Bayreuth, Bayreuther Festspiele, Der Wagnerianer - Das eigenartige Subjekt, IOCO Aktuell, 25.07.2023

Bayreuth, Bayreuther Festspiele, Der Wagnerianer - Das eigenartige Subjekt, IOCO Aktuell, 25.07.2023
Bayreuth Festspielhaus © Lothar Spurzem
Bayreuth Festspielhaus © Lothar Spurzem

Bayreuther Festspiele

Der Wagnerianer - Phantom oder  Phantasmagorie

- Auf der Suche nach einem eigenartigen Subjekt - zum Beginn der Festspiele 2023 -

von A. Schneider

Lässt in diesen Tagen jemand beiläufig die Bemerkung fallen, ein Besuch der Bayreuther Festspiele sei beabsichtigt, wird er wahrschein­lich zu hören kriegen:  „Nach Bayreuth wollen Sie? Sie sind sicherlich Wagnerianer?“ Entfällt die Antwort zugunsten der Gegenfrage, was der Betreffende sich wohl unter einem Wagnerianer vorstelle, heißt es zumeist: „Na ja, das sind die Leute, die jedes Jahr im August dorthin pilgern, um sich die langen und lauten Opern des Richard Wagner zu Gemüte zu führen. Wie die das aushalten, bleibt mir schleierhaft.“

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Fünf Korrespondent*innen (MH, KH, UR, UL, AS) begleiten die Festspiele 2023 für IOCO

Vernachlässigen wir den Wert solcher Aussage und verlegen uns lieber darauf, dieser ominösen Person, dem Wagnerianer, nachzuspüren. Keinesfalls nämlich soll der Fehler begangen werden, den Wagnerianer lediglich für eine fiktive Figur, für eine Projektion zu halten. Eine, die von Anti-Wagnerianern ausgeheckt, von ihnen benötigt wird, um, gemäß dem jeweiligen Grad ihrer Abneigung, in erster Linie den oberfränkischen Festspielhausbesucher als etwas seltsamen, bornierten, sogar fanatischen Fan des sächsischen Großmeisters anzuschwärzen.

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Unberührt davon sollte der Frage nachgegangen werden, inwieweit der Wagnerianer in der Tat irgendwo und irgendwie als Wesen existiert und ob seines mystischen Rufs sich grämt oder sich gratuliert.

Bevor wir uns daran machen, ihn schlichtweg als Phantom der Ahnungslosigkeit links liegen zu lassen, oder doch seiner "als mit uns keineswegs geistig noch sonstwie verwandte Person" habhaft zu werden, muss man stets im Auge behalten, dass Richard Wagner nicht einzig für `lange und laute’ Opern zu haften hat. Zwecks ihres Verständnisses schrieb er viele und weitschweifige Bücher, worin von ihm gleichermaßen klug und einsichtig wie kompliziert und kraus seine Absichten und Ansichten ausgebreitet wurden. Da der gute Richard, wie die Zeitgenossen überliefern, den Ruf eines äußerst redseligen Mannes genoss, war er, der federführende Kommentator seiner selbst, nicht weniger von sich überzeugt und emsig, wie als selbsternannte Autorität in ästhetischen, zivilisatorischen, politischen und sittlichen Fragen seiner Zeit.

Das Werk des toten Tonsetzers begannen die Nachlassverwalter, also dessen weibliche wie männliche Nachkommen, Interpreten, Apologeten, Jünger und Sympathisanten, sitzend zu Füßen der Witwe und Prima Donna Assoluta Cosima Wagner, gleich einer Offenbarung zu deuten. Zur Bewältigung der Daseinsproblematik schlugen sie nicht länger in der Bibel, den kanonischen Schriften der Philosophen und Denker, oder schlichter, in Meyers Konversationslexikon nach, nein sie bedienten sich lieber dieses Komponisten und Schriftstellers Gesamtkunstwerk.

Auch mit Beginn des 20. Jahrhunderts waren für Preußendeutschland und in dessen Erbfolge die Gegner der Weimarer Republik nationalistische, chauvinistische, kulturstolze, zudem böse antisemitische Denkarten charakteristisch. Dergleichen ließ sich in Wagners Schriften unschwer finden. Deren Exegeten verstanden daraus einen fatalen Geist zu destillieren, der in den Köpfen gemäß deren Ausstattung recht unterschiedlich wirkte. Manche machte er derart besoffen, um sich nachgerade als Mitwisser an jedem Weltgeheimnis zu wähnen. Andere erlebten ihr Pfingsten und fühlten sich von Wagners Ingenium geradezu erweckt, weswegen sie sich eilends zu den bereits erleuchteten Hütern seiner Hinterlassenschaft gesellten. Nunmehr empfanden sie sich einer elitären Gemeinschaft einverleibt, die jedwede Art der Kritik an ihrem Idol als Verrat, ja Blasphemie verdammte. Letztlich ging es ja um nichts weniger denn um den <Verfall der historischen Menschheit und deren Regeneration (zit. nach R.W.)

Sitz und Pilgerstätte aller sich berufen Fühlender war Bayreuth. In der Villa Wahnfried und ihrem Umfeld etablierte sich eine Art "Bayreuther Kreis", der mit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges als Missionar des Meisters, wie dieser verklärend genannt wurde, agierte: hauptsächlich zwecks Erhaltung sowie Ausbaus der Festspiele, und weiterhin um eben die Regeneration vor allem des Deutschen Geistes zu befördern. Darin waren sie später eines Sinnes mit dem Nazidrittreich, das Wagner zu seinem Säulenheiligen erhob und Bayreuth zu dessen Tempel, ihm obendrein propagandistisch und finanziell allzeit die allerbeste Dienste leistend.

 Richard Wagner in Bayreuth © IOCO
Richard Wagner in Bayreuth © IOCO

Traf man mit ihnen auf den Wagnerianer, wie er oben im Kopf unseres Bekannten und in vielen Köpfen weiterer, nicht durchgängig wohlmeinender Kritiker, sowie der Skeptiker und Verneiner herumspukt?

Ob dererlei Dissidenten in den heutigen enthusiastischen oder schwärmerischen Wagnerhörern und Bayreuthfahrern die Wiedergänger jener Methusalems der Wagner-Vergötterung entdecken wollen, wäre zu untersuchen. Aber waren denn letztere nicht mit in den Sog des Untergangs des Nazidrittreichs geraten, ersoffen und damit gleichsam in Walhall einmarschiert? Und längst aus dem Gedächtnis getilgt? Doch selbst als Überlebende war vorerst an einen Auftritt in ihrem Habitus kaum zu denken: nicht einzig Wotan, Hunding und Hagen wurde der Rauschebart abrasiert, noch viel mehr alte Bärte hatten die Wagner-Enkel Wieland und Wolfgang abgeschnitten. Als sie 1951 die Ära Neubayreuth einläuteten, hockten zwar die Altbayreuther (Wagnerianer?), nachdem sie den Meister als ihren Präzeptor Germaniae und Welterklärer definitiv verabschiedet hatten, zunächst noch schweigsam auf den angestammten Plätzen im Festspielhaus, mussten sich aber die tränennassen Augen reiben ob des "Neuerertums", das sich ihren Blicken bot. Allerdings begannen sie dann wieder leise, und im Laufe der Jahre auch lauter zu maulen über die Verhunzung von ihres Meisters Gesamtkunstwerk.

Mit einem partiell illusionslosen Theater meldete sich neuerlich die klassische Dialektik des Plansolls der Kunst: Erhebung und Aufhellung des bürgerlichen Gemüts oder dessen Verstörung und Verdüsterung: den Festspielhausbesuchern wurden 1956 die Meistersinger gleichsam ohne Nürnberg präsentiert, und 1972 sollten sie sich in der Wartburggesellschaft des Tannhäuser gespiegelt sehen. Entleerung wie Verfremdung von Szene und Kostüm brandmarkten neben den Traditionalisten auch etliche neue Wagnerverehrer als Frevel an den Intentionen ihres Idols. Höchst unwohl fühlten sie sich deswegen auf dem Grünen Hügel. Deren Protest drang so geräuschvoll an die Öffentlichkeit wie das Wehgeschrei einer dort regelmäßig aufwartenden bundesrepublikanischen Nomenklatura. In der Hysterie des Kalten Krieges griffen die betroffen schauenden Konservativen zu dem ausgeleierten Totschlagargument, im Festspielhaus wären – in aktueller Ausdrucksweise – "links versiffte" - Kräfte, sprich kommunistische Unterwanderung, am ruchlosen Werk.

Stellt mithin derjenige, der absolut seinen alten Meister Richard Wagner wiederhaben wollte (wobei ihm vermutlich eine beschwerdefreie Gestaltung und genussvolle Rezeption der Musikdramen vorschwebte) den zu denunzierenden Wagnerianer dar? Oder ist es auch bei ihm zu lange her, als dass er in unseren Tagen als solcher von den Leuten, die wolkige Vorstellungen von ihm haben, gemeint sein könnte?

Sofern man andererseits den Begriff ganz und gar nicht als Geringschätzung, gar Diskriminierung, vielmehr als Graduierung, als eine Art Salbung auffassen möchte, dann wären hier alle sich offenen Sinnes, mal affirmativ mal kritisch, die Inszenierungen betrachtenden Opernhausbesucher und Festspielliebhaber zu nennen. Jene also, die mit Wagner, dem genialen Künstler, widersprüchlichen Denker und fragwürdigen Moralisten, sich historisch und zeitnah auseinanderzusetzen bereit waren und sind, und sich auf die mal überzeugenden, mal fehl gehenden Inszenierungen seiner Musikdramen überall einlassen wollten und wollen. Und je nachdem applaudierten oder buhten.

Richard Wagner Denkmal im Berliner Tiergarten © Rainer Maass
Richard Wagner Denkmal im Berliner Tiergarten © Rainer Maass

Eine derartige Einteilung indessen, hier der alte und dort der neue Wagnerianer, liefe auf eine Klassifizierung hinaus. Bloß ihn in zwei Schubfächer einzusortieren, ehe man ihn überhaupt beim Wickel gekriegt hat, da sei der Teufel vor. Solange bis er - wohlwollende Umstände angenommen - gefasst ist, und selbstredend auch danach, sollen jedermann und jedefrau nach seiner/ihrer Fasson mit dem genialen - sächsischen Gnom -  (Thomas Mann) selig werden.

Indem wir, um ihn dingfest zu machen, die Nach-Wagner-Historie nicht sehr ertragreich durchblätterten, wird nunmehr eine Reise nach Bayreuth unabdingbar. Wenn überhaupt, könnte man ihm dort zur Festspielzeit auf den Leib rücken. Schließlich wäre, seine Existenz voraussetzend, hier sein Mekka zu verorten.

In jenen Kreisen, die den Wagneropernguckern und besonders den Bayreuth-Wallfahrern ein absonderliches Musikverständnis oder einen absonderlichen Musikgeschmack attestieren, wird gern verbreitet, subtrahiere man von Bayreuth den Richard Wagner, laute das Ergebnis schlicht: finstere Provinz. Wer auf diese Weise doppelt diffamiert, ist zweifelsfrei kein Wagnerianer, eher wäre er als Anti-Wagnerianer abzustempeln. Was keineswegs den Rückschluss erlaubt, falls letzterer damit quasi gerichtsnotorisch sei, ließe sich zwangsläufig daraus auf die Anwesenheit des ersteren folgern. Nur so leicht läuft das nicht, noch muss weiter ermittelt werden

Beim Marsch durch den verleumdeten Ort hin zum Grünen Hügel erinnern wir uns des Romanschreibers Jean Paul genauso wie des Klaviervirtuosen - und Wagners Kollegen  - Franz Liszt, beides gewichtige Geister, die hier mit anderen gleich kreativ waren wie die modernen Geistesarbeiter in der einheimischen Universität. Deren formidabler Ruf wurde bekanntlich durch des Herrn von Guttenbergs originelle, jedoch nicht originale Dissertation vorübergehend angekratzt. Vorbei. Es sorgen sich die Stadtsparkasse samt Brauereien um die Prozente, und Fußball wird immerhin in der Regionalliga gespielt. Kurzum, stabreimend und dem lokalen Heros RW nacheifernd: Bayreuth bemisst sich als ein um einen mäßigen Materialismus wie sich um die Musen mühender munterer oberfränkischer Mittelpunkt.

Kraft der Verbindung zu beziehungsreichen Zirkeln (IOCO-Redaktion!) verfügen wir über ein Billet zu den Meistersingern. Während derer langen Pausen wollen wir uns unter das ums Festspielhaus flanierende Volk mischen. Denn wo sonst, wenn nicht an diesem Ort, müsste das gesuchten Objekt herumspazieren.

Sollte es nicht einfach anhand seines Äußeren zu identifizieren sein? Beobachtung ist darum angesagt. Zwei Wochen sind seit der Premiere vergangen, die ihretwegen aufgebügelten Roben und Smokings hängen längst wieder zerknittert im Schrank. Das Publikum im Festspielhaus kleidet sich heute nicht anders als eines sonstwo im Opernhaus. Auffällig unter fast allen Unauffälligen wird eine grazile Dame (Amerikanerin?), weil sie sich von den Schuhen über das geraffte, gebauschte, gefältelte Kostüm bis zum Hütchen und den Handschuhen in flirrendem Lila präsentiert, inklusive des aufgeklappten Sonnenschirmchens, das - eine siebzehnuhrdreißig Oberfranken-augustsonne strahlt mit Kraft - kokett über dem Kopf geschwenkt, Schatten auf ihr Gesicht wirft, das mithin nahezu unerkennbar bleibt. Völlig im Schatten könnte die putzige Erscheinung stehen, sofern der Zweimetermann in fischschuppengrauem Cutawayjackett mit Hundingbart, langem, hinten zum Zopf gebundenen Silberhaar und einem Embonpoint von zwanzig Liter Fassungsvermögen, sich vor ihr aufbauen würde. Sind das die bedeutungsschweren wagnerianischen Zeichen?

Wohl kaum. Vertrauen wir nicht länger dem Aussehen und versuchen stattdessen etwas von den mutmaßlich aufschlussreicheren Gesprächen ringsum zu erhaschen. Abhören ist schließlich zeitgemäß. Vor dem Kiosk der Gastronomie reihen wir uns in die Schlange ein und lauschen der Unterhaltung zweier vor uns wartender, vernehmbar im internationalen Festspielbetrieb bewanderter Damen, diesmal immerhin in langen dunklen Abendkleidern.

„Bratwurst und Braunbier passen zu Wagner“, sagt die eine, und kramt einen Fünfzig-Euroschein aus einem buntperlenbestickten Seidensäckchen. „In Salzburg“, fährt sie fort und zieht das Beutelchen wieder zu, „bei Mozart ist sowas fehl am Platz. Zu ihm gehört eine Schwammerlpfanne und Grüner Veltliner.“

Ist das jetzt wagnerianisch gedacht?

Am Ende, an einer Salzbrezel für drei Euro kauend, grübelt man, ob wir durch deren Erwerb, der Gestehungspreis beträgt allenfalls fünfzig Cent, zu Mäzenen des Festspielunternehmens graduiert werden. Und damit geradewegs zum Wagnerianer?

Überflüssige Überlegungen hinsichtlich unseres Problems, das fortbesteht.

Die Lösung ist jetzt - hoffentlich - ein Interview: Die Wahl trifft ein offenkundig älteres Ehepaar, das auf einer der vielen Bänke sitzt, in Sichtweite von RW’s gusseisernem Großkopf, eine Schöpfung des Monumentalbildhauers Arno Breker. Die Frau löffelt buntes Kugeleis aus dem Pappbecherchen, der Mann dreht ein halbleeres Weißbierglas in den Händen.

„Entschuldigen Sie die Störung und die direkte Frage: Sind Sie ein Wagnerianer?“

„Nein! Ich bin Steuerberater aus Bottrop. Und hab’ mit Wagner eigentlich nichts am Hut. Seit fast dreißig Jahren begleite ich bloß meine Frau hierher.“

Aha.

„Darf ich Sie fragen, gnädige Frau, ob Sie eine Wagnerianerin sind?“

„Ich liebe Tannhäuser und Lohengrin. Mag auch Hans Sachs. Der Tristan, der Ring und Parsifal, das sind für mich viel zu schwere Opern.“

Eine Verehrerin, die im "Parzifal" eine Oper sieht und nicht ein "Bühnenweihfestspiel", die kann nie und nimmer eine Wagnerianerin sein. Der Meister würde sich von solcher Gemeinde gleichermaßen gekränkt und verleumdet fühlen wie einst von Friedrich Nietzsche.

Wo, um Wotans willen, spüren wir den Wagnerianer denn nun endlich auf? Hat er existiert, ist jedoch vor Zeiten bereits ausgestorben und ruht mumifiziert im Geheimmagazin des hiesigen Wagner-Museums so wie - dort indessen öffentlich - im paläontologischen Museum das Gerippe des Brachiosaurus brancai?

Und heutzutage? Handelt es sich bei ihm eventuell um ein geglaubtes Fabelwesen, ähnlich dem Lochnessungeheuer oder dem Yeti? Schlagen wir uns lediglich mit einer Legende, einem Mythos, gar einem Gespenst herum, wohingegen es den Wagnerianer im nach wie vor undefinierten Sinne längst nicht mehr gibt und er ebenso wenig neuerlich auferstehen wird? Was uns übrigbleibt, ist allein ein zweiter verzweifelter und stabgereimter Hilferuf:

Wo um Walhalls wohlgestalter Walküren willen weilt der wahnwitzige Wagnerianer? Wo?

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