ORPHEUS – MYTHOS oder WAHRHEIT, IOCO Essay - Teil 2, 08.05.2021
IOCO Serie - von Peter M. Peters
Teil 1 - Der orphische Weg - erschienen 01.05.2021 - link HIER
von Peter M. Peters
Teil 2 - Orpheus und seine LegendeAber
Orpheus, was wird aus ihm in all dem? Derjenige, ohne den nichts geboren noch entstanden wäre, der erste Eingeweihte, der Begründer der Praktiken und der Religion, die seinen Namen trägt! Wer war Orpheus wirklich ?
Orpheus ist nur ein Name! Auch für viele Griechen der antiken Welt! Aber die meisten Autoren tun so, als habe er wirklich existiert und schreiben ihm eine Genealogie zu: Ein Leben voller Verzauberungen und Heldentaten, aber auch voller Bedrängnis. Kurz, eine Geschichte, die magisch wie tragisch, im Laufe der Jahrhunderte viele Dichter, Dramatiker und Musiker inspirierte. Sicher ist, dass alle alten antiken Erzählungen übereinstimmen, Orpheus zu einem Musiker oder vielmehr zu einem Dichter zu machen. Wobei die beiden Künste – Poesie und Musik – untrennbar miteinander verbunden sind. Wir haben auch die Existenz von Orpheus in fernen, heldenhaften Zeiten lokalisiert, in der Zeit zwischen der Herrschaft der Götter und der der Menschen, jenen, in denen auch Herakles, Musaios, Linos, Amphion lebten und besonders die drei letzten waren auch Dichter, Musiker und Verzauberer. In jenen Tagen hatte sich die Domäne der Götter und Menschen noch nicht irreparabel in zwei verschiedene Welten aufgeteilt. Der Beweis war, dass bestimmte Götter, wie Hermes oder Apollo, es nicht verachteten, den Menschen ihre Wissenschaft oder ihre Kunst beizubringen. So hätte Orpheus die Kunst der Leier oder der Zither von Apollo persönlich gelernt, der nach bestimmten Mythen auch sein Vater gewesen wäre. Da seine Mutter Kalliope die Muse der Lyrik ist, so ist es verständlich, dass Orpheus mit einer solchen Abstammung von Anfang an durch außergewöhnliche Begabungen für Musik und Poesie hervorstach. Es wurde auch gesagt, dass er in diesen fernen und heldenhaften Zeiten an der Expedition der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies teilgenommen hätte und seine Lieder dort wahre Wunder bewirkt hätten. Mit seiner Musik beruhigte er die Streitigkeiten zwischen den Seefahrern, gab der Bewegung der Ruderer einen zügigen Rhythmus und schob die wandernden Felsen beiseite, die die Schiffsflanke der Argo zerquetschen würden. Er unterwarf sogar die Sirenen, die ihn in Versuchung führten!
Er hat nicht nur gespielt und gesungen! Als die Argo die Insel Samothrake erreichte, schlug er den Argonauten vor, sie in die Geheimnisse der koureten einzuführen. Später im Verlauf der Reise wird er zwei Hymnen für sie komponieren, in denen er die Geburt der Welt und die Geschichte der Götter erzählt. In der Folge wird die Legende dieser wunderbaren Kraft des Orpheus, nicht nur über die Menschen, sondern auch über alle Lebewesen, verstärkt. Unterworfen von seinen Liedern, werden sich die wildesten Tiere nähern, um ihn anzuhören und die Bäume selbst werden ihr Laub zu ihm neigen. Die Bedeutung dieser Bilder scheint uns klar zu sein: Orpheus soll in einer Zeit leben, die noch in der Nähe des goldenen Zeitalters liegt, in der Götter, Menschen und Tiere in ständiger Brüderlichkeit zusammenleben. Die Poesie hatte noch Macht über Wesen und Dinge, es war keine einfache Unterhaltung oder ein ästhetisches Spiel. Sie wollte zweifellos bezaubernd, aber auch gnomisch sein und den Ursprung der Götter und der Menschen in einer Bedeutung – wie ein Ziel – des menschlichen Zustandes in Beziehung zusetzen. Tatsächlich sagte die Poesie des Orpheus zu den Menschen: Werde zu Gott indem Du Orphisch wirst. Er war ein verlockender Magier, der im Gegensatz zu den Sirenen nicht zu seinen Zuhörern sagte: Vergiss alles und folge mir, sondern im Gegenteil: Erinnere Dich an alles und folge mir!
Aber Orpheus wird nach der Expedition der Argonauten auch schwierige Stunden und Tage kennen. Er, der in den Geheimnissen dieser Welt unterwiesene Dichter, wird von den Menaden oder den thrakischen Frauen zerrissen umkommen. Erfreulicherweise scheint er einige glückliche Momente mit seiner Frau Eurydike gehabt zu haben, bis sie vor seinen Augen an einem Schlangenbiss stirbt.
Wir wissen dass er, nachdem er untröstlich geworden ist, in die Hölle hinabsteigen wird, um nach seiner Frau zu suchen und dass der Gott Hades und seine Frau Persephone – ebenfalls von seinen Liedern bewegt – ihm die Rückkehr seiner Gattin Eurydike zu den Lebendigen gewährt. Aber nur unter einer Bedingung, dass Orpheus sich nicht umdreht und sie ansieht, bis sie den Ausgang der Unterwelt erreicht haben. Orpheus war ungeduldig, seine Frau wiederzusehen oder nach anderen Versionen wollte er sicherzustellen, dass die höllischen Götter ihn nicht betrogen hatten und dass Eurydike ihm wirklich folgte. Doch Orpheus drehte sich um, und verlor sie für immer, die geliebte Gattin Eurydike!
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Diese Liebesgeschichte, romantisch vor unserer Zeit, ist zweifellos die einzige Episode der Orpheus-Legende, die wir heute alle kennen. Aber selbst wenn es bedeutet den Leser zu enttäuschen, müssen wir ein wenig kritisch darüber nachdenken und herausfinden, was sich tatsächlich hinter diesen aufgegriffenen fantasiereichen Erfindungen der Dichter Vergil (70-19 v. J.C.) und Ovid (43 v.J.C.-17/18 n. J.C.) verbirgt. Tatsächlich erscheint der Name Eurydike als Frau des Orpheus in der antiken Literatur erst sehr spät (genau mit Vergil). Platon und Euripide (480-406 v. J.C.) kennen den Mythos vom Abstieg des Orpheus in die Unterwelt, um dort seine Gattin zu suchen, aber sie nennen sie nicht mit ihrem Namen. Der einzige Dichter, der sie vor Vergil nennt, ist ein griechisch-alexandrinischer Dichter, Hermesianax (4. Jahrhundert v. J.C.) und er nennt sie Agriope (wörtlich: wildäugig). Dieser Name würde viel besser passen als der von Eurydike, da die alten Autoren andererseits zustimmen, dass seine Frau eine Dryade aus Thrakien war, d.h. eine Eichennymphe mit wildem Charakter.
In Wirklichkeit – und ohne hier auf Details einzugehen – bedeutet der Name Eurydike die weithin Richtende, was wir verstehen können als die Richtende im riesigen Reich… Aber welches größere Reich existiert als das der Toten? Eurydike war sehr wahrscheinlich eine thrakische Königin der Toten und Orpheus selbst – wenn man sich an die Verbindung seines Namens mit der Dunkelheit erinnert – ein König der Toten. Es ist offensichtlich, dass Eurydike in der primitiven und vermeintlichen Version des Mythos nicht auf die Erde zurückkehren konnte, da sie die Königin der Toten war und die Unterwelt ihr riesiges Reich war. Viele Romane und insbesondere viele Liebesromane haben sehr oft den Mythos degradiert! Denn die ursprüngliche Bedeutung ist verloren gegangen und nur der psychologische Aspekt oder die Anekdote bleibt übrig. Vergil, der erste, brach mit der Tradition, indem er das Streben von Aristaios nach Eurydike, ihren Tod durch den Schlangenbiss und ihren gescheiterten Aufstieg aus der Hölle erfand. Paradoxerweise kann man also sagen, dass der Abstieg von Orpheus in die Unterwelt auf der Suche nach Eurydike eine bewundernswerte Erfindung ist, aber keineswegs ein orphischer Mythos.
Lassen sie uns die Geschichte von Eurydike abschließen, indem wir noch einmal die vielen Schwächen und Unwahrscheinlichkeiten bemerken, die seit der Antike über den Mythos Orpheus geschrieben wurden. Selbst Platon bemerkt in einer Passage aus dem Gastmahl (Symposion), in der er vorgibt, die Legende von Orpheus ernst zu nehmen und so zitiert er: Das der Versuch, seine Frau (die er nicht mit Namen nennt) zu den Lebendigen zurückzubringen, fehlschlug, liegt selbstverständlich an der Weichheit, Zaghaftigkeit und Feigheit des Zitherspielers Orpheus. Auch hatte er nicht den Mut einer Alceste, die für die Liebe stirbt und alle möglichen Zaubertricks erfand um vor Hades zu erscheinen. Deshalb haben die Götter ihm vorbehalten, durch Frauenhand getötet zu werden!
Sterben durch Frauenhand! So wird Orpheus enden, wenn er, nachdem er allein aus der Unterwelt aufgestiegen und untröstlich in den Bergen von Thrakien umherwanderte. Die thrakischen Frauen waren sehr verärgert und unversöhnlich über die Gleichgültigkeit des Sängers in Bezug auf ihre Schönheit und ihren sinnlichen Reizen - eine der Versionen seines Todes - oder weil er einen Eid geschworen hatte sich niemals mehr mit Frauen zu vereinen und sich nur noch der Päderastie hinzugeben; eine andere Version. Oder es sei denn, Dionysos ärgerte sich über ihn, weil er seinen Kult verlassen hatte und jeden Morgen die Sonne und damit Apollo anzubeten. Er hätte dann seinen Mänaden den Befehl gegeben, Orpheus zu töten indem sie ihn zerfetzten; eine dritte Version!
Wie auch immer der Tod von Orpheus aussehen mag, es ist offensichtlich dass der "Herr der Schatten" keinen gewöhnlichen Tod erleben konnte. Nachdem er von den Mänaden zerrissen und zerfetzt worden war, um die häufigst zitierte Version seines Todes zu nennen, bemerkten diese, dass sein enthaupteter Kopf noch immer weiter sang. Es war unmöglich, ihn zum Schweigen zu bringen! Sie warfen den Kopf in den Fluss Hebros (der heutige Maritsa, die Griechenland von der Türkei bei Edirne trennt), wo er zur Mündung und von dort zur Insel Lesbos schwamm und auch hier weiter sang! Dort wurde Orpheus´ Kopf von seiner Mutter Kalliope begraben. Ein Monument wurde ihm zu Ehren errichtet, danach hörte Orpheus endgültig auf zu singen. Und erst, als der Dichter tot und still war, konnte sein Mythos geboren werden …
Die Metamorphosen des Orpheus
In Claudio Monteverdi (1567-1643) und Alessandro Striggio der Jüngere (1573-1630) entfernt sich Orpheus von der klassischen Lehre, um eine Zivilisation auszudrücken, die den Glauben und die Begeisterung der Renaissance verloren hat (auch wenn sie durch das Bewusstsein menschlicher Grenzen gemildert werden, was im Mythos des Orpheus ganz offensichtlich ist) und die tief von der Bedeutung des Todes betroffen ist.
Der Mythos von Orpheus und Eurydike ist mit der Operngeschichte verbunden und in rund dreißig Werken wurde sie von ihm inspiriert: Die meisten dieser Opern stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, insbesondere aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach der Uraufführung des L'Orfeo (1607) von Monteverdi. Danach in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach der ersten Wiener Aufführung des Orfeo ed Euridice (1762) von Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787). Wenn wir im 19. Jahrhundert einige Werke, außer der sehr spirituellen Parodie von Jacques Offenbach (1818-1880): Orphée aux Enfers (1858) außer Acht lassen, verschwindet der Mythos total von der Bühne, sowie auch die gesamte klassische Mythologie. Erst wieder im 20. Jahrhundert tritt mit den Partituren von Igor Strawinsky (1882-1971): Orpheus-Ballett (1947), Darius Milhaud 1892-1974): Les Malheurs d'Orphée (1925), Alfredo Casella (1883-1947): La Favola d'Orfeo (1932), Gian Francesco Malipiero (1882-1937): L'Orfeide (1919/22), Pierre Henry (1927-2017): Le Voile d'Orphée (1953) und Pierre Schaeffer (1910-1995): Orphée 51 ou Toute la Lyre (1951), um nur einige zu nennen, der Mythos wieder auf. Zweifellos ist diese große Anzahl von Opern über den Mythos des Orpheus an sich nicht bedeutsam, da es mindestens ebenso viele Werke gibt, die von der Geschichte der Iphigenie oder der des Herkules inspiriert sind. Bedeutender ist andererseits die offensichtliche Beziehung, die das Genre der Oper selbst mit dem thrakischen Dichtersänger verbindet, ein ständiges Symbol für die Macht von Musik und Gesang über die Seelen. Es muss auch gesagt werden dass sich der Mythos des Orpheus bewundernswert für eine lyrische Behandlung eignet, da er auf einer einfachen und linearen Handlung beruht und gleichzeitig eine große Vielfalt intensiver Situationen bietet, die für eine lyrische oder dramatische Entwicklung empfänglich sind. Wesentlich ist jedoch, dass das Thema Orpheus mit wichtigen Daten in der Operngeschichte verknüpft ist: Die Dafne von Jacopo Peri (1561-1633), 1598 aufgeführt ist leider verloren! Aber die erste bekannte Oper ist die Euridice desselben Peri und sie wurde 1600 mit einem Schlag berühmt. Sieben Jahre später wurde das erste Meisterwerk L'Orfeo von Monteverdi geboren, das erste völlig neue Meisterwerk dieses Genres. Schließlich führte Gluck mit einem Orfeo ed Euridice seine Reform des musikalischen Dramas durch eine Opernkonzeption an, die total mit der Tradition der Zeit brach.
Es wäre sicherlich interessant, eine Geschichte von Orpheus mit seinen verschiedenen Darstellungen zu versuchen und zu sehen wie dieser scheinbar klare, aber letztendlich ziemlich dunkle Mythos im Laufe der Jahrhunderte interpretiert wurde. In gewisser Weise würde es dazu führen, dass die spezifizierten Beziehungen des mythischen Dichter sich mit der Operngeschichte gut vereinen. Eine solche Studie geht weit über den Rahmen eines bescheidenen Artikels hinaus und so werden wir uns einfach mit ein paar Beobachtungen über die berühmtesten Orpheus-Fassungen und auch über einige etwas weniger bekannte Werke begnügen.
Quellen des Mythos: Vergil und Ovid
Die wichtigsten Quellen von Librettisten und Musikern für diesen Mythos waren die Georgica (Buch IV / 37-30 v. J.C.) von Vergil und die Metamorphosen (Bücher X – XI / Jahr 1 n. J.C.) von Ovid. Der Orpheus dieser beiden Dichter weist einige nicht sehr bemerkenswürdige Variationen auf und doch einen großen Unterschied: Bei Vergil ist der Mythos des Orpheus in die Geschichte von Aristaios, einem Hirten und Bienenzüchter, eingebettet. Eurydike stirbt, während sie von Aristaios verfolgt wird, der ihr Zeugnis geben will seiner Liebe und sie tritt versehentlich auf eine Schlange. Dieser Honigfabrikant, der die Flitterwochen einer Nymphe und eines Sängers mit einer honigschmelzenden Stimme störte, verschwindet bei Ovid. Hier wird Eurydike unmittelbar nach ihrer Hochzeit von einer Viper tödlich gebissen, während sie mit ihren Begleiterinnen Blumen pflückt. Danach entfaltet der Mythos seine bekannten Episoden: Orpheus ist verzweifelt über den Tod der Nymphe und beschloss sie in der Unterwelt zu suchen. Es gelang ihm auch durch die Schönheit seines Gesanges die höllischen Gottheiten zu bewegen und so durfte er seine Gattin wieder gewinnen, jedoch unter einer Bedingung, dass er auf dem Rückweg nicht auf seine Gefährtin zurück blickt. Aber mitgerissen von der großen Liebe zu Eurydike drehte sich Orpheus nach ihr um, bevor sie beide das Tageslicht erreicht hatten. So brach er das Verbot und verlor seine Liebe für immer! Der von Trauer verrückte Dichter zieht sich an einsame und eisige Orte zurück, flieht vor jeglicher Vereinigung mit anderen Frauen und erzeugt, bei Ovid, durch seine Lieder die Liebestollheit des schöneren Geschlechts. Die Frauen der Kikonen – Bacchantinnen – sind wütend darüber, sich selbst verachtet zu sehen, irritiert von der Kraft seines Gesanges, das sogar die Steine bewegte. So zerreißen sie ihn grausam in viele Stücke und der Kopf und die Leier von Orpheus fallen in die Hebros (Maritsa), dort fluten sie bis zur Küste und erreichen schließlich Lesbos.
Ein kurzer Blick auf die verschiedenen Orpheus-Mythen zeigt, dass das Ende viel freier behandelt wird, wenn das Herz des Mythos, der Tod von Eurydike, die Reise in die Unterwelt und Befreiung der Nymphe einstimmig respektiert wird. Jedoch bleibt eine gewisse Zurückhaltung, wenn man über den entgültigen Tod der Nymphe berichtet. Dagegen wird der Tod von Orpheus systematisch zurückgezogen und verdunkelt: Entweder weil man nicht verstand oder nicht verstehen wollte, welchen Folgen eine völlige Veränderung des klassischen Mythos haben würde. PMP-15/03/21-2/6
ORPHEUS – MYTHOS oder WAHRHEIT - Teil 3 - folgt am 15.05.2021
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