Athen, National Oper, DER UNTERGEHER - Th. Bernhard, IOCO
ATHEN - DER UNTERGEHER - THE LOSER - Schauspiel: Thomas Bernhard ist bekannt für seine suggestive Sprache. Er gilt neben Schriftstellern wie Günther Grass, Heinrich Böll oder Wolfgang Koeppen als einer der stärksten Prosatalente der Nachkriegsliteratur. Ein großer Meister der deutschen Sprache ..
„Der Untergeher - The Loser“: Novelle von Thomas Bernhard als Schauspiel auf der Alternativen Bühne der Griechischen National Oper, Athen; Choreographie - Intendant Ektoras Lygizos
von Seyma Doudouxi
Thomas Bernhard (1931-1989) ist bekannt für seine suggestive Sprache. Er gilt neben Schriftstellern wie Günther Grass, Heinrich Böll oder Wolfgang Koeppen als einer der stärksten Prosatalente der Nachkriegsliteratur. Ein Meister der deutschen Sprache. Was Bernhards Werke auszeichnet ist, dass er sich nicht an die Gattungen hält. Seine Schriften sind eher lange Erzählungen. Dabei gleicht der Inhalt meist einem Fragment. Lange Monologe, Wiederholungen, Monotonie, vor allem der monotone Schreibstil ist unvergesslich. In durchgehendem Blockabsatz, ohne irgendeinen Absatz, umkreist Bernhard, fast schon einer spiralförmigen Bewegung gleichend, seinen Gegenstand. Er hat eine einzigartige Fähigkeit, den Ekel vor dieser Welt und das bedauerliche Schicksal des Menschen auf ihr zu versprachlichen. Verzweiflung, Abscheu, Empörung - für all das fand Bernhard eine Sprache.
Auch außerhalb seiner Heimat Österreich, die er hasste, verabscheute und kritisierte wie kein anderer, genießt der Autor Thomas Bernhard eineinternationale Leserschaft. Doch wirklich übersetzbar sind seine Werke nicht: seine Erzählungen gelten als Sprachkunstwerke, denn die Handlung und der Inhalt leistet selbst nicht viel. Es ist eine stete Wiederholung ein und desselben Motivs. Das eigentliche Material der Erzählung bleibt die Sprache selbst. Die Kernessenz lautet stets gleich: "das Leben ist unerträglich". Ein großer Schrei der Empörung vor dem menschlichen Dasein durchzieht sein ganzes literarisches Schaffen. Zumeist verhandelt er in seinen Werken die Besessenheit des Künstlers. Die gesamte Existenz und der eigene Alltag werden dabei der Kunst untergeordnet. Des Künstlers Leben ist eine Art Protest und Auflehnung gegen das Leben, die Welt und die Gesellschaft. Und dennoch ist es am Ende zum Scheitern verurteilt. Dieses künstlerische Zugrundegehen, die schmale Grenze zwischen Genie und Wahnsinn, treibt Bernhard.
So auch in seiner Novelle „Der Untergeher“, die im Jahr 1983 veröffentlicht wurde. Der Intendant Ektoras Lygizos wagte geradezu das sprachlich Unmögliche und brachte die Novelle ins Griechische übersetzt, mit englischen Untertiteln, über den Oktober hinweg auf die Alternative Bühne der griechischen Nationaloper in Athen. Das Stück handelt von drei Männern, die sich während ihres Klavierstudiums in Salzburg kennenlernten. Ektoras Lygizos übernimmt selbst die Rolle des Erzählers, der zugleich einen der drei Freunde darstellt. Aus dessen Perspektive erfahren wir mehr über das Leben der Einzelnen und ihre gemeinsame Freundschaft über die Jahre und über das Schicksal, das sie alle drei miteinander verbindet. Während der berühmte amerikanisch-kanadische Pianist Glenn Gould, hier gespielt von Yiannis Niarros, bereits von Anbeginn seines Studiums durch seine Interpretation der Bach‘schen Goldberg-Variationen als ein anerkanntes Genie auf dem Klavier gilt, scheitern nach dem Erfolg des außergewöhnlichen Talents Goulds, die anderen beiden österreichischen Freunde an einer möglichen Klaviervirtuosen-Laufbahn. Vor allem Wertheimer, verkörpert von Aris Balis, geht im Zuge dieses Scheiterns und in Folge seiner unerreichbaren Selbstansprüche zugrunde.
Das Stück beginnt mit der Nachricht von Wertheimers Selbstmord. Der Erzähler, unverkennbar gekleidet als ein „Österreicher“, betritt ein Gasthaus im österreichischen Landhausstil und hält nach Amalia Moutous in der Rolle der Gastwirtin Ausschau. Wartend fängt er in einem recht langen Monolog an zu erzählen. Dabei wurde die Textvorlage Wort wörtlich übersetzt und klug komprimiert auf der Bühne umgesetzt. Was wir dann hier zu sehen bekamen, ist die vernichtende Kraft des Zusammenspiels von Ehrgeiz, Obsession und Perfektion.
In eiserner Selbstdisziplin ordnen die drei Freunde ihren Alltag und ihr gesamtes Leben der Kunst unter. Sie sind getragen von Rücksichtlosigkeit gegenüber ihrer Umwelt und den Bedürfnissen ihrer Mitmenschen. Obsessiv folgen sie dem inneren Zwang, sich ganz der Kunst zu widmen. Die schmale Grenze zwischen Genie und Wahnsinn, die beschäftigte Bernhard in der Tat sehr. Zeit seines Lebens fürchtete auch er, wahnsinnig zu werden. Genie und Wahnsinn - ein Topos, der sich in Literatur und Kunst immer wieder finden und nicht auf Bernhard beschränken lässt. Bereits antike Denker wie Aristoteles widmeten dem Gegenstand ihre Aufmerksamkeit. Dabei wird das künstlerische Können und auch das Ergebnis selbst als eine Art Osmose zwischen Kreativität und Verrücktheit gedeutet. Die Folge ist eine stärkere, auch bewusste Isolation, um sich gänzlich, ja fast schon obsessiv, nur noch der Kunst widmen zu können. So haben die drei Herren auch stets den Wunsch und die Sehnsucht, allein zu sein. Sie errichten sich Isolationshäuser auf dem Land, jenseits der Menschheit, und erhoffen sich durch die Isolation, noch Außergewöhnlicheres aus sich selbst zu exerzieren, ein unbändiges Streben nach einem Höchstmaß der Steigerung des eigenen Könnens.
Gebunden ist dieser Geisteszustand an tiefes seelisches Leid, an die Unfähigkeit, zur Ruhe zu kommen, Einsamkeit und Depressionen – künstlerische Begleiterscheinungen, sozusagen. All das konnte hervorragend auf der Bühne dargestellt werden, wie Glenn Gould, das Klaviergenie des Jahrhunderts, sich völlig isoliert in seiner Wohnung Wochen, Monate und Jahre hinweg täglich über fünfzehn Stunden ans Klavier setzt und unermüdlich spielt. Jedes Aufstehen, jede noch so kurze Pause endet wieder am Klavier. Es ist dieses nicht Loslassen könne, das Gefühl, des Hingezogenseins an die eigentliche Bestimmung. Und wie mag diese Besessenheit für ein Genie wie Gould wohl enden? Mit Anfang fünfzig wird er, in Folge eines Schlaganfalls, alleine, tot und zusammengebrochen an seinem Klavier aufgefunden.
Nicht minder haben all diese perfektionistischen Selbstansprüche ihre Schattenseiten, denn sie bleiben unerreichbar, können nie erfüllt werden und münden in Frustration. Dabei bleibt es auch nicht bei einem selbst. Man stellt diese Erwartungen auch an das eigene Umfeld, sodass alles und alle nur trivial und ungenügend erscheinen. Hochmut und Anfälle von Größenwahn sind stete Begleiter der Männer. Vor allem Wertheimer und der Erzähler überschätzen die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, um sie dann wiederum zu unterschätzen. Alle drei Freunde gehen auf ihre tragische Art und Weise an den eigenen Ansprüchen zu Grunde und führen die zerstörerische Kraft der Perfektion dem Publikum vor Augen. So mag Perfektion durchaus eine antreibende Kraft haben, doch ihre Kehrseite ist lähmend. Denn sie lässt die gesamte Existenz aufteilen in das ‚Alles oder Nichts“-Prinzip. Entweder man ist der Beste oder ein Niemand. Ein Dazwischen gibt es nicht. Folglich stürzt die Kenntnis von Glenn Goulds Talent den Erzähler und Wertheimer in eine Krise und lebenslängliche Lähmung. Sie können nicht leben mit der Gewissheit, nur den Platz des Zweitbesten zu belegen. Es mangelt ihnen in jeglicher Hinsicht an einem Mittelmaß, stattdessen leben sie nur in Extremen. Auf diese Weise steigert sich das Leben zu einer Krise, begleitet von Depressionen und Verzweiflung. Was hier in seiner Tragik erkennbar wird, sind vernichtende und tödliche Ambitionen.
Dies verdeutlicht, dass trotzt der Bewunderung für Goulds Talent und der langjährigen innigen Freundschaft, die beiden anderen nicht frei von Neid ihm gegenüber sind, der sogar in Hass umschlägt. Sie können es nicht ertragen, ein Leben im Schatten des anderen zu führen. Auf dem Höhepunkt ihrer Klavierkarrieren hören sie von jetzt auf gleich auf und schmeißen alles hin, machen zugleich Gould dafür verantwortlich. Obwohl sie beide das Potential hatten, zu hervorragenden, weltberühmten Klaviervirtuosen aufzusteigen, wenngleich keine Genies zu werden. Doch dies genügt ihnen nicht. Wertheimer verkauft seinen Flügel, der Erzähler verschenkt seinen Steinway. Der eine flüchtet in den Beruf des Philosophen und schreibt fortan Aphorismen, der andere wird Historiker und müht sich ab an einer Biografie über Gould. All die Jahre beschäftigen sich die beiden Freunde mit ihren Manuskripten, doch kein Wort wird jemals veröffentlicht. Ein nicht endender Prozess vom Schreiben, Verändern und Vernichten vollzieht sich jeden Tag aufs Neue. Seit 28 Jahren keine Veröffentlichungen. Alles Lappalien, alles voller Fehler, alles ungenügend für sie – nicht geeignet für ein mögliches Lesepublikum. Diese Männer werden getragen von dem Wunsch nach Ruhm und Anerkennung. Zu stark sind sie abhängig von einem Bestätigungs- und Legitimierungsdrang durch die Öffentlichkeit. Thomas Bernhard selbst beschreibt dies als den „künstlerischen Bestätigungszwang“. Die Abhängigkeit des einzelnen Menschen von der Anerkennung durch Dritte – die Unfreiheit des nach Anerkennung strebenden Menschen, an der wir alle gleichermaßen leiden.
Die einzige Freiheit, gar Flucht aus dieser Abhängigkeit, sehen die Männer in einem Leben in sogenannten „einfachen Verhältnissen“. Vor allem Wertheimer romantisiert und idealisiert die „einfachen Leute“ und träumt davon, ein bloßer Arbeiter zu sein. Er mischt sich zwar immer wieder unter sie, doch auch hier ist er als großbürgerlicher Erbe begleitet von dem Gefühl und der Erfahrung des Nichtdazugehörens. Die Frustration, nicht verstanden zu werden von der Welt, der Familie, den Freunden, den Nächsten, ist für die drei Männer geradezu vernichtend und treibt sie immer mehr in die Einsamkeit. Doch dieses Unverständnis ist reziprok – denn weder kann die Welt sie – noch können sie die Welt verstehen.
Auf der Bühne übernimmt die Wirtin des Gasthauses die Gegenrolle der einfachen Frau. Sie hat zwar kein Geld und klagt über Existenzsorgen, doch beschwert sie sich nicht über ihr Unglück. Sie begegnet den Gemütszuständen der drei Männer mit Unverständnis. Denn alle drei stammen aus überdurchschnittlich wohlhabenden Verhältnissen und haben alle Möglichkeiten für ein sorgenfreies Leben, um glücklich zu sein, nutzen diese jedoch nicht. Und doch verwenden und verschwenden sie ihre Zeit, um darüber nachzudenken, was man mit all der Zeit und dem Geld nun tun solle und reden ununterbrochen von ihrem Unglück. In all den Möglichkeiten verbergen sich lauter Unmöglichkeiten. Denn was trotzt all der Genialität, dem Talent und Geld der Männer deutlich wird, ist eins: ihre absolute Lebensunfähigkeit. In der Theorie philosophieren und idealisieren sie das Leben, doch sind sie völlig unfähig, dieses in der Praxis auszuleben. So fliehen sie vor dem Leben in die Kunst. Und egal, was oder wer sie sind oder sein könnten, ob Genie, Künstler, Philosophen oder Historiker: eins sind sie gewiss nicht – Überlebenskünstler. Und die Kunst zu leben und zu überleben braucht ein jeder, um in diesem Leben überhaupt glücklich werden zu können. Für die drei Männer bleibt die Befreiung und Flucht vor dem fortwährenden Unglück und vor dem Scheitern nur noch der Tod. Für den einen auf natürlichem Wege, für den anderen durch die eigene Hand.
Die Qualität der Inszenierung des Intendanten Ektoras Lygizos bemisst sich an der authentischen Vermittlung Österreichs nach dem Fall des Naziregimes. Gekonnt wurde die Kontinuität und auch die Kluft zwischen ultimativen Gewinnern und hoffnungslosen Untergehern dem Publikum aufgezeigt. Die sprachliche Übersetzungsunmöglichkeit der Novelle meisterte Lygizos mit einer gelungenen Übersetzungsleistung auf der Bühne und stellte mit dem schauspielerischen Talent der einzelnen Akteure seine Faszination für Sprachkunstwerke unter Beweis, sodass die Zuschauer den Abend über die Interdependenz von Schauspiel und Literatur stets vor Augen hatten.