taten nachvollziehbar, ihre bösen Absichten abgemildert; die leidende und gutwillige Servilia wird hingegen von Solo-Holzbläsern begleitet, was ihrer Figur eine dunklere Aura verleiht. Gluck vermag immer wieder zu überraschen, Erwartungen geschickt zu umgehen und zum Staunen zu verführen. Eine Wiederentdeckung! Das Verdienst gehört Hofstetter und dem Barockorchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach, die die Musik von Gluck so eindrucksvoll zum Klingen bringen und uns in eine vergangene Zeit entführen. Und natürlich dem gesamten Solisten-ensemble, das ebenfalls und zu Recht vom Publikum gefeiert wird.
Konzert Valer Sabadus - Markgräfliches Opernhaus
Musik von Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck bestimmen den Konzertabend im Markgräflichen Opernhaus. Die Komponisten, fast drei Jahrzehnte trennen sie, trafen in London aufeinander. Der aus Halle an der Saale stammende Händel war in London schon längst zum verehrten Komponisten avanciert und Engländer geworden. Gluck dagegen, aus der Oberpfalz gebürtig und gerade 32 Jahre alt, hatte seine Reform der Oper noch nicht entwickelt. Händel hatte gesundheitliche und auch berufliche Probleme der vergangenen Jahre hinter sich, als Gluck 1745 im Gefolge des Fürsten Lobkowitz in London eintraf. Seine Oper La caduta de’ giganti (Der Sturz der Giganten), durchaus passend nach den politischen Turbulenzen, für die Wiedereröffnung des King’s Theatre im Januar 1746 aufgeführt, erging es wie Händels Hercules oder Belshazar wenige Jahre zuvor, der erhoffte große Erfolg und die Rettung der italienischen Oper insgesamt blieben aus.
Der aus Südafrika stammende Countertenor Valer Sabadus führt uns musikalisch durch einen Abend mit Arien aus den Opern von Händel und Gluck. Im ersten Teil erklingt der Barockmeister aus London, nach der Pause folgten Gluck-Arien. Händels Ouvertüre zu Giulio Cesare in Egitto eröffnet den Konzertabend; die Oper entstand 1724, da war Gluck gerade einmal zehn Jahre alt. Sabadus präsentiert Arien aus Imeneo und Giulio Cesare. Die Ouvertüre zur Oper Ariodante leitet zu „Scherza, infida“ der Titelpartie über, in der Ariodante von tiefster Verzweiflung singt. Sabadus’ Klangfarbe und Gestaltungskraft trägt den Schmerz dieser Arie. Der erste Teil endet mit „Venti turbini“ des Rinaldo aus der gleichnamigen Oper.
Nach der Pause ist erneut zuerst das Orchester an der Reihe und lässt Glucks „Sinfonia“ aus der Oper Antigono erklingen. Es folgen Arien aus den Opern La Semiramide riconosciuta, Paride ed Elena und aus der bekanntesten Oper Orpheus und Eurydike. Natürlich darf das berühmte Klagen „Ach, ich habe sie verloren“ von Orpheus nicht fehlen, Sabadus’ Interpretation löst frenetischen Jubel aus und lässt diesen Konzertabend insgesamt zu einem Vergnügen werden. Der Countertenor versteht es außerordentlich gut, mit seinem weichen Timbre Glucks und Händels Zeitgenossenschaft nahe zu bringen, seine Textverständlichkeit ist angesichts der vielen Koloraturen beeindruckend. Auch weil Sabadus sehr genau weiß, wovon er singt, um den passenden Gefühlseindruck und den Emotionen freien Lauf zu lassen versteht; unterstützt wird er zuverlässig und gekonnt vom Barockorchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach unter der musikalischen Leitung von Michael Hofstetter.
Nachtkonzert: Time stands still - Schlosskirche Bayreuth
Das zu später Stunde angesetzte Nachtkonzert in der vollbesetzten Bayreuther Schlosskirche, gegenüber dem Markgräflichen Opernhaus gelegen, widmet sich der Musik des (Früh)Barock des 17. und bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Erzähler ist diesmal ein Tänzer, Alberto Pagani, der die beiden Gesangssolisten – auch zueinander – führt und begleitet. Aco Biščević singt zuerst von der Empore, während Hannah-Theres Weigl unten am Altar auf ihren Einsatz wartet. Unterstützt werden die beiden von Bastian Uhlig am Cembalo und dem Lautenisten Stephan Rath.
Uhlig studierte am Königlichen Konservatorium Brüssel und an der Franz Liszt-Musikhochschule Weimar und ist für sein vielseitiges Wirken als Cembalist und Organist – obschon erst 26 Jahre jung – mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet worden. Rath wirkte in über 150 Opernproduktionen mit; als herausragender Lautenist kennt er nicht nur das Repertoire, sondern auch die verschiedenen Instrumente und die jeweiligen Spieltechniken von der Renaissance bis zur Frühklassik. Zudem ist er Professor für barocke Kammermusik und Projekte in der Fachrichtung Alte Musik an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Dass beide hervorragende Musiker sind, hatten sie bereits in der Titus-Aufführung und dem zuvor gegebenen Konzertabend bewiesen; sie musizieren konzentriert – trotz der späten Stunde –, gut aufeinander abgestimmt und geben den musikalischen Rahmen vor, in dem sich die Gesangsstimmen erst richtig entfalten können.
Biščevićs hoher und klangvoller Tenor kommt in der Schlosskirche vollkommen zur Geltung und hat in Sopranistin Hannah-Theres Weigl eine exzellente Partnerin. Zurückgenommen in der Darstellung, aber vokal äußerst präsent. Beide erzählen von mehr oder weniger erfüllten „Liebes-Geschichten“ von John Dowland, Henry Purcell, Georg Friedrich Händel, Christoph Willibald Gluck, Giulio Caccini, Luigi Rossi und Claudio Monteverdi. Mit „Time stands still“ – das Titelgebende Lied von Dowland – beginnt das Nachtkonzert.
„Žute dunje“ („Voljelo se dvoje mladih -Two youngs were in love“), ein traurig-schönes Liebeslied aus Bosnien-Herzegowina, ergänzt und fügt sich zum Abschluss – erstaunlicherweise oder gerade aufgrund der musikalischen Gattung – gut in das Programm. Die Sevdalinka gehört zur Musiktradition Bosnien-Herzegowinas und reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück; ähnlich der portugiesischen Saudade ist ihre Stimmung zumeist melancholisch und schwermütig. Schön verkörpert von Hannah-Theres Weigl und Aco Biščević, die das nicht zueinanderfindende Liebespaar spielen, von ihm besonders feinfühlig und bewegend vorgetragen.