Aachen, Theater Aachen, Hänsel und Gretel: Lebensnah - Lebensfroh, IOCO Kritik, 06.11.2012
Romantik und Lebensfreude trotzen Lebensängsten
Wenn die Tage kürzer werden und die Nächte kälter, dann kommt die Zeit von Deutschlands heimlicher Nationaloper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck. Am 4. November 2012 erlebte das Theater Aachen die Premiere einer Inszenierung, welche das Zeug zu einem bleibenden Aachener Weihnachtsklassiker hat. Menschliche Grundwerte, Geborgenheit und Harmonie inmitten einer verunsicherten, getriebenen Welt, werden in der klingenden Märchenoper modern, frisch und humorvoll dargeboten.
Die Oper entstand eher zufällig, fast aus einer Laune. Humperdincks Schwester Adelheid Wette hatte zu ihrem Märchenspiel Hänsel und Gretel einige Lieder gedichtet, welche sie ihren Bruder Engelbert zu vertonen bat. Vorlagen aus Grimmschen und anderen Hausmärchen hat Adelheid Wette dabei liebevoll wie gekonnt verwertet. So mündete die ursprüngliche Idee einer bescheidenen Haustheater-Aufführung über Humperdincks Wagner-Erfahrungen in diesem romantischen Opern-Welterfolg mit großem Orchester und gestandenen Künstlern. 1893 unter Richard Strauss in Weimar erstmals und mit großem Erfolg aufgeführt gehört Hänsel und Gretel inzwischen zu den meist aufgeführten Opern weltweit.
Ewa Teilmans Inszenierung geriet zu einer verwunschenen wie spannenden Weihnachtswelt für Groß und Klein, in welcher Frohsinn und Lebensfreude über emotionale wie wirtschaftliche Nöte siegen. Kaum ein bekannter Name wagt sich an diese Oper. Groß scheint das Risiko, die alten, teils grausamen Grimmschen Märchenklischees zeitgemäß zu übersetzen. Der Spagat, mit Hänsel und Gretel nicht nur Erwachsene sondern auch Kinder erreichen zu müssen, ist für Regisseure oft wenig attraktiv. Ewa Teilmans verwandelt in ihrer Inszenierung die Härten der Grimmschen Erzählung in zeitgemäße, emotionale Lebensängste von Vater, Mutter und Kindern. Begleitet von choreographischen Leckerbissen, einer coolen Punk-Hexe über verwunschene Kinderträume bis hin zu wabernden Nebel- und vielfarbigen Lichteffekten ist der dramaturgische Verlauf homogen und auch für Kinder verständlich. Die überwiegend erwachsenen Besucher dieser Premiere zollten der Inszenierung bereits zur Ouvertüre lautstarken Beifall, als, herrlich choreographiert, ein Fernrohr durch den Vorhang lugt und Sandmännchen (Carla Hussong) und Taumännchen (Fonteini-Niki Grammenou) in farbigen Phantasiekostümen die Vorstellung pantomimisch mitreißend „eröffnen“.
Der erst seit 2012 als Generalmusikdirektor an Theater Aachen tätige US-Amerikaner Kazem Abdullah bewies am Pult des klangschön und blühend spielenden Sinfonieorchester Aachen eine bruchlos sensible Hand für den speziellen Zauber der Oper. Charme wie Tücken der romantischen aber komplexen Partitur, die von volksliedhafter Schlichtheit bis zu Wagner'scher Kraftfülle reicht, hat Abdullah im Griff und erzeugt mit dem gut folgenden Sinfonieorchester Aachen leicht schwebende wie kraftvoll durchwirkte Klänge. Anspruchsvolle Stimmen fordert auch diese Oper wie schauspielerisches Können.
Camille Schnoor (Gretel) und Maria Hilmes (Hänsel) beschreiben im ersten Bild, ihr Zimmer ein hochgestellter Holzverschlag, jugendlich unbeschwert doch mit sängerischer Prägnanz und Wortdeutlichkeit ihre sorgenvolle Jugendwelt ("auch ich halt´s kaum noch vor Hunger aus"). Auch Irina Popova (Gertrud, Mutter) überzeugt mit immer sicherer werdendem Sopran, während Hrólfur Saemundsson (Besenbinder, Vater) mit einem wohltimbrierten und kraftvollen Bariton seine Partie des angezechten wie sorgenvollen Vaters stimmlich wie spielerisch höchst authentisch durchlebt. Zu inszenatorischen Höhepunkten entwickelten sich die folgenden Szenen: "Im Walde", eine hochromantische, von farbigen Nebel- und Lichtschwaden wie Riesenpilz durchzogene Nachtlandschaft ("Da kommen weiße Nebelfrauen") und das "Abendgebet", in dem Hänsel und Gretel, in verlangsamter Bewegung überzeichnet, Kinder-Traumwelten von sorgenfreiem, friedlichem Familienidyll mit engelhaften Fabelwesen, Eltern und Großeltern abbilden. Wunderbar in diese friedfertige Phantasie-Idylle passend streut Sandmännchen mit lyrisch warmer Stimme aus einem silbernen Himmelswagen "zwei Körnelein euch in die müden Eugelein" und weckt Taumännchen "mit kühlem Taue, was schläft auf Flur und Aue". Auch das letzte Bild "Knusperhäuschen", mit Backschrank und Ofen eher neutral gestaltet, begeistert durch eine zunächst coole, leicht durchgeknallte, farbig kostümierte, nie aggressiv wirkende Knusperhexe (Sanja Radisic), welche mit weichem, sicherem Mezzo neben und auf dem Backtisch anmutige Tanzeinlagen vollführt. Schon spürt man in dieser emotionalen wie aggressionsfreien Inszenierung leichtes Bedauern über das der Knusperhexe vorgegebene böse Ende im Ofen.
Intendant und Produktionsdramaturg Michael Schmitz-Aufterbeck gelang mit Regisseurin Ewa Teilmans in dieser modernen Inszenierung eines Opernklassikers die wunderbare Paarung realer emotionaler Nöte mit wohltuend lebensbejahender Frische und Fröhlichkeit.
Das zumeist reife Publikum im ausverkauften Theater Aachen bejubelte nach Ende der gelungenen Premiere alles, was sich auf der Bühne bewegte. Zu recht. Denn diese Hänsel und Gretel Produktion wird im Theater Aachen auf Jahre viele junge aber auch reifere Menschen bereichern. IOCO / Viktor Jarosch / 06.11.2012
Weitere Vorstellungen am: 10. | 17. | 23. | 25. November 2012, 01. | 12. | 19. | 23. | 25. Dezember 2012, 05. | 13. | 17. | 20. Januar 2013, 21. | 24. Februar 2013, 03. | 14. März 2013
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