Bayreuther Festspiele, Der fliegende Holländer: Betrachtungen zum Ende der Festspielzeit, 12.09.2016
"Heutzutage wäre das in Musik Setzen von Weiblichkeit, die vormals dem Tonkünstler nahestand wie nahelag, ein brisantes Unterfangen, weil die mimosenhaften Damen sich womöglich wiedererkennen und die Streichung der Oper vom Spielplan verlangen und per Justiz gewiss erreichen würde."
Bayreuther Festspiele 2016
Der fliegende Holländer - Die letzte Vorstellung
Schweifende Gedanken von Albrecht Schneider zum Ende einer Seefahrt.
Manche mögen es für besonders klug halten, wenn einer bei dreißig Grad Außentemperatur sich nicht im Bayreuther Festspielhaus - bekanntermaßen ohne Klimaanlage - der heißen Liebesgeschichte von Tristan und Isolde ausliefert, sondern lieber beim Schicksalsdrama des Fliegenden Holländers anwesend sein möchte. Die Vorstellung freilich, es könnte hier dank der Nähe des Meeres und kraft dessen Stürme, welche den ewigen Seefahrer und den Handelskapitän Daland zusammenbringen, auch ein kühlenden Wind um 1.974 Hitzköpfe im Parkett blasen, ist zwar naheliegend, wird aber der Wirklichkeit nicht gerecht.
Die dem Ozean eigene Vehemenz ist zwar in der Musik Wagners gut vernehmbar präsent, hier blitzt und donnert und wogt es ordentlich, allein auf der Bühne pfeift kein Nord-Nordwest den Matrosen durch die wohlfrisierten Haare. Mithin erreicht auch kein erfrischendes Lüftchen den Besucher. Die Naturgewalt bleibt ausgespart, falls man nicht die Liebe für eine solche ansehen will, und ihr gegenüber steht in der derzeitigen Inszenierung die kalte Gewalt des Kapitals. Die aber lässt genau so wenig die Temperatur sinken.
Kann man die Geschichte vom Fliegenden Holländer dergestalt aufbereiten? Dass die Liebe zu einem Seemann eine Jungfrau zur Selbstopferung hinreißt, damit der, zu ewiger Meerfahrt verdammt, endlich zur Ruhe kommt und sterben darf, diesen Stoff hat Heinrich Heine in dem Romanfragment Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski wiederum dem Richard Wagner gestiftet. Ich muss gestehen: mir sagt der Mythos, von Heine in sanft ironischer Tonart wiedergegeben, viel eher zu denn als Sujet einer hochromantischen, tieftragischen Errettungsoper. Es wird dem Komponisten bekanntlich zugeschrieben, seine Erlösung verheißenden und Erlösung bescherenden Frauenfiguren, wie Senta, Elisabeth und Elsa, seien, unbeschadet ihrer Herkunft aus der Sagenwelt, zu einem guten Teil Kopien jener Damen, die alltags ihm mehr oder minder zur Linderung von Liebes- und Lebensnöten verholfen hätten.
Heutzutage wäre das in Musik Setzen von Weiblichkeit, die vormals dem Tonkünstler nahestand wie nahelag, ein brisantes Unterfangen, weil die mimosenhaften Damen sich womöglich wiedererkennen und die Streichung der Oper vom Spielplan verlangen und per Justiz gewiss erreichen würde.
Besser gefällt mir die andere These, dass nämlich der gute Richard sich solchen Frauen zugewandt habe, deren Habitus in den unterschiedlichen Epochen der Beschäftigung mit Senta, Elisabeth und Elsa, Isolde nicht ausgenommen, seiner jeweiligen, nennen wir sie völlig unwagnerianisch einmal so, Primadonna entsprachen.
Halten wir uns nicht weiter mit Klatsch und Spekulation auf, denn dazu ist es im Festspielhaus viel zu heiß. Nachdem zuvor dessen von der Plastikhaut befreite und mit neuen Ziegelsteinen herausgeputzte Fassade eine bereits schwitzend ankommende, teils schwitzend flanierende, teils schwitzend im Ausschank Schampus und Bier zusprechende Menge angestrahlt hatte, macht es unsereinem genug zu schaffen, in dessen hartem wie engem Gestühl Körperpositionen zu finden, welche erstens eine Sicht auf die Szene über die Grauschädel der Vorderleute hinweg ermöglichen, und welche zweitens besonders die im Spätherbst des Daseins Angelangten nach zweieinviertel Stunden keineswegs als bucklig Männlein oder krummes Weiblein aus dem Saal schlurfen lassen.
Dilettanten in Sachen Wagner kolportieren gern, der Fliegende Holländer stehe vor allem wegen seiner kürzeren Dauer in der Gunst der Wagnerfreunde weit oben. Ohne das Gift in ihrem Gerede zu überhören, ist eines daran insofern richtig, als dessen Aufführung die Physis erheblich geringer strapaziert, misst man ihn an den himmlischen Längen von Parzifal, Tristan und Meistersinger. Um vom Ring der Nibelungen ganz zu schweigen. Wennschon der als Letzter in den Kanon der festspielhauswürdigen Opera des Meisters berufene Holländer darin als Kurzoper gelten könnte, so ist das beileibe kein Vorzug, der ihn über die Schwesterwerke erhebt. Die Gründe für den Grad der Beliebtheit dergestalt zu ermitteln und daraus irgendeine Qualität abzuleiten, ist ein Banausenakt.
Um eine Oper idiomatisch zu Gehör zu bringen, bedarf es eines Orchesters samt Dirigenten, denen sich die Musik erschließt. Um eine Oper zu Gesicht zu bringen, zu visualisieren, zeitnah gesprochen, muss sich ein solcher Regisseur an die Arbeit machen, der die Intentionen des Autors erfasst und sie unsereinem auf der Bühne als ein Stück aus unserer Welt anzubieten versteht. Die Sage vom Fliegenden Holländer ist in der Version und Diktion Heinrich Heines ein launiger Text, worin das Motiv vom "Ewigen Juden" aufgreifend die Legende des zum ewigen über die Ozeane Vagabundieren verdammten Kapitäns mit der folgenschweren Liebe einer Frau verwoben wird. Eine romantische Erzählung, die weder glücklich noch schrecklich, vielmehr mit Erlösung endet.
Für uns nüchterne Zeitgenossen ist Erlösung zu einem prosaischen Begriff geworden. Eine transzendente Bedeutung hat er noch für die Glaubenstreuen. Erlösung wird vornehmlich dann verspürt, sobald das Krachscheit von Nachbar weggezogen ist oder es sich nach einem Beinbruch wieder ohne Krücken die Treppen hochsteigen lässt. Dass ein Mädchen sich kopfüber in die Fluten zu stürzen hat, damit ein fluchender und deshalb zum unentwegten Segeln Verfluchter schließlich sterben kann, ist eine Meldung aus dem Zauberreich der Liebenden, das bekanntlich von Romeo und Julia, Abaelard und Heloise, um Tristan und Isolde nicht zu vergessen, bewohnt wird. Sie ist anrührend, solange man dieses Imperium zu Recht weit in der Vergangenheit und hinter den sieben Bergen liegend vermutet. Werden die Paare allerdings von dort in die Gegenwart und auf die Bühne befohlen, über die sie in BOSS’ Sakko oder im C&A Kostüm durch Hightech Büros und Fabrikhallen zu gehen haben, dann sollte der Kommandeur schon genaue Vorstellung von der Vorstellung besitzen, damit ihr Schicksal heute Abend dem Zuschauer gleichermaßen nahe geht.
Vorauszuschicken wäre, dass ich schon lange vor dem ersten d-moll Akkord der Ouvertüre darüber nachdachte, wie wohl der Regisseur Jan Philipp Gloger das Stück in die Moderne transportieren würde. Allein meine Fantasie ließ mich im Stich, nichts Sinnstiftendes wollte mir einfallen, womit ich ihm hätte zur Hand gehen können. Die Handlung schlichtweg dem Libretto entlang auf die Bühne zu bringen, dürfte heutzutage sogar für einen stockkonservativen Wagnerianer (Anmerkung: dies vielzitierte Wesen einmal exakt zu identifizieren wäre gewiss eine verdienstvolle Aufgabe) keine erwägenswerte Lösung darstellen. Vor dem Hochgehen des Vorhangs zog ich noch rasch im Geiste achtungsvoll den Hut vor dem Mann, der sich an diese Aufgabe gewagt hatte. Im Nachhinein allerdings muss festgehalten werden, dass der Regisseur meiner Geste mehr aufgrund seiner Tat und weniger des Resultates wegen wert war.
Die erste Szene befördert mich mitten in ein verstrebtes Gehäuse voller zuckender Lichter und blinkender Zahlen, eine Art digitalisiertes düsteres Terminal, wie geschaffen für das dunkle Business des großen und kleinen Kapitals. Hier trifft der rechnende und berechnende, mittlerweile vom einstmaligen norwegischen Handelskapitän des Librettos zum modernen Ventilatorenfabrikanten umgearbeitete Daland auf den sichtlich mit Geld und Gütern bestens ausgestatteten Kollegen Holländer. In diesem charakterlosen Ambiente regiert einzig das Geschäft, scheinen die Personen als dessen Agenten so seelenlos, so zweckgerichtet zu sein wie das Stahlgerüst rings-um. Den Holländer indessen hat die Außenseiterexistenz davor bewahrt, in einer derartigen Gesellschaft als Mensch nach und nach fragmentiert zu werden. Er kennt noch die Sehnsucht, und indem ihn Daland mit seiner Tochter Senta bekannt macht, stehen der ewig den Globus umrundende Niederländer und die junge Frau als Figuren mit einem Herzen da, das nicht einzig bei steigenden Börsenkursen schneller schlägt.
Dass solche gleichwohl von Störungen nicht freie, innige Beziehung mit beider Tod in Bild und Musik ihr Ende findet, ja finden muss, ist nach Wagners Ästhetik die Vollendung, die Verklärung wahrer Liebe und Menschlichkeit. Insofern wirkt an diesem Abend immerhin eine Absicht der Uraufführung von 1843 mit. Nicht so recht zufrieden mit dem Geschauten, führt mir der Regisseur also eine "Postpostmoderne" vor Augen, in der die Menschen sich nachgerade abhanden zu kommen drohen, wenn sie einzig dem Erfolg, dem Zweck willfahren. Denen sind auch Liebe und Mitgefühl unterworfen, die nur nützlich sind, solange sie Nutzen stiften. Eine Spur Wärme in solche eingefrorene Welt trägt lediglich die Selbstlosigkeit einer Liebe, und auch wenn sie sterben muss, so hinterlässt sie doch die Botschaft, solange das Individuum sich ihr ergebe, werde es nicht zum Automaten erstarren
Von der todtraurigen Geschichte der Senta und des Holländers verrät diese Inszenierung nicht viel, sie entwirft eher eine reichlich unerquickliche Zukunft mit apathischen Gestalten. Gewiss, meine Tränen, die aufgrund des Geschicks des Liebespaares ehedem geflossen wären, könnte ich mit gutem Grund auch an dem Abend vergießen. Schließlich bleibt trotz der verschreckenden Vision die Apotheose der Liebe im Bild. Das Theater bietet ausreichend Bühnenstücke, die keiner Interpretation bedürfen: Der reiche Alte unter der Perücke tritt im Salon mit dem Schnallenschuh seinem Diener in Kniebundhosen in den Hintern, giert nach der Jungfrau, kriegt sie aber nicht. Daran hatte der Zuschauer vor zweihundert Jahren seinen Spaß wie ein heutiger; weswegen jetzt der glatzköpfige Herr nicht Sneakers zu tragen braucht, feuert er im Direktionszimmer den Chauffeur und zwickt dabei die Vorzimmerdame in die schwarzseiden verpackte Pobacke.
Ein großes Kunstwerk ist alles andere denn musealer Natur. So wie es geschaffen wurde, steht es beileibe nicht für ewig da. Nein, es vermag in der Sprache jeder Zeit zu sprechen und muss nicht unbedingt erbauen. Geht man hernach mit schlechter Laune heim, ist es nicht zwangsläufig die Schuld desjenigen, der es in Szene setzte. Wenn mich die Vorstellung des Fliegenden Holländers wenig berührte, mag mit ein Grund dafür sein, dass bereits die ursprüngliche Geschichte, wie sie Heinrich Heine überliefert, sich für mich eher wunderlich und komisch als tragisch anhörte.
Zum Schluss bleibt die Frage: Welches waren dabei die Taten der Musik, die über jeden Tadel erhaben unter dem Dirigenten Axel Kober aus dem magischen Graben kam? Indem sie, die zeitlos ist, sich in meinen Ohren ähnlich wie die zumeist unverständliche altfränkische Sprache nicht immer den neuzeitlichen Tableaus auf der Bühne fügen will, dürfte dieser Umstand gleichfalls für ein gewisses Unbehagen an der Darbietung insgesamt zu haften haben. Immerhin, im Wissen um meine höchst subjektive, meinethalben sogar voreingenommene Betrachtungsweise des vorläufig letzten Auftritts des Holländers im Bayreuther Festspielhaus, will ich gleichwohl um ein bisschen mehr Objektivität bemüht sein. Mit ihr jetzt im Bunde bin ich nunmehr einsichtig genug dafür, anders als oben behauptet, vor dem Regisseur nicht allein ob seines Mutes zur Inszenierung, sondern ebenso des Resultates wegen den Hut ziehen zu sollen. Von IOCO / Albrecht Schneider