
DON GIOVANNI – 1787, K. 527 – Wolfgang Amadeus Mozart
Dramma Giocoso in zwei Akten – Libretto – Lorenzo Da Ponte
von Peter Michael Peters
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– ZERSTÖRUNG EINES MYTHOS UND KONSTRUKTION EINES HELDEN MIT TAUSEND GESICHTERN… –
- Vivan le femmine,
- Viva il buon vino!
- Sostegno e gloria d‘umanità!
- (Rezitativ des Don Giovanni / 2. Akt, Final / Auszug)
Jenseits gesellschaftlicher Konventionen…

Don Juan trat erstmals 1630 in dem religiösen Drama El burlador de Seville y convidado de pietra (Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast) von Tirso de Molina (1579-1648), einem Pseudonym des Mönchs Gabriel Téllez auf die Bühne und hat seitdem nicht nur Schriftsteller und Komponisten, sondern auch Philosophen und Wissenschaftler berührt und diese haben sich auch immer wieder vor dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit verbeugt. Der Ursprung der Don Juan-Figur ist rätselhaft! Manche halten sie für eine aus spanischen Volks-Phantasien entstandenen Mythos, in dem zwei ursprünglich nicht miteinander verbundene Geschichten kombiniert wurden: Die Liebesbeziehungen eines jungen Draufgängers und die Bestrafung eines Bösewichts durch das Erscheinen einer Statue! Andere glauben, dass ihm jemand zugrunde liegt, den es wirklich gab, nämlich Don Juan Tenorio (?-?) aus Sevilla, ein frivoler Verführer und Vergnügungssüchtiger aus der Zeit von Don Pedro de Wrede (1334-1369), der nach Ermordung des Gouverneurs von Sevilla von Mönchen in ein Kloster gelockt und dort heimlich hingerichtet wurde. Damals wurde gemunkelt, dass die Statue auf dem Grab des Gouverneurs zum Leben erweckt worden sei, um den Mörder zu bestrafen.
Trailer – Don Giovanni – Claus Guth stellt vor …
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Von Spanien aus kam diese Geschichte nach Italien, wo in komischeren Bearbeitungen der Schwerpunkt auf der spektakulären Erscheinung der Statue und den Possen des Dieners von Don Juan lag. Bei der nächsten Station in Frankreich richtete sich die Aufmerksamkeit mehr auf die Titelfigur, die vor allem durch Jean-Baptiste Molière (1622-1673) in seinem Drama Dom Juan ou le Festin de pierre (1665) eine andere Persönlichkeit erhält. Bei ihm ist Don Juan nicht mehr der Verführer, der nur seinen Genüssen nachgeht, sondern ein Freigeist, der alle Klassengrenzen überschreitet, ein Atheist, der Gott nicht verleumdet sondern sogar seine Existenz leugnet.
Die literarischen Varianten des 17. Jahrhunderts sind ebenso zahlreich wie die vielen musikalischen Adaptionen, die ab 1713 aufkamen und in Italien zu regelrechten „Erfolgsschlagern“ wurden. Zu den wichtigsten Vorgängern von Mozart und Lorenzo Da Ponte (1749-1838) gehören vor allem Vincenzo Righini (1756-1812), dessen Dramma tragicomico Don Giovanni ossia il convitato di Pietra in Prag 1776 uraufgeführt wurde und desgleichen auch Giuseppe Gazzaniga (1743-1818) mit seinem Don Giovanni Tenorio, o sia il convitato di Pietra (1787), der in Venedig uraufgeführt wurde. Das Libretto stammt von Giovanni Bertati (1735-1815) und Da Ponte hat einige Details daraus übernommen! Es gelang ihm auch die wichtigsten erhaltenen Handlungsstränge zu einem völlig eigenständigen Operntext zu verknüpfen, der mit seiner eigenen Vieldeutigkeit mehr Fragen offen lässt als beantwortet.
Während Don Juan lange Zeit zur Freude und Zufriedenheit des Publikums mit der Höllenfahrt bestraft wurde, entscheiden sich Mozart und Da Ponte für einen anderen Blickwinkel. In ihrer Version weckt der ewig bestrafte Bösewicht nach und nach unsere Sympathie, ein Ansatz: Den spätere Dichter und Denker neu überdachten und auch erarbeitet haben. Sicherlich: Mozart wäre nicht Mozart gewesen, wenn er in dieser Figur nicht auch einen göttlichen Funken entdeckt hätte und man kann sich daher mit recht Fragen: Ist Mozarts Don Giovanni vielleicht doch keine mythische Figur oder – wie Søren Kierkegaard (1813-1855) ihn sah – auch keine Ur-Figur und nicht verwandt mit Eros oder Dionysos, sondern einfach nur ein Mensch, der sich der Endlichkeit seiner Existenz bewusst ist und deshalb die ihm zur Verfügung stehende Zeitspanne in vollen Zügen genießen möchte?

Es ist dieser Aspekt, den diese Inszenierung genauer untersuchen und seinen Realismus beurteilen möchte. Mozart scheint uns zeigen zu wollen, wie der Zustand der zwischenmenschlichen Interaktion ist und uns gleichzeitig mit Konzepten versorgen zu wollen, die über die damaligen gesellschaftlichen Konventionen hinausgingen und dies tatsächlich auch heute noch tun. In seinem Don Giovanni treibt er die bereits in Le nozze di Figaro (1786) gezeigten Möglichkeiten einer kompromisslosen an Eros gewidmeten Lebensweise auf die äußerste Spitze und es ist nur logisch, dass schließlich auch Thanatos seine Rechte geltend macht. Die Akzeptanz der Interdependenz dieser beiden Lebenspole strahlt von Don Giovanni auf seiner Umgebung aus: Auch bestimmt es seine große Anziehungskraft, während die anderen sich im Gegenteil ihrer Unzulänglichkeiten sehr bewusst werden!
Es kann nachgewiesen werden, dass die Spielzeit der Oper als „Echtzeit“ angesehen werden kann. Die wenigen, aber präzisen Angaben lassen die Annahme zu, dass es sich hierbei um die Zeitspanne von 23:30 bis 2:15 Uhr handelt. Dies mag angesichts der vielen Interpretations-Möglichkeiten, die Mozart und Da Ponte in jeder ihrer Opern offen halten, von untergeordneter Bedeutung erscheinen, ist aber auch eine – vielleicht verschleierte – Einladung: Diese Interpretation zu testen! Nach dem „verrückten Tag“ von Figaros Hochzeit scheint sich die verfügbare Zeit noch weiter reduziert zu haben: Gilt das auch für die eigene Zeit von Mozart?
Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist die Theorie von Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004), die in ihrem Buch Die fünf Sterbephasen (1969) fünf Phasen unterscheidet, die jeder Mensch in der Konfrontation mit seinem eigenen nahenden Tod durchmacht: 1. Hoffnung auf Irrtum, 2. Frage nach dem Warum, 3. Wunsch nach Aufschub, 4. Trauer um vergebene Chancen 5. Abkopplung von der Umwelt. Diese Phasen sind „Abwehrmechanismen im psychiatrischen Sinne: Mechanismen um extrem schwierige Situationen zu überstehen“. Die Dauer jeder Phase ist für jede Person unterschiedlich und meist finden sie nacheinander statt, manchmal auch gleichzeitig. Hoffnung ist fast immer in jeder Phase vorhanden!
Die Extremsituationen, die Don Giovanni in jedem Moment der Oper hervorruft, lassen sich alle einer dieser Phasen zuordnen. Was aber wirklich erstaunlich ist – und unsere Überraschung über Mozarts unglaubliche Einsicht in die menschliche Psyche noch verstärkt – ist die Analyse der letzten Phase, in der der Sterbende sich von allem und jedem unwiderruflich verabschieden muss und dabei die tiefsten Wunden riskiert um den Frieden seiner Seele zu finden. Aus diesem Grund wurde für diese Produktion die von Mozart selbst genehmigte Fassung ohne Schluss-Sextett gewählt, die auch übrigens Gustav Mahler (1860-1911) vorzog.

Premiere – Opéra National de Paris / Salle Bastille – 13. September 2023
Don Giovanni: “Dans un bois (nicht so!) solitaire…”
Bereits nach einigen sehr erfolgreichen Aufführungen in namhaften europäischen Opernhäusern u. a. Amsterdam, Madrid, Brüssel und auf den Salzburger Festspielen 2008 kommt nun endlich diese viel gepriesene Inszenierung des deutschen Regisseur Claus Guth endlich auch an die Opéra National de Paris. Dazu mit einer völlig neuen Besetzung, besser gesagt mit zwei abwechselnden Besetzungen. Was die Transposition angeht, funktioniert diese Produktion äußerst gut und hinterlässt einen bleibenden Eindruck…
Die Handlung wird von Sevilla in einen dunklen Kiefernwald verlegt, der an die erste Strophe eines französischen Liedes von Mozart: Dans un bois solitaire et sombre… K. 308 (1777/78) erinnert, nur das die Wälder hier nicht so einsam sind! Durch die Beleuchtung des deutschen Lichtbildner Olaf Winter werden diese von dem österreichischen Bühnenbildner Christian Schmidt erdachten Wälder zum Stoff für Legenden, zu einem Wald aus dunklen Märchen, indem Don Giovanni immer wieder neu auf die Probe gestellt wird, während sein letzten Tage zu einer langen Tortur werden. Schaut man genauer hin, wird dieser Wald geradezu banal, seine Unterholz ist übersät mit leeren Bierdosen, Picknick-Resten und weggeworfenen leeren Spritzen. Das sind auch Wälder, in denen sich Menschen verlaufen, wo sie an einer Bushaltestelle auf einen Bus warten, der nie kommt, wo Autos eine Panne haben und Paare heimlich Sex haben. Dass wir den letzten Tag von Don Giovanni erleben, wird in Guths Neu-Interpretation von Anfang an klar: In der ersten Szene feuert der Commendatore, der seiner Tochter Donna Anna zu Hilfe kommt, mit seiner Waffe eine tödliche Wunde in den Magen des brutalen Vergewaltigers. Don Giovanni ist tödlich verwundet und gerät in den Strudel der daraus resultierenden Schwierigkeiten, die zu seinem sicheren Tod führen werden. Ob es sich bei seinen Verführungs-Versuchen um die vielen verzweifelten Taten eines Sterbenden handelt, der die ihm verbliebende Zeit der irdischen Freuden voll aus genießen will oder ob es sich lediglich um Flashbacks handelt, die aus einem Delirium der Qual hervorgehen? Das zu definieren bleibt uns überlassen! Es spielt kein Rolle, diese Geschichte eines Mannes, der seinem bevorstehenden Tod gegenübersteht: Fesselt unsere volle Aufmerksamkeit durchaus sehr stark und mehr als einen Abend!

Zum ersten Mal eine solche ironische Rolle als Don Giovanni zu übernehmen, muss in jeder Situation eine entmutigende Aussicht sein. Jedoch der schwedische Bariton Peter Mattei bestand als äußerst erfahrener Sänger und das besonders in dieser berüchtigten Verführer-Rolle vollauf seinen Mann! Er hat die schwere Prüfung mit Bravour bestanden, indem er den zu Tode gequälten Don Giovanni die vielen Gesichter einhauchte. Der Ausdruck seiner stimmlichen Fähigkeiten ist extraordinär, seine Stimme ist noch immer sehr gesund, sehr schön im Timbre und wunderbar projiziert. Aber trotz allem hat er es geschafft, seiner Figur die hektische Dringlichkeit eines schwer kranken Mannes zu verleihen, der weiß, dass ihm nur noch wenig Zeit und nichts zu verlieren bleibt. Seine Arie: Finch‘ han dal vino, die er sang, während er sich mit einer Dose Bier überschüttete, um den Schmerz zu lindern und dem sogenannten männlichen Mut eine neue Bedeutung zu verleihen, klang besonders zynisch mit einem zusätzlichen Gefühl von qualvollem Fieber. Es war nicht so sehr die berühmte Champagner-Arie, wie es die Opern-Tradition will, sondern eher war es ein dunkler trauriger Schwanenabgesang!
Der Leporello von Alex Esposito passte hervorragend zu diesem Don Giovanni! Seine Rolle ist wahrscheinlich die physischste von allen in einer schon allgemein sehr anspruchsvollen Regie-Richtung, aber der italienische Bass-Bariton scheint auf der Bühne eine angeborene Beweglichkeit zu haben, die es ihm ermöglicht ohne Schwierigkeiten auf Baumstämme zu klettern. Springen wir mal aus einer Bushaltestelle und machen wir alle diese anderen verrückten Schritte und wahnsinnigen Tricks ohne dass der Wahnsinn diese hohe Qualität seines Gesangs beeinträchtigt. Fügen wir dazu noch seine raffinierte italienische Diktion hinzu und so wir haben einen Weltklasse-Leporello. Bravissimo!
Neben diesen beiden Protagonisten verblassten die anderen Darbietungen etwas, obwohl sie nie weniger als gut waren. Der äußerst klangvolle amerikanische Bass John Relyea in der Rolle des als Totengräber tätigen Commandatore, war angemessen höhlenartig. Als Don Ottavio schien der amerikanische Tenor Ben Bliss leider einige Schwierigkeiten mit den sehr komplizierten Regie-Anweisungen von Guth zu haben und somit wirkte sein Spiel alles andere als natürlich! Aber er glich dies mit besonders mit einem gutem Gesangstil aus, wie z. B. die Arie: Dalla sua pace!
Man könnte die Donna Anna von der rumänischen Sopranistin Adela Zaharia als besonders morbide bezeichnen, ihre Stimme war alles andere als ein starkes und schönes fleischiges Instrument. Die französische Mezzo-Sopranistin Gaëlle Arquez nutzte ihre breite und gewaltige Gesangspalette mit großem Sinn für Dynamik aus, um die Quasi-Hysterie von Donna Elvira sehr effektiv wiederzugeben. Aber wir hätten mehr Rundheit im Timbre und der Chromatik gewünscht, wie z. B. in ihrer großen Arie: Mi dradi!
Als Zerlina und Masetto: Die chinesisch-amerikanische Sopranistin Ying Fang und der französische Bass-Bariton Guilhem Worms, gaben ein entzückendes Bauernpaar ab und es wurde natürlich auch wunderschön gesungen. Bravo!
Das Orchester und Chor der l’Opéra National de Paris unter der musikalischen Leitung des italienischen Dirigenten Antonello Manacorda zeigte teilweise einen sehr matten Ton, man kann sagen zeitweise sogar ungewöhnlich glanzlos und besonders ohne Relief. Aber wir sind sehr sicher und zuversichtlich, das nach der heutigen Premiere für die folgenden Aufführungen alles noch mit viel Glanz aufpoliert wird. (PMP/14.09.2023)