Wiesbaden, ORYX AND CRAKE - Regisseurin Daniela Kerck im Gespräch, IOCO Interview, 01.06.2023

Wiesbaden, ORYX AND CRAKE - Regisseurin Daniela Kerck im Gespräch, IOCO Interview, 01.06.2023
Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold
Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold

ORYX AND CRAKE- Soren Nils Eichberg

Interview mit Regisseurin Daniela Kerck

von Adelina Yefimenko

Zum zweiten Mal gelang es dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden den Komponisten Søren Nils Eichberg für ein Auftragswerk zu gewinnen. Nach seiner Oper Schönerland über Flucht und Heimat, die 2017 uraufgeführt wurde, kam am 18.2.2023 seine Oper Oryx and Crake zur vielbejubelten Uraufführung. Der Komponist entführt uns in eine faszinierende dystopische Welt: Genmanipulierte Wesen, die völlig friedfertig, aber auch ohne jede Fantasie sind, sollen dort die Menschheit ersetzen. Von der Grundidee zur Oper bis zu ihrer Aufführung dauerte es rund sieben Jahre.  IOCO, Ingrid Freiberg, berichteten seinerzeit über die Uraufführung, link hier.

Musik-Journalistin Adelina Yefimenko hat ebenfalls die Premiere Oryx and Crake am 18.2.2023 in Staatstheater Wiesbaden besucht und - siehe das folgende Interview - mit Regisseurin Daniela Kerck über ihre Visionen, Gedanken und Handlungen zur Inszenierung der Oper von Søren Nils Eichberg gesprochen.

Ihren Durchbruch erlebte Daniela Kerck ebenfalls in Wiesbaden mit Jörg Widmanns Oper Babylon, IOCO berichtete, link hier. Die Presse lobte und bewunderte ihre „präzise Inszenierung“ dieser Mammutoper. Diese Produktion des Hessischen Staatstheaters eröffnete die Internationalen Maifestspiele 2022 und die Presse schrieb über den „mehr als nur spektakulären Welt-untergangs-Wahnsinn“, den diese Aufführung lieferte. Daniela Kerck hat sich damit als Kennerin der Forderungen des aktuellen gegenwärtigen Musiktheaters etabliert. Der Komponist Jörg Wiedmann hat sich bedankt und exakt geäußert: "Endlich hat meine Oper zu sich selbst gefunden. Das klang, als habe Kerck "Babylon" nach zehn Jahren endlich angemessen aus der Taufe gehoben.” Mehr Lob und Anerkennung sind kaum vorstellbar! Daniela Kerck kreierte dort zusammen mit Videokünstlerin Astrid Steiner und Kostümbildnerin Andrea Schmidt-Futterer, die postapokalyptische Zukunft ohne Menschen.

ORYX AND CRAKE - Trailer und Regisseurin Daniela Kerck im Gespräch youtube Staatstheater Wiesbaden [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

------------------------

Daniela Kerck studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Wien in der Meisterklasse von Erich Wonder. Für ihre Diplomarbeit »Every Room is the center of the World« - einer inszenierten Rauminstallation, erhielt sie den Würdigungspreis des Österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Kultur. Dem Studium folgten Assistenzen und Mitarbeiten bei Erich Wonder am Opernhaus Zürich, am Bunka Kaikan in Tokyo, an den Staatsopern in Berlin und München, sowie an der Mailänder Scala unter der Regie von Peter Mussbach und Luc Bondy sowie weitere Regieassistenzen bei Johannes Schaaf an der San Francisco War Memorial Opera und am Aalto-Theater in Essen. Daniela Kerck realisierte Bühnenbilder u.a. an der National Opera in Riga, am Schauspielhaus Wien, am Théâtre du Châtelet Paris, am Teatro Zarzuela in Madrid und am Theater Luzern. Von 2014-17 studierte sie Musiktheaterregie an der Hochschule für Musik in Karlsruhe bei Prof. Andrea Raabe und Prof. Stephan Mösch. Sie absolvierte Meisterkurse bei Peter Konwitschny und Tatjana Gürbaca. An der Niederlande Opera in Amsterdam war sie Stipendiatin des Regieworkshops bei Monique Wakemarkers. Sie ist Semifinalistin des RingAwards’15 für die Interpretation des »Freischütz« und gewann den ersten Preis des Europäischen Opernregiepreises für die Oper Rusalka, die in Riga aufgeführt wurde. 2019 inszenierte sie Aida bei den Tiroler Festspielen in Erl. Am Hessischen Staatstheater Wiesbaden stellte sie sich 2021 mit dem Schauspiel Admissions von Joshua Harmon vor. In der Spielzeit 2021.22 inszeniert sie das Schauspiel The Minutes – Die Schlacht am Mackie Creek von Tracy Letts und die Oper Babylon von Jörg Widmann im Rahmen der Internationalen Maifestspiele 2022. In der Spielzeit 2022/2023 inszenierte sie, gemeinsam mit Olesya Golovneva, Antonín Dvoráks Oper Rusalka, gefolgt von der Uraufführung des Auftragswerks für das Hessische Staatstheater Wiesbaden: Oryx and Crake von Søren Nils Eichberg nach dem gleichnamigen Roman von Margaret Atwood.

DANIELA KERCK, Regie - Visionen, Gedanken, Realisierung - ORYX AND CRAKE

Adelina Yefimenko: Frau Kerck, die Oper von Søren Nils Eichberg Oryx and Crake, deren Libretto Hannah Dübgen nach dem Roman der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood schrieb, zeigt das wichtigste Gesellschaftsproblem unserer Zeit. Es handelt vom Ende der Menschheit. Das Thema, wie die Zukunft ohne Menschen ausschaut, ist aktueller denn je. „Craker“ heißen die künstlich produzierte Nach-Menschen, die nach der abgestorbenen letzten Generation die Erde bewohnen! Wie hat Ihre Arbeit für diese Produktion angefangen? Wie kam der erste Impuls für Ihre Regie-Idee? Zuerst von Eichbergs Musik oder von der Story Adwood/Dübgen´s?

Daniela Kerck, Regisseurin © D Kerck
Daniela Kerck, Regisseurin © D Kerck

Daniela Kerck: Als der Auftrag, die UA von Oryx and Crake zu inszenieren, an mich heran getragen wurde, habe ich mich zuerst mit Atwoods Roman beschäftigt. Ich wollte verstehen, wie Hannah Dübgen diese Geschichte zum Libretto umgearbeitet hat, wie die Struktur des Textes ist, die Søren zum Komponieren vorlag. Atwood erzählt die Geschichte der Hauptfigur Snowmans fast ausschließlich durch chronologische Rückblenden. Das hat Hannah Dübgen in ihrem Libretto übernommen, was wiederum die größte Herausforderung für die Umsetzung dieser Oper für uns darstellte. Das Libretto ist sehr filmisch gedacht und Søren wollte genau diesen Aspekt in die Musik einarbeiten. Es sollten keine musikalischen Übergängen, sondern direkte Sprünge -wie Filmschnitte- in die nächste Szene geben. Wir überlegten, wie wir das visuell erreichen und haben uns entschieden mit holographischen Projektionen zu arbeiten, um die imaginierten Erinnerungen von Snowman im Raum sichtbar werden lassen zu können.

Adelina Yefimenko: Welche musikalischen Impulse aus der Musik Søren Nils Eichberg haben Sie am stärksten beeindruckt?

Daniela Kerck: Ich muss gestehen, dass wir Sørens Komposition erst sehr spät vorliegen hatten. Vieles wurde deshalb anhand des Librettos ausgearbeitet, da der Abgabetermin für das Bühnenbild schon ein Jahr im Voraus war. Umso bereichernder wurde es dann für unsere Arbeit, als uns die Partitur vorlag und das ganze Werk dadurch einen Körper erhielt. Mir hat seine Komposition sofort gefallen, da das Klangbild sich auf Anhieb in unsere Welt einfügte. Musikalische Impulse gab es, zum Beispiel die Liebesszene zwischen Oryx and Jimmy, in der sie ihm das erste Mal von sich erzählt, wurde bald zu einer meiner Lieblingsszenen, da sie für einen Moment die Zeit anhielt. Und es gefiel mir, wie die Musik sich gegen Ende immer mehr von dem Text löst und wie eine Art Requiem über allem schwebt.

Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Christopher Bolduc, Samuel Levine, Anastasiya Taratorkina, Benjamin Russell © Karl und Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Christopher Bolduc, Samuel Levine, Anastasiya Taratorkina, Benjamin Russell © Karl und Monika Forster

Adelina Yefimenko: wenn wir kurz die Handlung lesen, entsteht daraus eine Reihe von Fragen. Snowman ist der einzige Mensch, der eine weltweite Pandemie überlebt hat. Auf der Suche nach Medikamenten macht er sich auf die Reise durch die post-apokalyptische Welt und erinnert sich daran, wie es zur Katastrophe kam: Snowman hieß früher Jimmy. Sein bester Freund Crake entwickelte ein Medikament namens BlyssPluss. Beide waren in die geheimnisvolle Oryx verliebt. Um Überbevölkerung und Naturzerstörung zu beenden, versteckte Crake im BlyssPluss ein Virus, das die gesamte Menschheit auslöschte. Gentechnisch modifizierte Naturwesen ersetzten die Menschheit: die Craker. Crake tötete Oryx vor Jimmys Augen, der daraufhin Crake erschoss. Die erste Frage wäre: ist diese Handlung für Sie Krimi, Science-Fiction oder eine Opera-Medienpräsenz, die das Problem nicht nur der Klima-Katastrophe, sondern auch der Zukunft der „echten“ Menschen aktualisiert?

Daniela Kerck: Wie erzählt man in einer Oper eine Geschichte über die Vernichtung der gesamten Menschheit zu einer Zeit, in der wir gerade selbst ins Schreckensgesicht einer Pandemie geschaut haben? Ich war zu Beginn skeptisch, ob dieses Thema die Zuschauer ins Theater ziehen wird. Erst recht wollte ich deshalb keinen didaktischen Abend schaffen, vielmehr hat mich interessiert, diese Thematiken, die ohne Abstriche auch heute top aktuell sind, so zu erzählen, dass dem Zuschauer Raum für seine eigene Interpretation, für eine eigene Gegenüberstellung bleibt. Da haben mir die verschiedenen Genres geholfen, es teilweise als eine Art Kriminalgeschichte zu erzählen, denn Snowman schafft es an diesem Abend, alle gefundenen Puzzleteile der Katastrophe zusammenzusetzen, aber auch poetisch dystopische Elemente aufzugreifen und diese visuell einzubauen.

Adelina Yefimenko: Nur ein Mensch – ein Snowmann – überlebt die Katastrophe. Er schläft in einem Wrack, klettert auf dem vertrockneten Ast des toten Baums und er besitzt nichts außer seiner Erinnerungen über seine lieben Menschen – Vater, Mutter, geliebte Oryx, Freund Crake. Er ist der letze Mensch. Aber einsam ist er nicht. Seine Nachbarn sind „Craker“. Und damit stellt die Oper neue Frage, die über die Kunst und seine gesellschaftliche Rolle hinausführt. Die Frage ist, wer ist schuld? Wissenschaft, Technik, die die Menschen manipuliert oder Menschen, die es zulassen? Ihre Inszenierung von Oryx and Crake erinnerte mich an einem Satz von Lars von Trier:Kunst muss zeigen, was es heißt, ein Mensch zu sein“. Inwieweit können Sie diese Frage in der Oper von Søren Nils Eichberg beantworten?

Daniela Kerck: Die Schuldfrage geht an uns alle. Wir sind dabei die Kontrolle zu verlieren und ich stelle die Frage, ob es nicht auch so gewollt ist. Das was Atwood in ihrem Roman vorskizziert hat: die Ernährungs- und Pharmaindustrien liegen in den Händen einiger weniger Großkonzerne, die inzwischen alles unter ihre Kontrolle gebracht haben, die Regierungen in der Form, wie wir sie heute kennen, wurden aufgelöst, die Menschen werden durch private Securities kontrolliert. Da sehe ich Parallelen zwischen der Oper und unserer Zeit. Insofern ist das, was wir auf der Bühne zeigen, ein Ausblick in eine Zukunft, die gerade stattfindet

Adelina Yefimenko: Die Katastrophe in Oryx and Crake ist das Ergebnis einer Pandemie als erfolgreiches Ergebnis der Forschung eines „genialen“ Wissenschaftlers. Crake liquidiert also Menschheit im Glauben, dass die Natur und die Erde vor der Überbevölkerung gerettet werden. Der „natur-saubere“ Menschenersatz benennt er nach seinem Namen „Craker“ und verewigt sich selbst. Inspiriert Sie diese Handlung eher als Fantasy oder als moralisches Dilemma?

Daniela Kerck: Ich sehe es als ein moralisches Dilemma. Crake entwirft den Homo Sapiens nach seinen Vorstellungen und benennt dieses neue Wesen nach sich. Man ertappt sich, dass man vielen Ideen Crakes insgeheim zustimmt. Er versieht sie mit eingeschränkter Fortpflanzungsfähigkeit, um eine Überbevölkerung zu vermeiden, löscht alle schlechten und überflüssigen Eigenschaften und verhindert so Kriege, Missbrauch und Prostitution. Er verleiht jedem Einzelnen eine eigene Farbe und schafft somit eine friedliebende Gemeinschaft, die sich vegetarisch ernährt und im Einklang mit der Natur leben wird.

Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Benjamin Russell, Craker © Karl und Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Benjamin Russell, Craker © Karl und Monika Forster

Dreamteam garantiert erfolgreiche, aufregende Aufführungen

Adelina Yefimenko: Wie beeinflusste die Pandemie 2020 Ihre künstlerische Tätigkeit?

Daniela Kerck: Sie hat mir erstmal viel Zeit im Atelier zukommen lassen. Ohne es romantisieren zu wollen, aber plötzlich war da dieser Stillstand - und ich konnte konzentriert und ohne Unterbrechung an Jörg Widmanns Oper Babylon arbeiten. Gleichzeitig veränderte sich auch mein Blick auf die Zeit, ich hinterfragte aus einer anderen Perspektive, was tun wir eigentlich - und wie? Und dann gesellte sich, wie bei anderen Künstlern auch, die Existenzfrage dazu. Die Theater blieben ja lang geschlossen, Produktionen worden verschoben oder ganz abgesagt. Es war lang in der Schwebe, ob eine Mammutoper wie Babylon (großer Chor und große Orchesterbesetzung) überhaupt mit all den geltenden Coronabestimmungen aufgeführt werden kann - doch am Ende wurde gerade diese Produktion tatsächlich für uns zu einer Art Wiederauferstehung des Theaters - denn alle Mitarbeiter auf, hinter der Bühne und im Graben zogen an einem Strang und zeigten, wozu nur das Theater in der Lage ist. Das hat mich sehr berührt.

Adelina Yefimenko: Der Dramaturg Constantin Mende schrieb im Programmheft zur Oryx und Crake, dass „Science-Fiction von etwas handelt, das nie war und auch in der Zukunft nie sein wird“. Damit bin ich mir nicht sicher. Oft sehen wir (nicht nur bei Margaret Atwood, sondern auch in alten Science-Fiktion-Romanen und Filmen), wie damalige Fantasien heute real werden. Unwahrscheinlich, dass die Autorin des Romans Oryx and Crake Pandemieprobleme im Jahr 2003 vorhersah. Erstaunlich ist, dass sich einige Visionen von Künstlern doch später realisieren. Ich denke zurück an Romeo Castelluccis Inszenierung von Mahlers Auferstehungssinfonie am Opernfestival von Aix-en-Provence oder an der Walküre, an der Stuttgarter Oper und den heutigen Krieg. Ich glaube, dass Künstler andere Seiten der Zukunft prophezeien. Die Kunst warnt, handelt von dem, was passieren kann, nicht nur davon, wie es Menschen erleben. Wie denken Sie darüber?

Daniela Kerck: Ich sehe mich als Künstlerin in der Verantwortung Zustände aufzuzeigen, Szenarien durchzuspielen und diese in meiner Arbeit künstlerisch zu übersetzen. Dabei interessiert mich aber auch immer, genug Interpretationsspielraum zu lassen. Es ist oft nur eine Frage der Zeit, dass Themen, die wir in Inszenierungen anreißen, in der Realität zuschlagen. Was können wir verändern? Bewegen? Welche Debatten werden wir mit unserer Arbeit eröffnen? Diese Fragen müssen wir stellen, an uns und an das Werk.

Adelina Yefimenko: Wie leicht oder wie schwer war es für Sie, Atwoods Begriff „Spekulative-Fiction“ zu deuten und auf die Bühne zu bringen? Gab es die szenischen Ideen, die mit Ideen aus Babylon korrespondieren? Letztendlich erleben die Protagonisten beider Opern den Weltuntergang?

Daniela Kerck: Ich habe schon immer ein großes Interesse an „spekulative Fiction“ - Diesen Kosmos für Oryx and Crake zu erarbeiten, ist mir deshalb nicht schwer gefallen. Mit Sicherheit sind Gedanken aus Babylon in diese Oper hereingetragen worden, beide Opern behandeln ja auch den Weltuntergang und bei beiden Stücken habe ich versucht, ein offenes Ende zu lassen, um Hoffnung zu säen.

Adelina Yefimenko: Für mich blieb eine offene Frage in dieser Handlung: Crake impft sich und seinen Freund Jimmi, der als einziger Mensch überlebt. Warum impft er seine Geliebte Oryx nicht, die ihre Aufgabe als Betreuerin seiner genmanipulierten Wesen sehr gut erfüllt? Liebt er diese Frau wirklich? Warum plant er nicht, sie in die Zukunft mitzunehmen?

Daniela Kerck: Darüber haben wir viel diskutiert und ich kann Ihnen nur unseren Ansatz wiedergeben: Für Crake ist seine Aufgabe getan, er hat die Crakers erschaffen und die Menschheit ausgerottet. Bevor Crake Oryx den Hals durchschneidet, sind seine letzten Worte: „Ich zähle auf Dich.“ Jimmy erschießt darauf hin Crake. Wollte er am Ende wirklich umgebracht werden? Immerhin hat er Jimmy mit dem Mord an Oryx bewusst provoziert. Welche Alternative hätte Crake gehabt? Er wusste, dass es kein Weiterleben für ihn mit Jimmy und Oryx geben würde. „Da wo ich hingehe, dahin geht auch Oryx“, sagt er in einer früheren Erinnerung zu Jimmy. Er war eifersüchtig auf Jimmy, vertraut ihm aber gleichzeitig die Betreuung seiner Crakers an.

Adelina Yefimenko: Ihre Figurenkonstellation ist mehrdeutig. Wer ist die geheimnisvolle Figur Oryx? Wie ist ihr Beitrag zur Apokalypse? Wer liebt Sie? Ist sie Opfer oder Mitverantwortliche?

Daniela Kerck: Alle Figuren und Handlungen, die wir als Erinnerungen auf der Bühne sehen, erleben wir aus Snowmans Sicht. Wir wissen nicht, wie oft er schon diesen Gedanken nachgehangen ist, denn es sind inzwischen Monate vergangen, seit er Crake erschossen und die Crakers zum Strand geführt hat. Jede seiner Erinnerungen ist eine Form von Rekonstruktion. Hat sie tatsächlich so stattgefunden? Durch die doppelte Besetzung der Figur von Snowman ergaben sich zwei Erzählebenen, die parallel abliefen: seine Erinnerungen wurden durch den jüngeren Jimmy gespielt. Es war nicht immer leicht, eine Balance zwischen Erinnerung und Realität zu finden, den Focus herauszuarbeiten, damit dem Zuschauer nichts an Information verloren geht. Wer ist Oryx? Die Teenager Jimmy und Crake entdecken Oryx zum ersten Mal online auf einer Pornoseite. Sie ist noch ein kleines Mädchen, das sich prostituiert. Beide sind von ihr fasziniert. Viele Jahre später, Crake ist inzwischen ein erfolgreicher Wissenschaftler, präsentiert er seinen Freund Jimmy Oryx, die für ihn als Vertreterin für die Verbreitung der Blysspluss Pille arbeitet und gleichzeitig die Aufgabe hat, die Crakers zu unterrichten. Sie ist vollkommen von Crakes Überbevölkerungstheorien überzeugt, versteht aber erst später, als die Pandemie ausbricht, wofür Crake sie wirklich benutzt hat. Zwischen Crake, Oryx und Jimmy besteht eine klassische Dreiecksgeschichte, die im Libretto leider etwas zu kurz kommt.

Adelina Yefimenko: Das Erzählmodell in Atwoods Roman hat zwei Zeitebenen (Biografie von Jimmy vor der Apokalypse und nach der Apokalypse). Auf der Bühne zeigen Sie die Zeit mehrdimensional: plötzlich Rückblicke und Wanderungen aus der Zeit der Postapokalypse in Jimmys Kindheit, Schuljahren, Studium, Erinnerungen an der ersten Liebe und Freundschaft zwischen Jimmy, Crake und Oryx. Sie deuten die Zeit aus psychologischer Perspektive. Abwechslungen der Zeitebenen schaffen eine illusorische Atmosphäre des Daseins. Der Komponist behauptet: „Ich komponiere Psychogramme durch Musik“. Das ist sein Stil. Wie ist Ihr Stil in der Regie? Welche Regisseure haben Ihren Regie-Stil besonders beeinflusst?

Daniela Kerck: Was meine Arbeit ausmacht ist der Ansatz, neben der linearer Erzählung des Librettos weitere Ebenen hinzuzufügen, die nicht nur eine Deutung zulassen. Dabei suche ich einerseits nach Figuren, die Situationen wieder brechen können, aber auch nach Bildern, die den Raum assoziativ erweitern. Ich arbeite eng mit Astrid Steiner zusammen, immer auf der Suche, durch Einsatz von Projektionen, die Grenzen des Bühnenraumes und der Zeit aufzulösen. Geprägt haben mich meine Regie-und Bühnenbildarbeiten wahrscheinlich durch die Generation von Luc Bondy, Erich Wonder und Peter Mussbach. Wobei ich nicht jede ihrer Arbeiten unterschreiben würde, aber es war immer der Versuch da, etwas noch nie da Gewesenes in ihren Inszenierungen herauszuarbeiten.

Adelina Yefimenko: Seit mehreren Jahren arbeiten Sie mit herausragenden Künstlerinnen zusammen - Videokünstlerin Astrid Steiner und Kostümbildnerin Andrea Schmidt-Futterer. In digitalen Bildern projiziert Astrid Steiner ein faszinierendes Videodesign auf Gazevorhang, das ein postapokalyptisches Paradies der Natur mit fluoreszierenden Farben, eine urbane Welt im Hintergrund, Untersuchungslabor mit überdimensionalen Schweinen, Pflanzen, Pilzen (man denkt an Chernobyl) und grünlich leuchtenden Hasen zeigt. Es wirkt alles farbig, wild, faszinierend, gleichfalls erschreckend. Können Sie sich vorstellen, dass so eine Zukunft Realität werden kann, oder das ist nur Kunst und eine „Spekulative-Fiction“?

Daniela Kerck:   Viele Ideen und Gegenstände, die uns vor einigen Jahren noch in Science Fiction Filmen faszinierten, vielleicht auch bedroht haben, sind Teil unseres Alltags geworden. Nehmen wir zum Beispiel Hoover Boards, Tablets, selbstfahrende Autos. Inzwischen sind wir längst, oft unbemerkt, von Artificial Intelligence umgeben. Aber auch in der Genforschung ist vieles, was in Margaret Atwoods Roman vorkommt, der jetzigen Forschung entnommen, wie sie auch in ihrem Nachwort schreibt. Wir erinnern uns an die Erfolgsnachrichten 2016 über die Züchtung von Organschweinen, die bei Atwood, die darüber schon 2003 schrieb, frei und gefährlich als Pigoons durch die Landschaft streunen. Auch die beschriebenen fluoreszierenden Hasen waren Teil eines Forschungs-Kunstprojekts. Forscher haben in weiße Kaninchenembryos das Gen einer phosphoreszierenden Qualle eingebaut, so dass sie bei Nacht leuchten können. In unserer Inszenierung sind diese Hasen aus dem Labor entwichen und hoppeln nun vermehrt und munter durch die Postapokalyse.

Adelina Yefimenko: Danke liebe Frau Kerck für das ausführliche Interview; für Ihre zukünftigen Projekte wünscht IOCO und ich Ihnen viel Erfolg.