Düsseldorf, Deutsche Oper am Rhein, DIE TOTE STADT - Erich Wolfgang Korngold, IOCO Kritik, 21.04.2023

Düsseldorf, Deutsche Oper am Rhein, DIE TOTE STADT - Erich Wolfgang Korngold, IOCO Kritik, 21.04.2023
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Deutsche Oper am Rhein

Deutsche Oper am Rhein / Oper am Rhein - Opernhaus © Hans Joerg Michel - www.foto-drama.de
Deutsche Oper am Rhein / Oper am Rhein - Opernhaus © Hans Joerg Michel - www.foto-drama.de

DIE TOTE STADT - Erich Wolfgang Korngold

Das Wunderkind Erich W. Korngold - fasziniert selbst Strauss ud Puccini

von Ingrid Freiberg

Dank seinem Vater, dem gefürchteten Wiener Musikkritiker Julius Korngold, wuchs das Wunderkind Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) in einer Atmosphäre musikalischer Hochspannung auf und wurde von Robert Fuchs, Alexander von Zemlinsky und Hermann Grädener unterrichtet. Bereits 1910, Korngold war 13 Jahre alt, führte die Hofoper Wien seine Ballett-Pantomime Der Schneemann auf. Arthur Schnabel spielte die Klaviermusik. Strauss zeigte sich von seinem jungen Kollegen angetan, und Puccini bewunderte ihn. Mit Die tote Stadt, die am 4. Dezember 1920 am selben Tag am Stadttheater Hamburg und am Opernhaus Köln uraufgeführt wurde, gelang Korngold „der“ Sensationserfolg der 20er Jahre. Das Libretto vollendete Paul Schott, alias Julius Korngold, der beschloss, die Handlung des symbolistischen Romans Bruges-la-Morte von Georges Rodenbach so zu ändern, dass der Mord in einem Traum stattfindet.

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Im Gegensatz zum Roman wird in der Oper die Begegnung Pauls mit der Tänzerin Marietta als Vision geschildert und ihre Ermordung löst einen Reinigungsprozess aus. Paul flieht den Schatten der toten Marie und ist am Ende psychisch geheilt. Das Thema der Oper, einen geliebten Menschen zu verlieren, fand große Resonanz beim Publikum der 1920er Jahre, das gerade das Trauma und die Trauer des 1. Weltkriegs mit 17 Millionen Todesopfern überstanden hatte. Nach dem Zusammenbruch aller politischen Ordnungen kannte das Publikum Schmerz, Verlust und Untergang einer vertrauten Welt aus eigenem leidvollen Erleben. Einfühlsam begleitet Korngold mit suggestiven Bildern und Melodien den trauernden Protagonisten Paul durch den schwierigen, doch unausweichlichen Prozess des Abschiednehmens. Er hat Freud genau studiert. 1917 hatte der bekannte Wiener Psychoanalytiker in seiner Schrift Trauer und Melancholie den steinigen Weg des Loslassens beschrieben: „Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben… Dieses Sträuben kann so intensiv sein, dass eine Abwendung von der Realität und ein Festhalten des (Liebes-)Objekts durch eine halluzinatorische Wunschpsychose zustande kommt.“ Paul gelangt zur ernüchternden, aber notwendigen Erkenntnis: „Ein Traum hat mir den Traum zerstört, ein Traum der bitteren Wirklichkeit, den Traum der Phantasie. Die Toten schicken solche Träume, wenn wir zu viel mit und in ihnen leben.“ Dies alles trug zweifellos zur Popularität des Werks bei.

Geschickt montierte Erich Wolfgang Korngold die Szene der Nonnenerweckung aus Meyerbeers Robert der Teufel in das Geschehen ein, als Paul aus dem Verborgenen Marietta beobachtet und sie der Blasphemie heiliger Gefühle anklagt. Korngolds Musik ist spätromantisch-sinfonisch geprägt, besitzt expressionistische Dichte und fasziniert in den arios ausgestalteten lyrischen Momenten durch eine „schlagerähnliche“ Insistenz der Melodien, z.B. Mariettas „Glück, das mir verblieb“ (das musikalische Leitmotiv der Oper), die Romanze von Frank „Sein Sehnen, mein Wähnen“ und Victorins „Ja, bei Fest und Tanz“. Mit üppiger Farbenpracht illustriert der spätere Hollywood-Komponist (19 Filmmusiken und zwei Oscars) im Stile einer Traumerzählung einfühlsam den schmerzhaften Prozess eines trauernden Mannes, der die Vergangenheit loslassen muss, um für die Zukunft bereit zu sein. Nach dem Tod seiner Frau Marie hat sich Paul in Brügge in einem Kokon aus Schmerz und Erinnerung verschlossen. Da bricht Marietta in seine Welt ein. Ihre lebenssprühende Sinnlichkeit weckt in dem trauernden Witwer längst verdrängte Sehnsüchte, die er mit zunehmender Panik zu bekämpfen sucht. Doch das Leben lässt sich nicht aufhalten… am Ende muss er die Liebe zu seiner verstorbenen Frau gehen lassen und stellt fest, dass alles nur ein Traum war.

Deutsche Oper am Rhein / DIE TOTE STADT hier Corby Welch (Paul), Nadja Stefanoff (Marietta) © Sandra Then
Deutsche Oper am Rhein / DIE TOTE STADT hier Corby Welch (Paul), Nadja Stefanoff (Marietta) © Sandra Then

Unerfüllter Traum der Wiederkehr

Der US-amerikanische Regisseur Daniel Kramer gibt mit Die tote Stadt sein Deutschland-Debüt an der Deutschen Oper am Rhein. Die Premiere musste Corona-bedingt verschoben werden. Nach der Viruskrise ist nun die Aufführung mit all den damit verbundenen Verlusten bewegender als je zuvor. Wie im Jahr 1920, als die Oper uraufgeführt wurde, ist die Welt durch Krieg, Flucht und Vertreibung, Armut… aus den Fugen geraten. Kramer erzählt eine Geschichte über Trauer und Verlust, erzählt von dem Schock, ohne irgendeine Erklärung oder Ankündigung plötzlich eine geliebte Person zu verlieren, etwas was in der Corona-Pandemie leider viele Menschen erleben mussten. Korngolds Musik ist für mich wie ein Trauerritual. Ich glaube, er hat bewusst eine Partitur komponiert, die uns in die Lage versetzen will, wieder mit unseren Gefühlen in Kontakt zu treten. Durch den Schmerz und die Trauer der Figuren auf der Bühne dürfen auch wir wieder den Schmerz und die Trauer um unsere eigenen Verstorbenen zulassen“, sagt er. "Mein Job als Regisseur ist es, Bilder und Erzählweisen zu finden, die diesen Prozess unterstützen." Dabei hält er sich eng an Korngold, der von einer „halluzinatorische Wunschpsychose“ ausgeht, in der sich der Witwer Paul befindet. Folgerichtig ist der verzweifelt Trauernde ein Puppenmacher, dessen chaotisches Atelier die Ohnmacht widerspiegelt, sich seinen „Traum der Wiederkehr“ nicht erfüllen zu können. Er lebt mit einer schlechtgemachten lebensgroßen Puppe, die an seine Frau Marie erinnert, zusammen, die in einer „Kirche des Gewesenen“ aufgestellt ist. Täglich unternimmt der Verzweifelte Spaziergänge zum Minnewasser, zum See der Liebe, bringt frische Blumen mit, die den von ihm eingerichteten Schrein ausfüllen. Schon Oskar Kokoschka gab der Puppenmacherin Hermine Moos detaillierte Anweisungen zur Erstellung einer nach Alma Mahlers Vorbild gestalteten Puppe, die er in sein Atelier stellte, um den Schmerz des Verlassenseins zu mildern. Es ist eine Inversion des ursprünglichen Pygmalionmythos, der das Ideal Wirklichkeit werden lassen will. Die Übertragung seiner Gefühle auf die lebenslustige Marietta erwecken in Paul intensive unbewusste Gefühle und Wünsche, eine Projektion, die zum Scheitern verurteilt ist, da die Tänzerin allenfalls in ihrer äußeren Erscheinung seiner verstorbenen Frau gleicht. Im zweiten Akt begibt er sich auf eine Bewusstseinsreise mit merkwürdigen Begegnungen. Zerrbilder seiner eigenen Schuld, seines sexuellen Begehrens gewinnen die Oberhand. Eine morbide hypersexualisierte Theatergruppe, Marietta in einem Sarg, in dem sie sich von ihren Verehrern verwöhnen lässt, Pauls Eifersuchtsanfall, bei dem er seinen Freund Frank tötet, das Auftauchen seiner Haushälterin Birgitta, die ihn wegen seiner treulosen Leidenschaft verlassen hat und in ein Kloster eingetreten ist, lassen Gedankentiefe vermissen. Schlussendlich erliegt Paul der Femme Fatale. Vor seiner Wohnung angekommen zieht eine Prozession vorbei, die in ihm wieder religiöse Schuldgefühle wachrufen. Gelangweilt von seiner Frömmigkeit provoziert ihn Marietta. Der Konflikt zwischen seiner toten Frau Marie - im engen schwarzen Kleid mit weißblonden Haaren, ein untoter Vampir - mit seiner herzlosen Geliebten ist zu viel für ihn. Halbwahnsinnig erschlägt er Marietta. Als Paul wieder zu sich kommt, ist der Leichnam verschwunden… Er erkennt, dass er die Toten ruhen lassen muss. Kramers psychoanalytische Deutung entzaubert zuweilen das Geschehen, verstärkt aber durch die Trennung zwischen Wirklichkeit und Vision den phantastischen Eindruck der Handlung.

Deutsche Oper am Rhein / DIE TOTE STADT hier Auf dem Bild Vorne: Corby Welch (Paul), Nadja Stefanoff (Marietta), dahinter: Statisterie der Deutschen Oper am Rhein), Anna-Sophia Theil (Juliette), Florian Simson (Graf Albert), Emmett O’Hanlon (Fritz), Alexandra Yangel (Lucienne) © Sandra Then
Deutsche Oper am Rhein / DIE TOTE STADT hier vorne: Corby Welch (Paul), Nadja Stefanoff (Marietta), dahinter: Statisterie der Deutschen Oper am Rhein), Anna-Sophia Theil (Juliette), Florian Simson (Graf Albert), Emmett O’Hanlon (Fritz), Alexandra Yangel (Lucienne) © Sandra Then

Das Bühnenbild zeigt den Zustand der Witwerseele

Die australische Bühnen- und Kostümbildnerin Marg Horwell spiegelt den Zustand der Witwerseele mit einer „Messie-Wohnung“ wider, eine Folge seines Traumas, seiner fehlgelaufenen Trauerarbeit. In Pauls öder Puppen-Trödelkammer, in der sich Damasttapeten mit Plastikfolien abwechseln, das Mobiliar lieblos zusammengestellt ist, Puppentorsos herumliegen, ist das Leid förmlich greifbar. Schwülstig dagegen eingerichtet ist die „Kirche des Gewesenen“ mit einem Kronleuchter, einem großen Spiegel, einem die Wirklichkeit idealisierenden Fin-de-Siècle-Vorhang. In der Mitte steht Pauls verstorbene Frau Marie als Puppe mit einem blassblauen Chiffonkleid, umgeben von einem Blumenmeer. Paul zwingt die Tänzerin Marietta, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit der angebeteten Marie hat, das Kleid anzuziehen, um die Illusion der Wiederkehr perfekt zu machen. Ein beklemmend schwarzer Hintergrund im zweiten Akt mit einem goldenen großen Tor bildet den Rahmen für das improvisierte Spiel der Theatertruppe, deren sinnenfreudige Kostüme sich glanzvoll mondän von der Düsternis abheben und das Geschehen in den Mittelpunkt stellen. Tänzer, Beginen und Kinder vervollständigen die Szene. Besonders gelungen ist Horwell, Marie wie einen bleichen tragischen Stummfilmvampir auftreten zu lassen, mit kohlrabenschwarzen Augen, ohne Mimik.

Deutsche Oper am Rhein / DIE TOTE STADT hier Corby Welch (Paul), Emmett O’Hanlon (Frank) © Sandra Then
Deutsche Oper am Rhein / DIE TOTE STADT hier Corby Welch (Paul), Emmett O’Hanlon (Frank) © Sandra Then

Vokalakrobat Corby Welch triumphiert

Es gibt nur ganz wenige Sänger, die die mörderische Partie des Paul bewältigen können. Sie gilt als die vielleicht schwierigste und anstrengendste Tenorrolle überhaupt. Corby Welch triumphiert mit ungewöhnlich großem Stimmumfang. Erstaunlich, wieviel er auf einen Atem nehmen kann. Mit seiner warmen, biegsamen Stimme, einer ungebrochenen Intensität, dramatisch aufblühendem Ton von anrührender Seelentiefe und Klangschönheit, mit seiner technischen Brillanz ist er der Star des Abends. Er verfügt über scheinbar unerschöpfliche Reserven. Seine Rollenidentifikation und seine stimmliche Leistung lassen Erschauern.

Die Interpreten gewinnen die Gunst des Publikums

Die attraktive Nadja Stefanoff spielt Marietta eindrucksvoll und verführerisch, eine beeindruckende Frau, lebendig, intensiv, mit Persönlichkeit und Esprit. Stimmlich erreicht sie erst im zweiten Akt ihre exquisite Souveränität, findet zu klaren Linien, leuchtet die Figur in all ihren Facetten aus. Ihre Stimme klingt nun wunderbar natürlich, findet zu Glanz und Leichtigkeit. Ihre Höhen bezaubern mit Sinnlichkeit und Schmelz.

Im Libretto ist Marietta auch die Erscheinung Maries, die Paul immer wieder in Schuldgefühle stürzt. In dieser Produktion ist die tote Marie eine eigenständige Rolle. Mara Guseynova „geistert“ dämonisch zerrissen wie ein Gespenst über die Bühne. Mit unverwechselbarem Timbre und feinem Gefühl für Nuancen erfühlt sie den todessehnsüchtigen Sog der Musik. Emmett O'Hanlon ist Frank, Pauls eleganter Freund und Nebenbuhler. Völlig unangestrengt, leicht und sauber mit jugendlich-klangschönem Gigolo-Bariton gewinnt er mit der Arie "Mein Sehnen, mein Wähnen". Die Rolle der Brigitta ist aufgewertet. Sie ist nicht nur Haushälterin, sondern auch ein hübsches junges Mädchen, das Paul zugetan ist. Als sie nicht von ihm erhört wird, geht sie enttäuscht ins Kloster. Anna Harvey besitzt eine anregende Tiefe, einen spritzigen, charmanten, in der Höhe größeren Mezzosopran. In den kleineren Partien überzeugen Alexandra Yangel (Lucienne), Stefan Cifolelli (Victorin), Anna Sophie Theil (Juliette) und Florian Simson (Graf Albert). Chidozie Nzerem, lange Zeit Mitglied in Martin Schläpfers Ballettcompagnie, übernimmt die pantomimischen Rolle des Gaston. Alle Ensemblemitglieder überzeugen. Dem Chor der Deutschen Oper am Rhein unter Leitung von Gerhard Michalski und der Düsseldorfer Mädchen- und Jungenchor (vom Band in High-End-Quality zu hören) gebührt ein Sonderlob.

Generalmusikdirektor Axel Kober leitet das große Orchester der Düsseldorfer Symphoniker - mit einer ungewöhnlichen Orchestrierung, wie Totenglocken, Mandoline, Celesta, Harmonium, Orgel und Windmaschinen - nach sehr kurzer Probenzeit. Das ist zu hören. Es wird manchmal zu kraftvoll musiziert, was dem konditionsstarken Sängerensemble alles abverlangt. Erst im Laufe des Abends findet Kober zu seinem vielbewunderten klangrednerisch geschärften Stil, zu soghaft wirkendem Musizieren voller Intensität und Empfindung, durchsetzt von grellen dramatischen Akzenten. Alles wird leidenschaftlich durchlebt und plastisch herausgearbeitet. Die Düsseldorfer Symphoniker präsentieren sich in geschliffener energiegeladener Form. Alles Pralle, Sinnliche, Pulsierende, Prickelnde, bunt Lebendige wird herausgearbeitet.

Das Premierenpublikum ist hochzufrieden - es spendet dem Ensemble besonders Corby Welch, wie dem Orchester   tosenden, lang anhaltenden Applaus.