Monte-Carlo, Musée Océanographique, FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023, IOCO Kritik, 17.03.2023

Monte-Carlo, Musée Océanographique, FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023, IOCO Kritik, 17.03.2023
Musée Océanographique de Monaco © Wikimedia Commons
Musée Océanographique de Monaco © Wikimedia Commons

FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023

- Klavierabend - Musée océanographique  -  Salle Tortue - 9. März 2023 -

von Peter Michael PetersFranz Schubert  - SONATE in  A-Moll, D. 537 (1817)

MUSIKALISCHE MOMENTE, D. 780 (1823/1828 /Auzüge)

FANTASIE IN C-Dur „WANDERER-FANTASIE“, D. 760 (1822)

SONATE IN B-Dur, D. 960 (1828)

Michel Dalberto, Klavier

Die Wanderjahre sind  nun angetreten, Und jeder Schritt des Wanderer ist bedenklich.(Johann W. von Goethe / 1749-1832)

WAHRHEIT UND SCHMERZ…

Franz Schubert Wien © IOCO
Franz Schubert Wien © IOCO

Wie viele von uns, wie viele glauben an eine Wahrheit, die immer ähnlich ist, immer identisch und Tag für Tag stärker als am Vortag, die selbst stirbt, sich selbst belebt aus ihrer eigenen Substanz? Sehr wenig, leider oder Gott sei Dank: Niemand kann das Beste vom Schlechtesten unterscheiden! Ohne Bewusstsein navigiert man so gut es geht in einer Welt aus Gestrüpp, nur zu glücklich eine gastfreundliche Lichtung zu finden, einen Sonnenstrahl zu spüren, der die Dornenbüsche zersticht. Wir rücken nach belieben vor, nach Osten oder Westen, wir ziehen uns zurück, wir suchen, wir setzen uns zum Weinen hin und wir machen uns wieder auf den Weg. Dass ein wahrer Freund ein „süßes Ding“ ist, der uns an die Hand nimmt. Franz Schubert (1797-1828) und seine Freunde: Eine ziemliche moralische Verbindung! Gemeinsam gehen sie einen langen Weg! Er geht mit Johann Michael Vogl (1768-1840) auf Konzert-Tour! Er schreibt für ihn! Das ist alles! Im Herbst 1819 spielte Schubert oft mit Amseln Hüttenbrenner (1794-1868) die Ouvertüre Egmont, in f-Moll, Op.84 (1810) von Ludwig von Beethoven (1770-1827). Nur als ein Spiel schließt  sich Schubert in Hüttenbrenners Zimmer ein und komponiert eine weitere Ouvertüre in f-Moll, D. 675 (1819). Neben der Partitur schreibt er diesen Satz: „Geschrieben in drei Stunden! Hatte kein Mittagsessen!“ Schubert schrieb wie Sei Shônagon (etwa 966-1025) im hinteren Teil des Kaiser-Palast von Kyoto im Jahre Mille: Schnell genug, kurz genug, damit die Schöpfung auch die winzigen Umwege, die unmerklichen Variationen eines inneren Zustands erfassen konnte. Wir wissen nicht, ob Marcel Proust (1871-1922) an dem Tag, an dem er eine Seite seines Roman À la recherche du temps perdu (1913) schrieb, glücklich, müde oder verärgert war. Während wir den Zustand von Schubert während der halben Stunde, die es dauerte um die Trockne Blumen für Flöte und Klavier, D. 802 (1824) zu komponieren mit großer Genauigkeit kennen. Die Schöpfung bezeugt ohne jemals zu versuchen, die Realität zu verändern oder eine neue aufzubauen. Genau genommen mildert es seine Grausamkeit! Aber ihre therapeutische Kraft ist ziemlich begrenzt und in dem Ausmaß, um die Wahrheit zu sagen der investierten Zeit – die bei Schubert immer durch wer weiß welche Dringlichkeit reduziert wird. Auf jeden Fall nicht die Zeit, die Proust gegen Ende seines Lebens verbrauchte: Um in den leeren Raum sein erstaunliches Roman-Denkmal zu setzen!

Michel Dalberto - Seine Sicht zu Schubert youtube  FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

So scheint die Wahrheit bei ihm kein „Ende“ zu haben, in den zwei Bedeutungen, die die französische Sprache diesem Wort großzügig zuschreibt: Ziel und Begriff! Sie arbeitet nicht am Bau irgendeines Gebäudes und begnügt sich damit, unter einem immer neuen Blick gesehen zu werden. In der Zeit kann es nicht vollständig angegeben werden, da es weder Prämissen noch Schlussfolgerungen hat. Die Wahrheit für Schubert ignoriert die Demonstration, sie weiß nicht wie man „deshalb“ sagt. Paul Valéry (1871-1945) wird ein Jahrhundert später schreiben: „Manchmal denke ich, manchmal bin ich!“

Einige werden in diesem Verzicht eine Veranschaulichung dessen sehen, was man Feigheit nennt. Es scheint dass es Existenzgründe sind und auch eine Wahrheit zu verteidigen gilt. So schützt sie vor jeder Abweichung  gegenüber dem Kontingent eine Welt, die für sie zu erobern ist und auch ihren Feind  (Rivale) somit besiegen wird.

Andere werden darin nur die reine und einfache Aussage des menschlichen Zustands sehen, der Unmöglichkeit in der wir uns befinden, um die Ordnung der Dinge zu ändern, zu wählen, wie unser Leben sein soll. Da das Leben sich dafür entscheidet: Uns zu dem zu machen, was wir sind!

Bei Beethoven, spiritueller Vater von Schubert, ist die Wahrheit nicht selbstverständlich. Der Weg, den er benutzt um sie zu erobern, besteht aus vielen Rückschlägen und gefährlichen Kurven: Aber schließlich rückt immer weiter zum Erfolg vor. Die Temperatur eines Rekonvaleszenten erreicht den 37. Grad nicht immer durch eine Neueinstellung: Sie kommt dort oft durch aufeinanderfolgende Rückschläge an, gewissermaßen wie eine Sägezahnkurve folgend!

Erleben wir die letzten beiden Werke, die er für das Klavier hinterlassen hat: Die Sonate für Klavier Nr. 32 in C-Moll, Op. 111 (1820/22) und die 33 Variationen nach einem Walzer von Anton Diabelli (1781-1858) in C-Dur, Op. 120 (1819:1823)  die sich mit aller Gewalt gegenüberstehen: Die Sonate ist eine geschlossene und dichte Welt, die Variationen ein totaler Zusammenbruch der Struktur. Auch die letzten Quartette zeugen von diesem primitiven Kampf: Dem Preis der Wahrheit…!

Es ist offensichtlich, dass Beethoven sich dessen voll bewusst ist. Diese brutalen Schläge gibt er ihnen bewusst! Als Metaphysiker weiß er, wie man eine höhere Ordnung anstrebt! Und immer dominiert er, immer kontrolliert er die Richtungswechsel! Er kämpft mit Gegenwind und Wenden!

FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023 / Michel Dalberto, Klavier hier Saal Tortue in Monte-Carlo © Alice Blangero
FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023 / Michel Dalberto, Klavier hier Salle Tortue in Monte-Carlo © Alice Blangero

Der ewige willenlose Wanderer…

Er ist nicht der Puritaner des Widerspruchs im griechischen Sinne wie Beethoven! Er ist kein Dialektiker! Jede Vorstellung von Anabasis aufgebend, ohne Heimat lässt sich der Wanderer willenlos von den Winden treiben und stimmt zu, nicht auf sein Ziel zuzugehen. Sondern dorthin zu gehen, wo er nicht hinwollte! Das Aufgeben eines Ziels stört ihn nicht! Auch nicht auf das erste zurückzukommen! Wenn Schubert Philosoph wäre, würde es wie bei Denis Diderot (1713-1784)  heißen: „Meine Gedanken sind meine Huren!“

Beethoven organisierte seine Revolte und strebte vor allem danach, den Schmerz mit einem eigenen Siegel zu versehen, das die Zeit überdauern würde. In Die fröhliche Wissenschaft (1882) schreibt Friedrich Nietzsche (1844-1900): „Er (der Wille zur Ewigkeit) kann auch der tyrannische Wille eines schwer leidenden, kämpfenden, gequälten Wesens sein, das der Eigenart seines Leidens den verbindlichen Charakter eines einheitlichen Gesetzes geben will. An das Persönlichste, Engste, das sich gewissermaßen an allen Dingen schon dadurch rächt, dass es ihnen seine Bilder einprägt, dass es sie mit seinem Bild, dem Bild dessen mit glühendem Eisen seine Folter blutig einritzt.“

Der Schmerz von Schubert ist nicht mit seinem Siegel gekennzeichnet: Es und er verschmelzen, gehen durch die Zeit und erreichen uns, ohne dass das Zweite den Ersten als „Seinen Schmerz“ identifizieren wird und in seinem Bild erschlagen muss. Der Schmerz von Schubert hat in der kommenden Metaphysik nicht als Modell gedient. Niemand träumte jemals davon, ihm wissenschaftliche Glossen zu widmen: Er ist zu klein, er ist zu groß! Er ist zu dünn, er ist zu absolut! Er ist kein Model, er ist ein menschlicher Schmerz!

Es ist wahr, dass die großen erlebten Leidensmomente von Schubert, die uns in seinen überlieferten Werken bezeugen und im Zentrum einiger Stücke stehen, von denen einige sehr berühmt geworden sind (Quintett in C, Sonaten in A, in B-Dur, Trios). Die auch in mehr als einer Hinsicht als das getreueste Bild davon gelten, was Menschen grauenhaftes erleben können. Aber es ist auch wahr, dass der Schmerz von Schubert genauso gut außerhalb seiner Werke angesiedelt ist. Wenn es in diesen wenigen Stücken, die ihn als „leidenden Menschen“ dargestellt und unaussprechlich sind, weil sie mit dem Menschen, mit uns wesensgleich sind und wir folglich nicht davon sprechen können: Ist es ebenso sehr im Schweigen wie im Sprechen!

Wie Nietzsche sagt, war Schubert einer von denen, „…die an zu wenig Leben leiden und die von Kunst und Philosophie Ruhe, Stille, das glatte Meer oder aber Trunkenheit, Krämpfe, Betäubung verlangen.“ Wer leugnet, hofft mehr als er „verlangt“… Und was Stille bringt, ist sicherer als die Kunst: Ist totale Stille!

„Ma fin est mon commencement“ opus 2

Bruno Mantovani, der französische Komponist und künstlerischer Leiter des FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO, setzt das im Jahre 2022 begonnene Thema „Mein Ende ist mein Anfang“ nach einem Rondo von Guillaume de Machaut (um 1300-1377) mit einem Opus 2 fort. Um gewissermaßen eine Konfrontation zwischen dem ersten und dem letzten Werk eines jeweiligen Komponisten und Schöpfer zu definieren. Das Festival, das vom 8. März bis 2. April 2023 stattfindet, bietet ein abwechslungsreiches Programm unter anderem mit amerikanischer Musik: Aaron Copland (1900-1990), Elliott Carter ( 1908-2012), Steve Reich (*1936) und Betsy Jolas (*1926). Gleichzeitig öffnet es sich auch für andere künstlerische Ausdrucksformen wie Kino, Literatur und Malerei. Eine Ausstellung ist dem amerikanischen Maler Robert Guinan (1934-2016) gewidmet, der besonders für seine Porträts der turbulenten New Yorker Jazz-Szene, den verrauchten Bars, den Schwarzen und Ausgeschlossenen bekannt ist.

Klavierabend im Musée océanographique  -  Salle Tortue am 9. März 2023

Der Weg zur Erfüllung…

Sein ganzes Leben lang bestand Schubert darauf, die großartige Form zu erobern. Seine letzten drei Sonaten, komponierte er etwa im September 1828, zwei Monate vor seinem Tod, verkörpern den Höhepunkt dieser großen Suche. Etwa einer Promenade ähnlich, einer bunten Landschaft aus harmonischem Schillern und immer wieder neuen Kombinationen von Klangfarben, lösen sie sich von der konflikterzeugenden thematischen Entwicklung ab. In ihrer Art eine musikalische Zeit zum Leben zu erwecken, lösen sie sich total vom Modell Beethoven. Die Jahre der Arbeit, die ihnen vorausging, unterbrochen von unvollendeten Partituren zeigen die Schwierigkeit eine andere Art von Material zu erfinden. Eines, das dennoch langfristige Werke nähren konnte! Wieder einmal hilft die stimmliche Inspiration aus dem langweiligen Trott heraus! In der Sonate in B-Dur, D 960 (1828), ohne die demonstrative Virtuosität, die die Romantik manchmal missbraucht, ist die Bedeutung des Cantabile von den ersten Takten an zu hören.

Manchmal schlüpfen Schatten in diese Musik, die in die Intimität ihres Schöpfers eintaucht. Man denke vor allem an den Triller, der im anfänglichen Molto moderato den Gesang unerwartet unterbricht: Ein seltsames und bedrohliches Summen, dessen Varianten dann zum roten Faden des Satzes werden. Wir werden besonders an das Andante sostenuto denken, ein schmerzhaftes und hypnotisches vertrauen, das durch den salbungsvollen Erguss der zentralen Episode auf Distanzgehalten wird, bevor die Rückkehr zur trostlosen Introversion die Verwahrlosung auf den Höhepunkt bringt.

Aber der Rausch des Tanzes, die Sublimierung des Wiener Geistes, beschwört diese dunklen Stimmungen im dritten Satz herauf. Der Schwung des quecksilbrigen Scherzo setzt sich im Finale fort, von dem einige Episoden zu einem Tarantella-Rhythmus tänzeln.

Eine fast hasserfüllte Interpretation…

 Michel Dalberto, Klavier hier Saal Tortue in Monte-Carlo © Alice Blangero
Michel Dalberto, Klavier hier Saal Tortue in Monte-Carlo © Alice Blangero

Der international bekannte französische Pianist Michel Dalberto, ein Schubert-Kenner, wie er selber sagt, hat uns mehr als enttäuscht. In seinem fast zweistündigen Marathon spielte er uns einen schreienden, gewalttätigen und brutalen Schubert ohne wenig Nuancen und Farbreichtum. Sollte dass das reife Spätwerk eines großen Schöpfer versinnbildlichen? Indem der Pianist die meiste Zeit des Abends mit einer fast rasenden Wut auf das Klavier schlug und sogar sein eigenes Angesicht spiegelte manchmal Hass, Qual oder fast reinen Wahnsinn wieder! Man fragte sich: Ist es der arme Konzert-Flügel von C. Bechstein oder der zu früh verstorbene Komponist, der hier gemartert wurde? Außer wenigen stillen besonnenen Minuten tappte es brutal den ganzen Abend! Man kann fast sagen, dass wir körperlich und auch physisch äußerst verletzt waren, denn es war wie unangenehme Holzhammerschläge, die ununterbrochen auf  Geist und Seele schlugen. Ist das noch Musik? In der Pause musste der Klavierstimmer das leidende Instrument wieder in Form bringen. Das sagt wohl vieles aus!

Natürlich sollte Schubert nicht seicht und langweilig als Salonmusiker gespielt werden, denn das Bild eines netten lieben und leidenden Musiker wurde uns lange fälschlicher Weise vorgegaukelt. In Schuberts Werken sind auch Momente von großer Aggressivität und Brutalität, besonders bemerkt man  diese in seinen letzten Kreationen. Ist es die Verzweiflung über sein erahntes kurzes Leben, die ihn zu einer ausbrechenden und unerbittlichen Musik führt? Wir wissen es nicht!

Als Zugabe gab der Pianist, wie er selbst sagte, seine eigene Transkription der Kindertotenlieder (1904) und zwar die Nummer 1. Nun will die Sonn‘ so hell aufgehn von Gustav Mahler (1860-1911). Aber war es eine Transkription? Es war die Komposition von Mahler für Piano ohne Stimme!   Vielleicht wurden vom Pianisten einige Noten für die Stimme ergänzt, aber reicht es für eine wirkliche Transkription im Sinne von Franz Liszt  (1811-1886) aus?

Aber warum zeigte sich unser Pianist so brutal und verbittert ohne jegliche Verinnerlichung? Als sensibler Hörer fragen wir uns, ist es vielleicht die Stadt Monte-Carlo, die ihre Besucher zu unerwarteten Taten und ungeahnten Regungen ansteckt? Dieses hässliche Babylon auf kleinstem Raum, dieser unzählige Male kreuz-und-quer durchbohrte Felsen mit seinen vielen Tunneln und Fahrstühlen. Mit seinen sehr geschmacklosen naturverdeckenden Hochhäusern, seinen rasenden teuren Sportautos mit unmusikalischem Motor-Aufschrei: Schreeeh…! Diese größenwahnsinnige vom Groß-Kapitalismus erbaute Felsen-Stadt, die schon ihren gesamten Meeresstrand aufgefressen hat und jetzt dabei ist: Das Meer zu verschlingen! Vorsicht Babylon!

Diese erstickende Atmosphäre hat uns selbst in eine fast tiefe seelische Depression gestoßen! Warum nicht einen Künstler? Einen Musiker? Einen Pianisten?    (PMP/15.03.2023)

IOCO wird aus Monte-Carlo erneut berichten: Konzert am 10.3.2023 - Surrealistisches Kino aus Europa und Amerika - mit dem Quartett Énéide - Konzert am 10.3.2023